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BFH-Urteil vom 5.9.1989 (VII R 61/87) BStBl. 1989 II S. 979

1. Der Tatbestand des Urteils des Finanzgerichts muß ein klares und vollständiges Bild des Streitstoffes enthalten. Fehlt es daran, so hat das Revisionsgericht diesen Mangel ohne ausdrückliche Rüge zu berücksichtigen.

2. Die Höhe des Haftungsanspruchs steht grundsätzlich nicht zur Disposition der Finanzbehörde. Auch wenn der Haftungsanspruch außergewöhnlich hoch ist, braucht die Finanzbehörde im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung im Regelfall keine Erwägungen darüber anzustellen, ob diese Höhe dem Grad des Verschuldens entspricht.

FGO § 105 Abs. 2 Nr. 4, Abs. 3; AO 1977 §§ 69, 191.

Vorinstanz: FG Düsseldorf

Entscheidungsgründe

Die Revision des HZA ist, soweit ihr Angriff geht, begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

1. Die Vorentscheidung entspricht nicht den Mindestanforderungen, die an den Inhalt eines Urteils gestellt werden müssen. Es fehlt an der hinreichenden Darstellung des Tatbestandes (§ 105 Abs. 2 Nr. 4 und Abs. 3 FGO). Diesen Mangel hat das Revisionsgericht ohne ausdrückliche Rüge von Amts wegen zu berücksichtigen (BFH-Urteil vom 21. Januar 1981 I R 153/77, BFHE 133, 33, 35, BStBl II 1981, 517, 518; vgl. auch Senatsurteile vom 17. März 1988 VII R 69/85, BFH/NV 1988, 717, 718, und vom 25. Oktober 1988 VII R 17/85, BFH/NV 1989, 464, 465).

Die Vorentscheidung enthält in ihrem mit "Tatbestand" überschriebenen Abschnitt außer der Feststellung, daß der Kläger Geschäftsführer der GmbH war, sowie daß die GmbH zur X-Gruppe gehörte und in A ein Steuerlager betrieb, nur Prozeßgeschichte. Einige verstreute Ausführungen des FG im Abschnitt "Entscheidungsgründe" sind als Feststellungen zu werten. Andere Ausführungen in diesem Abschnitt - wie Wiedergaben des Inhalts eines Betriebsprüfungsberichts oder von Äußerungen der Beteiligten - lassen nicht erkennen, ob das FG Feststellungen entsprechend dem Inhalt dieser Äußerungen treffen wollte. Manche Hinweise setzen zum Verständnis Kenntnisse voraus, die die Ausführungen der Vorentscheidung nicht vermitteln. Die Vorentscheidung erfüllt daher nicht die Voraussetzungen, die § 105 Abs. 2 Nr. 4 und Abs. 3 FGO an den Tatbestand eines Urteils stellt.

Der Tatbestand eines Urteils muß in sich verständlich sein. Die Darstellung muß ein knapp gehaltenes, klares, vollständiges und in sich abgeschlossenes Bild des Streitstoffes in logischer Folge und unter Hervorhebung der Anträge der Beteiligten enthalten. Gibt der Tatbestand eines angefochtenen Urteils einschließlich der in Bezug genommenen Schriftstücke den zum Verständnis seines Inhalts erforderlichen Sach- und Streitstand nicht hinreichend wieder, so bildet die Entscheidung keine Grundlage für deren sachliche Nachprüfung durch das Revisionsgericht (BFHE 133, 33, 34 ff., BStBl II 1981, 517, 518). Im vorliegenden Fall mußte sich dem FG die Notwendigkeit, den Streitstoff in der angegebenen Weise darzustellen, besonders aufdrängen. Denn die sachliche Überprüfung der Auffassung des FG, der Kläger habe seine Pflichten nach § 34 Abs. 1 AO 1977 nicht schuldhaft verletzt oder es fehlte zumindest an einem adäquaten Kausalzusammenhang zwischen der Pflichtverletzung und der Steuerverkürzung, ist - wie die Revisionsbegründung und -erwiderung zeigen - dem Senat nur möglich anhand einer ausreichenden Schilderung des Sachverhalts. Daran hat es das FG fehlen lassen.

