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BFH-Urteil vom 29.11.1988 (VIII R 226/83) BStBl. 1989 II S. 259

Greift das FA nach Zeichnung des Eingabewertbogens erneut in die Willensbildung des zu versendenden Steuerbescheids ein oder ist es hierzu verpflichtet, so können die bis zum Abschluß dieser Überprüfung der organisatorisch zuständigen Stelle offenbarten Tatsachen oder Beweismittel unter bestimmten Voraussetzungen nicht mehr Grundlage eines späteren Änderungsbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 sein. Findet hingegen eine solche materielle Überprüfung nicht statt und besteht hierfür auch keine Pflicht des zuständigen Amtsträgers, bestimmt sich die Frage, ob eine Tatsache oder ein Beweismittel nachträglich bekanntgeworden ist, weiterhin nach dem Zeitpunkt, zu dem der Eingabewertbogen des zu ändernden Bescheids abgezeichnet wurde.

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1; StrbEG §§ 1, 2.

Vorinstanz: FG Hamburg

Sachverhalt

I.

Die Klägerinnen und Revisionsklägerinnen (Klägerinnen) haben ihre im Jahr 1980 verstorbene Mutter (Erblasserin) beerbt. Diese hatte in den Einkommensteuererklärungen für die Jahre 1974 und 1975 ihre Einkünfte aus Kapitalvermögen zu niedrig angegeben. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) führte die Veranlagung für die Streitjahre durch. Dabei legte er die falschen Angaben zugrunde. Die Eingabewertbögen wurden am 28. Oktober 1976 vom zuständigen Veranlagungsbeamten abgezeichnet. Mit Schreiben vom 11. Januar 1977, das beim FA am 14. Januar einging, teilte die Erblasserin dem FA u. a. mit, daß sie die Einkünfte aus Kapitalvermögen für beide Streitjahre versehentlich zu niedrig angegeben habe. Das FA gab die auf den Eingabewertbögen vom 28. Oktober 1976 beruhenden Einkommensteuerbescheide am 20. April 1977 zur Post. Sie wurden bestandskräftig. Unter dem Datum vom 8. Juli 1977 (für 1974) und vom 18. August 1977 (für 1975) erließ das FA gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderte Einkommensteuerbescheide. Darin waren die nachgemeldeten Kapitaleinkünfte berücksichtigt. Die Einkommensteuer erhöhte sich entsprechend.

Einspruch und Klage gegen die geänderten Einkommensteuerbescheide blieben ohne Erfolg.

Im Tatbestand des finanzgerichtlichen Urteils sind Teile der Einspruchsbegründung des FA wiedergegeben, nach der die Eingabewertbögen nach ihrer Abzeichnung zur maschinellen Bearbeitung weitergeleitet und ohne weitere Kontrolle zur Poststelle gegeben worden seien. In seinen Entscheidungsgründen sieht das Finanzgericht (FG) für die Frage, ob Tatsachen i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nachträglich bekanntwerden, den Zeitpunkt als maßgebend an, zu dem der zuständige Bedienstete den Berechnungs- oder Eingabewertbogen abschließend unterzeichne, weil die Steuerfestsetzung mit der Schlußzeichnung dieser Verfügung für den Veranlagungsbereich des FA im allgemeinen abgeschlossen werde. Zum Verfahrensablauf im Streitfall sind dem Urteil nähere Ausführungen für die Zeit zwischen der Abzeichnung der Eingabewertbögen (28. Oktober 1976) und der Versendung der Erstbescheide (20. April 1977) nicht zu entnehmen.

Der erkennende Senat hat auf die von den Klägerinnen erhobene Beschwerde die Revision mit Beschluß vom 12. Juli 1983 VIII B 70/81 zugelassen.

Mit der Revision machen die Klägerinnen die Verletzung von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 und des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit sowie den Verstoß des FG gegen die Pflicht zur Sachaufklärung geltend.

