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BFH-Urteil vom 29.11.1988 (VIII R 68/85) BStBl. 1989 II S. 263

Die Grundsätze des Senatsurteils vom 29. November 1988 VIII R 226/83 (BFHE 155, 259) über die Rechtmäßigkeit von Änderungsbescheiden nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 gelten auch dann, wenn der Sachbearbeiter vor Absendung eines Erstbescheids aufgrund nacherklärter Einkünfte den Eingabewertbogen für den Änderungsbescheid fertigt.

 AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1; StrbEG §§ 1, 2.

Vorinstanz: Hessisches FG

Sachverhalt

I.

Der für die Veranlagung der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) zuständige Sachbearbeiter zeichnete den Eingabewertbogen für die Veranlagung zur Einkommensteuer 1978 am 11. August 1980 ab. Dieser wurde über den EDV-Sachbearbeiter des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt - FA -) an die Hessische Zentrale für Datenverarbeitung weitergeleitet.

Am 1. September 1980 ging dem FA ein Schreiben vom 30. August 1980 zu, in dem die Klägerin zusätzliche, bisher nicht angegebene Einnahmen aus Kapitalvermögen in Höhe von 1.236 DM erklärte. Das FA gab den aufgrund des Eingabewertbogens vom 11. August 1980 erstellten Einkommensteuerbescheid 1978 am 6. Oktober 1980 zur Post; die nachträglich erklärten Einnahmen sind darin nicht erfaßt. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Vor Absendung des Bescheids hatte der für die Veranlagung zuständige Sachbearbeiter am 22. September 1980 einen weiteren Eingabewertbogen gefertigt, der die nachträglich erklärten Einnahmen berücksichtigte. Der daraufhin von der Hessischen Zentrale für Datenverarbeitung erstellte Änderungsbescheid wurde vom FA am 2. April 1981 abgesandt.

Nach erfolglosem Einspruch erhob die Klägerin Klage.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit der Begründung statt, daß es für die Frage, ob eine Tatsache i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) nachträglich bekannt wird, nicht auf die Unterzeichnung des Eingabewertbogens durch den zuständigen Sachbearbeiter, sondern auf die Absendung des Steuerbescheids ankomme. Die dadurch notwendige Kontrolle der Bescheide vor ihrem Abgang stelle die Funktionsfähigkeit des mechanisierten Verfahrens nicht in Frage, da nach der Dienstanweisung der zuständigen Oberfinanzdirektion (OFD) die Einkommensteuerbescheide vor Absendung an die Steuerpflichtigen von den Veranlagungsteilbezirken zu überprüfen und unrichtige Bescheide anzufordern gewesen seien. Wörtlich führte das FG hierzu weiter aus: "Diese Überprüfung erstreckte sich dabei nicht nur auf die Identität der zur Erfassung angewiesenen Daten und der erfaßten Daten. Vielmehr war der Bescheid bereits dann erneut zu überprüfen, wenn z.B. nach Ablieferung des Eingabewertbogens in diesem Fehler lediglich vermutet wurden (siehe Anlage 8, Ziff. I 5 und 5.1 der genannten OFD-Verfügung). Hierzu war die Beiziehung der Akten unumgänglich. Die Akten mußten notwendigerweise aber auch beigezogen werden, um die Durchschrift des jeweiligen als fehlerfrei erkannten Bescheides abzuheften. Im Falle der Klägerin hätte daher das bei den Akten befindliche Schreiben vom 30. August 1980 bei der Prüfung des Bescheides vom 6. Oktober 1980 berücksichtigt werden können."

Das FG hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Das FA rügt mit der Revision die Verletzung materiellen Rechts.

Nach Aufforderung des Senats ist der Bundesminister der Finanzen (BMF) dem Verfahren beigetreten (§ 122 Abs. 2 FGO). Seine Stellungnahme entspricht im wesentlichen derjenigen zum Revisionsverfahren VIII R 226/83 . Hierauf wird Bezug genommen.

Zur Vorgehensweise des Sachbearbeiters, der den Eingabewertbogen für den Änderungsbescheid am 22. September 1980, also vor Aufgabe des Erstbescheids zur Post (6. Oktober 1980), fertigte, führte der BMF aus, daß im Falle einer Neuerstellung des Erstbescheids der zunächst gefertigte Ausdruck des Steuerbescheids aus allen zur Versendung anstehenden Bescheiden hätte herausgesucht werden müssen. Eine derartige Suchaktion sei zwar bei der dezentralen Versendung der Bescheide möglich, jedoch würden sich hierdurch die üblichen Versendungsfristen für alle Steuerfestsetzungen erheblich verlängern.