2. Dennoch bedürfte es keiner Zurückverweisung der Sache an das FG, wenn sich aus besonderen, vom Revisionsgericht zu beachtenden Gründen ergäbe, daß die Klage Erfolg haben muß und daher die Vorentscheidung im Ergebnis richtig ist. Solche besonderen Gründe lägen vor, wenn die Feststellungen der Vorentscheidung ausreichten für die Entscheidung, daß die angefochtenen Bescheide Ermessensfehler aufwiesen, die ihre Aufhebung rechtfertigten. Das ist jedoch nicht der Fall.

Einer weiteren Begründung hätte die Ermessensentscheidung dann bedurft, wenn davon auszugehen wäre, daß wegen der Höhe der Haftungssumme (lt. Einspruchsentscheidung rd. 7 Mio DM) die entsprechende Inanspruchnahme nur unter besonderen Umständen unter Anstellung entsprechender Erwägungen gerechtfertigt gewesen wäre. Das ist jedoch nicht der Fall.

Wie der V. Senat des BFH entschieden hat, ist die Höhe des Haftungsanspruchs grundsätzlich nicht in das Ermessen der Finanzbehörde gestellt (Urteil vom 7. Juli 1983 V R 197/81, BFHE 139, 310, 312, BStBl II 1984, 70). Der Senat folgt für den Regelfall dieser Auffassung. Andernfalls würde den Finanzbehörden bei der Inanspruchnahme eines Haftenden die Pflicht auferlegt, im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung besondere - unter Umständen weitreichende - Ermittlungen anzustellen darüber, wie es um die etwaige Zahlungsfähigkeit des Inanspruchgenommenen steht und ob dessen Verschulden im richtigen Verhältnis zur Haftungssumme steht. Von einer solchen Pflicht könnte nur ausgegangen werden, falls man den Haftungstatbestand des § 69 AO 1977 als eine Art von Sanktion für ein bestimmtes Fehlverhalten qualifiziert, bei der - ähnlich einer Strafe - die Höhe der Haftungssumme im angemessenen Verhältnis zum Maß des Verschuldens stehen muß. Diese Auffassung entspricht schon deswegen nicht dem Sinn des § 69 AO 1977, weil dieser - wie der Senat mehrfach entschieden hat - Schadensersatzcharakter hat (vgl. z.B. Urteil vom 26. Juli 1988 VII R 83/87, BFHE 153, 512, 514, BStBl II 1988, 859). Zu den Eigenheiten einer Schadensersatznorm gehört es aber, daß das "Ob" der Inanspruchnahme nur davon abhängig ist, ob die Tatbestandsmerkmale der Haftungsnorm (hier: schuldhafte Pflichtverletzung) erfüllt sind, während sich die Höhe der Haftung unabhängig vom Maß des Verschuldens daraus ergibt, inwieweit die Pflichtverletzung ursächlich für den Schaden (hier: die Steuerverkürzung) geworden ist (vgl. zur Frage der Kausalität auch das Urteil in BFH/NV 1989, 409, 410). Der erkennende Senat hat daher bisher in entsprechenden Fällen - allerdings ohne besondere Begründung - bei der Inanspruchnahme eines Geschäftsführers als Haftender für Mineralölsteuer in Millionenhöhe, die durch Auslagerung aus einem Mineralölsteuerlager entstanden ist, aus der Höhe der Haftungssumme allein nicht auf Ermessensfehler des HZA geschlossen (Senatsurteile vom 20. Oktober 1987 VII R 6/84, BFH/NV 1988, 428 - Haftungssumme 2,6 Mio DM -, und vom 2. Februar 1988 VII R 90/86, BFH/NV 1988, 487 - Haftungssumme 2,3 Mio DM -).

Das Senatsurteil vom 8. November 1988 VII R 78/85 (BFHE 155, 17, BStBl II 1989, 118) steht dieser Auffassung nicht entgegen. Der Senat hat den dort entschiedenen Fall ausdrücklich als besonders gelagerten Ausnahmefall bezeichnet. Die Besonderheit dieses Falles sah der Senat - ausgehend vom grundsätzlichen Schadensersatzcharakter der Haftungsnorm (dort § 71 AO 1977) - darin, daß dem Steuergläubiger trotz des Eintritts einer Steuerverkürzung ("aus formalen Gründen") nach "der steuerrechtlich bedeutsamen Lage" kein oder nur ein geringerer "Schaden" entstanden sei, weil das dort den Gegenstand einer Steuerhehlerei bildende Mineralöl letztlich der steuerbegünstigten Zweckbestimmung, dem Verheizen, zugeführt worden sei. Das ist ein mit dem vorliegenden nicht vergleichbarer Fall.