Entgegen der Ansicht des FG komme es für die Frage des nachträglichen Bekanntwerdens einer Tatsache i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nicht auf die abschließende Zeichnung des Eingabewertbogens an. Das FA sei aufgrund seiner Amtsermittlungspflicht vielmehr verpflichtet gewesen, die am 14. Januar 1977 nacherklärten Einkünfte bereits im Rahmen der am 20. April 1977 abgesandten Einkommensteuerbescheide zu berücksichtigen. Das erstinstanzliche Urteil habe dies nicht beachtet und damit gegen den verfassungsrechtlichen Vorgang des Grundsatzes der Rechtssicherheit vor der materiellen Richtigkeit der Veranlagung verstoßen. Im übrigen hätte im Streitfall eine materielle Prüfung "umso mehr geschehen müssen", als vor Erlaß des Bescheids vom 20. April 1977, nämlich am 28. Februar 1977, vom Rechenzentrum eine Hinweismitteilung für die Veranlagung 1974 ergangen sei. Das FG habe dies unberücksichtigt gelassen und deshalb gegen seine Pflicht zur Sachaufklärung verstoßen.

Nach Aufforderung des Senats ist der Bundesminister der Finanzen (BMF) dem Verfahren beigetreten (§ 122 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). In seiner Stellungnahme vertritt er die Ansicht, daß die Änderungsbescheide zu Recht ergangen seien. Zur Begründung erläuterte der BMF sowohl die Arten der Bescheidversendung (zentrale Versendung durch eine Stelle außerhalb des FA; dezentrale Versendung durch eine Stelle innerhalb des FA) als auch die einzelnen Fälle der Überprüfung eines maschinell erstellten Steuerverwaltungsakts (technischer oder materieller Prüfhinweis; materielle Prüfung aufgrund Zufallsauswahl).

Ergehe, so der BMF, ein Prüfhinweis, bestehe sowohl bei zentraler als auch bei dezentraler Versendung die Möglichkeit, die Bescheidversendung zu unterbinden. Bleibe ein Prüfhinweis aus, so gefährde bei zentraler Versendung ein Eingriff in den technischen Ablauf der EDV-Anlage die Funktionsfähigkeit des Rechenzentrums. Die Bearbeitung der Daten müßte angehalten werden. Im Falle der dezentralen Versendung bestehe hingegen die Möglichkeit, die Absendung des Bescheids zu unterbinden. Hierfür sei jedoch erforderlich, daß dieser aus allen zur Versendung anstehenden Bescheiden herausgesucht werde. Dies aber hätte nicht nur einen erheblichen Arbeitsmehraufwand, sondern auch eine Verlängerung der Versendungsfristen zur Folge.

In ihrer Erwiderung haben die Klägerinnen bestritten, daß im Falle der zentralen Versendung die Funktionsfähigkeit des Rechenzentrums bei einer Aussonderung des Bescheids beeinträchtigt würde.

In der mündlichen Verhandlung wiederholten die Beteiligten im wesentlichen ihre zuvor schriftsätzlich vorgetragenen Rechtsauffassungen. Außerdem äußerten sie sich zu der Frage, ob der Rechtmäßigkeit der ergangenen Änderungsbescheide nicht auch die Regelungen in § 2 i. V. m. § 1 des Gesetzes über die strafbefreiende Erklärung von Einkünften aus Kapitalvermögen und von Kapitalvermögen - Strafbefreiungsgesetz (StrbEG) - (Art. 17 des Steuerreformgesetzes 1990 vom 25. Juli 1988, BGBl I, 1093, BStBl I, 224) entgegenstehen könnten.

Die Klägerinnen beantragen, das Urteil des FG sowie die geänderten Einkommensteuerbescheide 1974 und 1975 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung aufzuheben, hilfsweise, den Rechtsstreit unter Aufhebung der Vorentscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Klägerinnen ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Die Rechtmäßigkeit der aufgrund der Berichtigungserklärung vom 11. Januar 1977 ergangenen Änderungsbescheide bestimmt sich gemäß Art. 97 § 9 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) für die Streitjahre nach der am 1. Januar 1977 in Kraft getretenen AO 1977. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 sind Steuerbescheide zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer höheren Steuer führen.