In der mündlichen Verhandlung wiederholten die Beteiligten im wesentlichen ihre zuvor schriftsätzlich vorgetragenen Rechtsauffassungen. Außerdem äußerten sie sich zu der Frage, ob der Rechtmäßigkeit des ergangenen Änderungsbescheids nicht auch die Bestimmungen des § 2 i.V.m. § 1 des Gesetzes über die strafbefreiende Erklärung von Einkünften aus Kapitalvermögen und von Kapitalvermögen - Strafbefreiungsgesetz (StrbEG) - (Art. 17 des Steuerreformgesetzes 1990 vom 25. Juli 1988, BGBl I, 1093, BStBl I, 224) entgegenstehen könnten.

Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 29. November 1988 VIII R 226/83 im Anschluß an das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 18. März 1987 II R 226/84 (BFHE 149, 141, BStBl II 1987, 416) im einzelnen dargelegt hat, ist für die Frage, ob eine Tatsache oder ein Beweismittel i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nachträglich bekannt wird, nicht auf den Zeitpunkt der Absendung des Steuerbescheids, sondern grundsätzlich auf die abschließende Zeichnung des Eingabewertbogens für die maschinelle Erstellung des Bescheids als Ausdruck der abschließenden Willensbildung abzustellen. Greift das FA jedoch nach Absendung des Eingabewertbogens erneut in die Willensbildung des zu versendenden Steuerbescheids ein oder ist es hierzu aufgrund einer Dienstanweisung verpflichtet, so können die bis zum Abschluß dieser Überprüfung der organisatorisch zuständigen Stelle offenbarten Tatsachen oder Beweismittel unter bestimmten Voraussetzungen nicht mehr Grundlage eines Änderungsbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 sein. Findet hingegen eine solche materielle Prüfung nicht statt und besteht hierfür, wie beispielsweise im Falle der Bearbeitung einer formellen Hinweismitteilung, auch keine Pflicht des zuständigen Amtsträgers, verbleibt es bei der Maßgeblichkeit des Zeitpunkts, zu dem der zuständige Amtsträger den Eingabewertbogen des zu ändernden Steuerbescheids abgezeichnet hat. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf das Urteils des Senats vom 29. November 1988 VIII R 226/83 (BFHE 155, 259) hingewiesen:

2. Der Anwendung der im Urteil vom 29. November 1988 VIII R 226/83 dargelegten Grundsätze steht nicht entgegen, daß im anhängigen Verfahren der Sachbearbeiter vor Absendung des Erstbescheids (6. Oktober 1980) aufgrund der nacherklärten Einkünfte den Eingabewertbogen für den Änderungsbescheid (22. September 1980) fertigte und an die Datenverarbeitungszentrale weiterleitete. Denn maßgebend für den Erlaß eines Änderungsbescheides sind die Tatsachen und Beweismittel, die dem zuständigen Bediensteten bei Abschluß der Willensbildung für den zu ändernden Steuerbescheid erkennbar waren. Da das FA weder aufgrund seiner allgemeinen Ermittlungspflicht noch nach den Grundsätzen von Treu und Glauben verpflichtet ist, in den begonnenen Prozeß der Erstellung und Versendung eines Steuerbescheids (hier: Erstbescheid vom 6. Oktober 1980) einzugreifen (siehe Abschn. II 2 a aa, bb des BFH-Urteils vom 29. November 1988 VIII R 226/83), steht es im Ermessen des zuständigen Bediensteten, ob er die Nacherklärung von Einkünften zum Anlaß nimmt, die Bekanntgabe eines Steuerbescheids, in dem diese Einkünfte noch keine Berücksichtigung gefunden haben, zu unterbinden, oder ob er - wie es § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ausdrücklich vorsieht - einen Änderungsbescheid erläßt. Eine Änderung des Erstbescheids vom 6. Oktober 1980 würde deshalb nur dann gegen § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 verstoßen, wenn der zuständige Amtsträger aufgrund einer allgemeinen Dienstanweisung oder einer Hinweismitteilung der Datenverarbeitungszentrale zur materiellen Überprüfung des gesamten Erstbescheids vor dessen Versendung verpflichtet gewesen wäre oder eine solche Prüfung "von sich aus" vorgenommen hätte. Dem stünde - unter Beachtung der in Abschn. II 2 c des BFH-Urteils vom 29. November 1988 VIII R 226/83 dargelegten Einschränkungen - der Fall einer punktuell-materiellen Hinweismitteilung, deren Bearbeitung die Beiziehung der Steuerakten erfordert, gleich.

3. Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen ist der Senat nicht in der Lage, den Streitfall abschließend zu entscheiden. Die Vorentscheidung muß deshalb aufgehoben werden, damit das FG die erforderlichen Tatsachenfeststellungen nachholen kann (BFH-Urteil vom 28. November 1972 VIII R 142-144/70, BFHE 108, 275, BStBl II 1973, 497).

a) Die Ausführungen des FG, daß der Bescheid auf Fehler, die in diesem lediglich "vermutet wurden", zu überprüfen gewesen sei, läßt auch unter Berücksichtigung des in Bezug genommenen Abschnitts der Dienstanweisung der OFD nicht erkennen, ob es sich dabei um eine Verpflichtung zur erneuten materiellen Prüfung oder lediglich um eine formelle Plausibilitätskontrolle handelte. Diese Unklarheit wird durch die sich anschließende Feststellung der Vorinstanz, nach der "hierzu" (gemeint ist: für die Überprüfung) die Beiziehung der Akten unumgänglich war, nicht beseitigt. Abgesehen davon, daß das Urteil nicht zu erkennen gibt, wie das FG zu dieser Überzeugung gelangte, und bereits deshalb eine Bindung der Revisionsinstanz an diese Feststellung entfällt (Urteile des BFH vom 4. Juni 1969 VI R 229/68, BFHE 96, 273, BStBl II 1969, 615; vom 22. April 1966 III 46/62, BFHE 86, 219; vom 25. März 1983 VI R 205/79, nicht veröffentlicht - NV -), bestehen in Anbetracht der darauf folgenden Ausführungen, nach denen die Akten notwendigerweise zur Abheftung der Durchschrift des Bescheids beigezogen werden mußten und bei dieser Gelegenheit das in den Akten befindliche Schreiben vom 30. August 1980 zur Änderung des Bescheids vom 6. Oktober 1980 hätte (Hervorhebung des Senats) berücksichtigt werden können, erhebliche Zweifel daran, ob die Vorinstanz dem FA die Verpflichtung zur materiellen Prüfung auferlegen wollte oder - worauf es ausschließlich ankommt - eine solche Überprüfung vom zuständigen Bediensteten vorgenommen wurde oder aufgrund der Dienstanweisung der OFD vorzunehmen war.

b) Da somit der von der Vorinstanz bisher festgestellte Sachverhalt keine Entscheidung darüber erlaubt, ob dem FA aufgrund der Nachmeldung der Kapitaleinkünfte Tatsachen i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 bekannt geworden sind, besteht für den Senat weder Veranlassung, dazu Stellung zu nehmen, ob im Streitfall die Regelungen in § 2 Abs. 1 i.V.m. § 1 des Strafbefreiungsgesetzes für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Änderungsbescheids von Bedeutung sein könnten, noch, ob die in der Literatur gegen die Bestimmungen dieses Gesetzes geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken durchgreifen. Denn nur dann, wenn das FG aufgrund der von ihm durchzuführenden Ermittlungen des Sachverhalts zu der Überzeugung gelangt, daß der nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 gebotenen Festsetzung einer höheren Steuer die Vorschriften des Strafbefreiungsgesetzes entgegenstehen, wären die von der Literatur gegen die Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes erhobenen Einwände sowie die dadurch möglicherweise bedingten Einwirkungen auf die Auslegung dieses Gesetzes (verfassungsmäßige Interpretation) für die Entscheidung des Streitfalles erheblich (vgl. zum Begriff der Entscheidungserheblichkeit i.S. von Art. 100 des Grundgesetzes Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Mai 1988 1 BvR 8/82, 9/82, Neue Juristische Wochenschrift 1988, 2293; vom 19. Dezember 1978 1 BvL 3/78, BVerfGE 50, 108).