2. Da jeder Verwaltungsakt notwendig die Willensbildung des zuständigen Amtsträgers voraussetzt, ist das FG zutreffend davon ausgegangen, daß es für die Frage, ob eine Tatsache i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nachträglich bekannt wird, nicht auf die Absendung des Steuerbescheids, sondern grundsätzlich auf die abschließende Zeichnung des Eingabewertbogens für die maschinelle Erstellung des Bescheids als Ausdruck der abschließenden Willensbildung ankommt. Diese, bereits zu § 222 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) vertretene Auffassung hat der II. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) in seiner Entscheidung vom 18. März 1987 II R 226/84 (BFHE 149, 141, BStBl II 1987, 416) für den Geltungsbereich der AO 1977 entgegen einzelner Stimmen in der Literatur aufrechterhalten.

Aus dieser Grundsatzentscheidung, der sich der erkennende Senat anschließt, folgt jedoch zugleich, daß dann, wenn das FA nach Zeichnung des Eingabewertbogens erneut in die Willensbildung des zu versendenden Steuerbescheids eingreift oder hierzu verpflichtet ist, die bis zum Abschluß dieser Überprüfung der organisatorisch zuständigen Stelle offenbarten Tatsachen oder Beweismittel unter bestimmten Voraussetzungen nicht mehr Grundlage eines späteren Änderungsbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 sein können. Findet hingegen eine solche Überprüfung nicht statt und besteht hierfür auch keine Pflicht des zuständigen Amtsträgers, bestimmt sich die Frage, ob eine Tatsache oder ein Beweismittel nachträglich bekanntgeworden ist, weiterhin nach dem Zeitpunkt, zu dem der Eingabewertbogen abgezeichnet wurde.

Die Anwendung dieser Grundsätze im Einzelfall erfordert somit eine Unterscheidung danach, ob der zuständige Bedienstete nach Zeichnung des Eingabewertbogens lediglich eine formelle oder ob und in welchem Umfang er eine materielle Überprüfung des zu versendenden Steuerbescheids vorgenommen hat oder vorzunehmen hatte.

a) Wird der wirksam gewordene Steuerverwaltungsakt vor seiner Absendung keiner weiteren oder nur einer Prüfung in formeller Hinsicht unterzogen, die die Feststellung der ermittelten Tatsachen sowie deren rechtliche Würdigung unberührt läßt (z. B. Prüfung der richtigen Adressierung, richtige Übernahme der Daten des Eingabewertbogens, Plausibilitätskontrollen), ist für das nachträgliche Bekanntwerden von Tatsachen oder Beweismitteln der Zeitpunkt der Zeichnung des Eingabewertbogens maßgebend. Die zwischenzeitlich erfolgte Nachmeldung bisher nicht erklärter Einkünfte ist in einem solchen Fall nicht geeignet, eine Pflicht des zuständigen Amtsträgers zu begründen, in die abgeschlossene Willensbildung des bekanntzugebenden Steuerbescheids in der Weise einzugreifen, daß dieser den begonnenen Prozeß der maschinellen Bescheiderstellung und die außerhalb des für die Steuerfestsetzung zuständigen Teilbezirks stattfindende Bescheidversendung unterbindet.

Die Klägerinnen können sich für ihre hiervon abweichende Auffassung weder auf die Ermittlungspflicht der Finanzbehörde (§ 88 AO 1977), die allgemeinen Grundsätze von Treu und Glauben noch auf das Rechtsstaatsprinzip berufen.

aa) Die Änderung eines Steuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 setzt in Übereinstimmung mit der bis 1976 geltenden Rechtslage (§ 222 Abs. 1 Nr. 1 AO) voraus, daß das nachträgliche Bekanntwerden einer Tatsache (oder eines Beweismittels) nicht auf einer Verletzung der dem FA obliegenden Ermittlungspflicht beruht (BFH-Urteil vom 13. November 1985 II R 208/82, BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241). Diese Rechtsfolge tritt jedoch nur dann ein, wenn der Steuerpflichtige seine zur Ermittlungspflicht des FA korrespondierende Erklärungs- und Mitwirkungspflicht (§§ 150 Abs. 2 Satz 1, 90 Abs. 1 AO 1977) erfüllt, also z. B. bei Abgabe einer Steuererklärung die steuerlich relevanten Sachverhalte richtig und vollständig unterbreitet hat (BFH-Urteile vom 11. November 1987 I R 108/85, BFHE 151, 333, BStBl II 1988, 115; in BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241, jeweils m. w. N.). Im Streitfall sind diese Voraussetzungen nicht gegeben. Die Erblasserin hat in den Steuererklärungen der Jahre 1974 und 1975 steuerpflichtige Kapitalerträge in Höhe von rd. 11.000 DM bzw. 12.000 DM nicht angegeben.

Auch der Umstand, daß die Erblasserin vor Erlaß der Steuerbescheide (Erstbescheide) eine Richtigstellung vornahm (§ 153 AO 1977), kann die Auffassung der Klägerinnen nicht stützen. Aus der Pflicht des FA, die der Richtigstellung zugrunde liegenden Tatsachen zu ermitteln, ist bereits in sachlicher Hinsicht kein Recht des Steuerpflichtigen ableitbar, daß der zuständige Amtsträger in den abgeschlossenen Prozeß der Willensbildung für den zu versehenden Steuerbescheid eingreift.

Nach § 88 AO 1977 (§ 204 Abs. 1 AO) hat die Finanzbehörde den für die Besteuerung maßgebenden Sachverhalt aufzuklären. Die zeitliche Grenze dieser Ermittlungspflicht ist der Vorschrift nicht unmittelbar zu entnehmen. Aus der Rechtsprechung des BFH (vgl. Urteil in BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241) ergibt sich jedoch, daß eine Pflicht zur Sachaufklärung - soweit sie im Rahmen von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 von Bedeutung ist - zunächst nur im Hinblick auf die Tatsachenlage zum Zeitpunkt der letztmaligen materiellen Prüfung des Steuerbescheids durch den zuständigen Beamten besteht. Werden nach diesem Zeitpunkt neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt, so hat das FA zwar auch diese Umstände nach § 88 AO 1977 (§ 204 Abs. 1 AO) aufzuklären. Hieraus, d. h. aus der Pflicht zur Ermittlung der nachträglich offenbarten Umstände, kann jedoch nicht die Pflicht abgeleitet werden, die maschinelle Erstellung und Versendung des Erstbescheids, dessen sachliche Prüfung bereits abgeschlossen wurde, zu unterbinden. Für einen solchen Fall enthält vielmehr § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 die gesetzliche Wertung, daß die nachträglich bekanntgewordenen Umstände in einem Änderungsbescheid zu berücksichtigen sind.

bb) Der Erlaß eines Änderungsbescheids bei Sachverhalten der vorbezeichneten Art verstößt ferner nicht gegen die allgemeinen Grundsätze von Treu und Glauben. Nach der Rechtsprechung des BFH ist die Nachforderung von Steuern dann nach dem Grundsatz von Treu und Glauben ausgeschlossen, wenn sie in Widerspruch zu einem vorausgegangenen nachhaltigen Verhalten oder einer ausdrücklichen Willensäußerung der Verwaltung steht und der Steuerpflichtige hierauf vertraut hat und vertrauen durfte (Urteil vom 19. November 1985 VIII R 25/85, BFHE 146, 32, BStBl II 1986, 520).

In der Bekanntgabe des Erstbescheids kann bereits ein nachhaltiges Verhalten in dem Sinne, daß auch die nachträglich erklärten Umstände Berücksichtigung gefunden haben, nicht gesehen werden. Zwar muß der Steuerpflichtige sich grundsätzlich nicht um organisatorische Regelungen und Vorkehrungen innerhalb einer Behörde kümmern (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 4 AO 1977 Tz. 59); andererseits ist ihm jedoch - wenn auch nur in Form einer allgemeinen Vorstellung - bekannt, daß er an einem mechanisierten Massenverfahren teilnimmt, dessen Vorteile aufgehoben würden, wenn der Sachbearbeiter in den maschinellen Rechenprozeß und in die zusammengefaßte Bescheidversendung bei allen Fällen des nachträglichen Bekanntwerdens von Tatsachen eingreifen müßte (vgl. BFH-Urteil vom 30. Juni 1971 I R 91/69, BFHE 103, 301, BStBl II 1972, 82).

Wie die Stellungnahme des BMF zeigt, wäre die Aussonderung der betreffenden Bescheide mit einem erheblichen Mehraufwand und erheblicher Zeitverzögerung verbunden. Zwar besteht, wenn ein technischer Prüfhinweis ergeht, die Möglichkeit, die Bescheidversendung zu unterbinden. Da dieser Hinweis jedoch vom Mitarbeiter erledigt wird, wäre es entweder notwendig, bereits aufgrund der eingegangenen Nacherklärung den Rechenprozeß anzuhalten oder dem Mitarbeiter eine ständig fortzuschreibende Liste der nicht zu versendenden Bescheide vorzulegen. Hinzu kommt, daß die Pflicht zum "Anhalten der Bescheide" sich nicht auf Fälle beschränken könnte, in denen ein technischer Prüfhinweis erteilt wird. Sie müßte sich auch auf solche Bescheide erstrecken, die ohne Prüfhinweis von der EDV-Anlage gefertigt werden. Denn, ob ein technischer Prüfhinweis ergeht, ist für den Steuerpflichtigen nicht erkennbar und kann deshalb für die Begründung eines Vertrauenstatbestandes nicht maßgebend sein. Eine Unterbindung der Versendung des Erstbescheids wäre aber, wenn ein Prüfhinweis nicht erteilt wurde, nach der Stellungnahme des BMF bei dezentraler Organisation mit einem erheblichen Personalmehraufwand verbunden, bei zentraler Versendung träten aufgrund einer solchen Maßnahme zumindest erhebliche Erschwernisse bei der Bearbeitung der in das Rechenzentrum eingegebenen Daten auf.

cc) Entgegen der Ansicht der Klägerinnen widerspricht die Rechtsauffassung des Senats nicht dem aus dem Rechtsstaatsprinzip entwickelten Grundsatz der Rechtssicherheit. Zur Rechtsstaatlichkeit gehört nicht nur die Rechtsbeständigkeit, sondern - als gleichwertiger Bestandteil - auch die materielle Richtigkeit oder Gerechtigkeit. Angesichts des Widerstreits, in den diese Grundsätze treten können, lassen sich aus dem Rechtsstaatsprinzip keine in allen Einzelheiten bestimmten Gebote oder Verbote entnehmen; es beinhaltet vielmehr einen Verfassungsgrundsatz, der je nach den sachlichen Gegebenheiten, d. h. den Umständen des Einzelfalles, der Konkretisierung bedarf (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 24. Juli 1957 1 BvL 23/52, BVerfGE 7, 89).

In Übereinstimmung mit der Auffassung des BFH zu § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO (Urteile vom 24. Januar 1963 IV 2/63, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1963, 153; vom 14. Januar 1969 II R 71/67, BFHE 95, 227, BStBl II 1969, 408) beruht die Befugnis der Finanzbehörden, Steuerbescheide gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 aufgrund nachträglich bekanntwerdender Tatsachen zum Nachteil des Steuerpflichtigen zu ändern, nach Ansicht des Senats auf einer verfassungsmäßigen Abwägung zwischen den Prinzipien der Rechtsbeständigkeit und der materiellen Gerechtigkeit. Dabei kommt der Interpretation dieser Vorschrift durch den BFH, nach der den Finanzbehörden bei Verletzung ihrer Aufklärungspflicht der Erlaß eines Änderungsbescheids verwehrt ist, wenn der Steuerpflichtige seiner Mitwirkungspflicht entsprochen hat (s. 2. a, aa), besondere Bedeutung zu. Kann jedoch eine solche Verletzung nicht festgestellt werden oder hat der Steuerpflichtige seine Mitwirkungspflicht verletzt, indem er unvollständige Angaben einreicht, trägt der Senat keine Bedenken, dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit gegenüber der Rechtsbeständigkeit der Verwaltungsentscheidung Vorrang einzuräumen (vgl. auch das Urteil des BFH vom 28. Oktober 1982 IV R 30/79, nicht veröffentlicht - NV -). Dies gilt umso mehr, als § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 - im Gegensatz zu seiner Vorgängerregelung - den Grundsatz der Gesamtaufrollung zugunsten einer nur punktuellen Änderung des Steuerbescheids aufgegeben hat.

b) Wie eingangs bereits dargelegt, folgt aus der Maßgeblichkeit des Abschlusses der Willensbildung für die Frage, ob Tatsachen oder Beweismittel i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nachträglich bekanntwerden, zunächst, daß dann, wenn der zuständige Bedienstete in die Willensbildung des Erstbescheids nach seiner abschließenden Zeichnung in vollem Umfang eingreift, die bis zum Abschluß dieses Überprüfungsverfahrens der organisatorisch zuständigen Stelle erkennbaren Umstände nicht mehr zum Erlaß eines Änderungsbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 berechtigen. Gleiches gilt, wenn der zuständige Amtsträger aufgrund einer allgemeinen Dienstanweisung oder aufgrund einer Hinweismitteilung der Datenverarbeitungsanlage zu einer materiellen Überprüfung der gesamten Steuerfestsetzung verpflichtet ist, diese jedoch nicht durchgeführt wird. Maßgebend ist in letzterem Fall der Zeitpunkt, zu dem der zuständige Amtsträger den Ausdruck des Steuerbescheids oder den Eingabewertbogen zur Versendung freigibt.

c) Hat der zuständige Bedienstete aufgrund einer Hinweismitteilung nur einzelne Besteuerungsgrundlagen materiell zu überprüfen (z. B. Einkünfte einer bestimmten Einkunftsart, Einnahmen oder Werbungskosten einer bestimmten Einkunftsart), so wird hierdurch die Maßgeblichkeit der zunächst abgeschlossenen Willensbildung nur punktuell, d. h. soweit eine Prüfung durchzuführen ist, durchbrochen. Dies hat zur Folge, daß der Erlaß eines Änderungsbescheids im Hinblick auf die von der Überprüfung nicht betroffenen Besteuerungsgrundlagen nach dem zum Zeitpunkt der ursprünglichen Zeichnung des Eingabewertbogens erkennbaren Tatsachen und Beweismittel zu beurteilen ist. Im Hinblick auf die zu überprüfenden Besteuerungsgrundlagen ist hingegen für eine spätere Änderung des Steuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 grundsätzlich der Zeitpunkt maßgebend, zu dem die Überprüfung abgeschlossen wurde oder, sofern diese unterbleibt, zu dem der Ausdruck des Steuerbescheids oder der Eingabewertbogen vom zuständigen Amtsträger freigegeben wird. Tatsachen und Beweismittel, die vom Steuerpflichtigen zwischenzeitlich offenbart wurden und sich aus den Steuerakten ergeben, sind allerdings dann als bekannt i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 anzusehen, wenn die Hinweismitteilung - ausnahmsweise - eine Beiziehung der Steuerakten erfordert.

Die damit verbundene Abweichung von den im Regelfall für die Frage des Bekanntseins von Tatsachen oder Beweismitteln geltenden Grundsätzen (vgl. BFH-Urteile vom 20. Juni 1985 IV R 114/82, BFHE 143, 520, BStBl II 1985, 492; vom 5. November 1970 V R 71/67, BFHE 101, 156, BStBl II 1971, 220) ist deshalb geboten, weil die punktuell-materielle Überprüfung durch eine Hinweismitteilung der Datenverarbeitungsanlage veranlaßt wird. Da ein solcher Prüfhinweis ohne sachlichen Bezug zu den vom Steuerpflichtigen nacherklärten Tatsachen erfolgt, wäre der effiziente Einsatz moderner Rechenanlagen für den Erlaß einer Vielzahl von Steuerverwaltungsakten gefährdet, wollte man dem zuständigen Amtsträger bei jedem Einzelfall, d. h. auch dann die Pflicht zur Beiziehung der Steuerakten auferlegen, wenn der punktuell-materielle Prüfhinweis bereits durch Einsichtnahme in die Steuererklärung erledigt werden könnte. Das Interesse des Steuerpflichtigen, daß die von ihm nacheinander eingereichten Erklärungen in einem Zuge abschließend geprüft werden und in die Willensbildung eines Steuerverwaltungsakts eingehen, muß bei der für solche Sachverhalte gebotenen wertenden Betrachtung zurücktreten.

3. Der Senat kann aufgrund der Tatsachenfeststellung des FG nicht entscheiden, ob - unter Beachtung der vorstehenden Rechtsgrundsätze - die Voraussetzungen für eine Änderung der Einkommensteuerbescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 erfüllt waren. Hierin liegt ein materieller Fehler der Urteilsfindung, der ohne Rüge zur Aufhebung der Vorentscheidung führt.

a) Nach den Feststellungen des FG wurden die Eingabewertbögen am 28. Oktober 1976 vom zuständigen Beamten abgezeichnet und die Steuerbescheide am 20. April 1977 zur Post gegeben. Die sich daran in den Entscheidungsgründen des finanzgerichtlichen Urteils anschließenden Ausführungen zur Maßgeblichkeit der abschließenden Zeichnung des Eingabewertbogens sind zwar in ihrem Ausgangspunkt nicht zu beanstanden, sie enthalten jedoch nur Darlegungen allgemein rechtlicher Art und bleiben ohne Bezug zu den tatbestandlichen Umständen des Streitfalls. Insbesondere läßt das Urteil nicht erkennen, ob und in welchem Umfang die zuständige Stelle des FA in der mehr als fünfmonatigen Zeitspanne zwischen der Zeichnung des Eingabewertbogens und der Absendung der Steuerbescheide eine neue materielle Überprüfung der Steuerbescheide vorgenommen hat oder vorzunehmen hatte.

Die im Urteil wiedergegebene Begründung der Einspruchsentscheidung des FA, nach der die Steuerbescheide aufgrund der Eingabewertbögen ohne weitere materielle Kontrolle im mechanisierten Verfahren erstellt und anschließend versandt worden seien, ist, ohne daß das FG sich diesen Vortrag zu eigen macht, nicht geeignet, die erforderlichen Feststellungen zu ersetzen (BFH-Urteile vom 5. März 1968 II R 36/67, BFHE 92, 416, BStBl II 1968, 610; vom 16. September 1970 I R 184/67, BFHE 100, 443, BStBl II 1971, 85).

b) Da somit der von der Vorinstanz festgestellte Sachverhalt keine Entscheidung darüber erlaubt, ob dem FA aufgrund der Nachmeldung der Kapitaleinkünfte Tatsachen im Sinne von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nachträglich bekannt geworden sind, besteht für den Senat weder Veranlassung, dazu Stellung zu nehmen, ob im Streitfall die Regelungen in § 2 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 i. V. m. § 1 des Strafbefreiungsgesetzes für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Änderungsbescheide von Bedeutung sein könnten, noch, ob die in der Literatur gegen die Bestimmungen dieses Gesetzes geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken durchgreifen. Denn nur dann, wenn das FG aufgrund der von ihm durchzuführenden Ermittlungen zu der Überzeugung gelangt, daß der nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 gebotenen Festsetzung höherer Steuern die Vorschriften des Strafbefreiungsgesetzes entgegenstehen, wären die von der Literatur gegen die Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes erhobenen Einwände sowie die dadurch möglicherweise bedingten Einwirkungen auf die Auslegung dieses Gesetzes (verfassungsmäßige Interpretation) für die Entscheidung des Streitfalles erheblich (vgl. zum Begriff der Entscheidungserheblichkeit im Sinne von Art. 100 des Grundgesetzes, Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Mai 1988 1 BvR 8/82, 9/82, Neue Juristische Wochenschrift 1988, 2293; vom 19. Dezember 1978 1 BvL 3/78, BVerfGE 50, 108).