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  BFH-Urteil vom 22.9.1989 (III R 167/86) BStBl. 1990 II S. 60

Die Fortgeltung des Schwerbehindertenausweises bis zum bestandskräftigen Abschluß eines den Grad der Behinderung herabsetzenden Neufeststellungsverfahrens steht einer einkommensteuerrechtlichen Berücksichtigung des herabgesetzten Grades der Behinderung auf den Neufeststellungszeitpunkt nach Eintritt der Bestandskraft nicht entgegen. § 33b EStG ist keine Schutzvorschrift i.S. des § 35 SchwbG a.F. (§ 38 SchwbG n.F.).

EStG § 33, § 33b; EStDV § 65; SchwbG a.F. § 3 Abs. 1 und 5, § 35 (Schwb n.F. § 4 Abs. 1 und 5, § 38).

Vorinstanz: Hessisches FG

Sachverhalt

I.

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Ehegatten, die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden. Dem Kläger war durch das Versorgungsamt mit Bescheid vom 10. Februar 1978 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (nunmehr Grad der Behinderung) von 60 v.H. bescheinigt und ein Schwerbehindertenausweis mit entsprechendem Inhalt ausgestellt worden. Mit Neufeststellungsbescheid vom 2. Juni 1980 setzte das Versorgungsamt den Grad der Behinderung auf 30 v.H. herab. Nach den Feststellungen im Änderungsbescheid beruhte die Behinderung auf keiner typischen Berufskrankheit und hatte keine äußerlich erkennbare dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit zur Folge. Den gegen die Neufeststellung eingelegten Widerspruch wies die Widerspruchsbehörde am 8. September 1981 zurück. Nach Eintritt der Bestandskraft des Neufeststellungsbescheids forderte das Versorgungsamt mit Schreiben vom 26. Oktober 1981 den über das Jahr 1980 hinaus (mit einem Grad der Behinderung von 60 v.H.) verlängerten Schwerbehindertenausweis vom Kläger zurück.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) lehnte den Antrag des Klägers auf Berücksichtigung eines Pauschbetrags für Körperbehinderte nach § 33b Abs. 3 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) unter Zugrundelegung eines Grades der Behinderung von 60 v.H. bei der Einkommensteuerveranlagung für 1981 ab.

Der - auch wegen weiterer Streitpunkte eingelegte - Einspruch blieb erfolglos. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und sprach dem Kläger hierbei auch den beantragten Pauschbetrag für Körperbehinderte zu. Es vertrat die Auffassung, daß auch für das Streitjahr von einem Grad der Behinderung von 60 v.H. auszugehen sei, da der über das Jahr 1980 hinaus verlängerte Schwerbehindertenausweis, an dessen Feststellungen die Finanzbehörden gebunden seien, nach § 3 Abs. 5 Satz 4 des Schwerbehindertengesetzes i.d.F. vom 8. Oktober 1979 (BGBl I, 1649) - SchwbG a.F. - (nunmehr § 4 Abs. 5 Satz 4 SchwbG i.d.F. vom 26. August 1986, BGBl I, 1421 - SchwbG n.F. -) bis zum rechtskräftigen Abschluß des Neufeststellungsverfahrens in Kraft geblieben sei. Eine Rückwirkung der Neufeststellung auf den Feststellungszeitpunkt komme wegen der Ausweisverlängerung nicht in Betracht.

Mit seiner vom FG zugelassenen Revision rügt das FA Verletzung der §§ 33b EStG, 171 Abs. 10 der Abgabenordnung - AO 1977 - und 3 Abs. 1 SchwbG a.F. Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben, soweit das FG den Pauschbetrag nach § 33b EStG gewährt hat, und die Klage im selben Umfang abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Das FA hat in einem während des Revisionsverfahrens ergangenen Änderungsbescheid dem Klagebegehren entsprochen, soweit es die Vorentscheidung nicht angegriffen hat. Die Kläger haben beantragt, den Änderungsbescheid vom 11. Februar 1987 zum Gegenstand des Revisionsverfahrens zu machen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Dem Kläger steht für das Streitjahr der Pauschbetrag für Körperbehinderte nach § 33b EStG 1981 nicht zu. Denn nach dem das FA bindenden Neufeststellungsbescheid des Versorgungsamts vom 2. Juni 1980 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. September 1981 hat sich der Grad der nicht auf einer Berufskrankheit beruhenden und keine dauernde Bewegungseinschränkung verursachenden Behinderung des Klägers während des gesamten Jahres auf lediglich 30 v.H. belaufen. Die Verlängerung des Schwerbehindertenausweises bis zum bestandskräftigen Abschluß des Neufeststellungsverfahrens steht einer Berücksichtigung der Herabsetzung des Grades der Behinderung nicht entgegen.

a) Nach § 33b Abs. 6 EStG i.V.m. § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV) sind die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme eines Pauschbetrags für Körperbehinderte nach § 33b EStG bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 v.H. durch einen Ausweis nach § 3 Abs. 5 SchwbG a.F. (§ 4 Abs. 5 SchwbG n.F.) nachzuweisen.

Die Ausstellung des Schwerbehindertenausweises beruht auf den zuvor getroffenen Feststellungen des Versorgungsamtes nach § 3 Abs. 1 SchwbG a.F. oder vergleichbaren Feststellungen anderer Stellen nach § 3 Abs. 2 SchwbG a.F. über das Vorliegen und den Grad der Behinderung. Der Ausweis selbst hat lediglich deklaratorische Wirkung (vgl. Thieler, Das Schwerbehindertengesetz, Kommentar, § 4 Rdnr. 22; Neubert/Becke, Schwerbehindertengesetz, Handkommentar, 2. Aufl., § 4 Rdnr. 7). Er dient nach § 3 Abs. 5 Satz 2 SchwbG a.F. (§ 4 Abs. 5 Satz 2 SchwbG n.F.) dem Nachweis für die Inanspruchnahme von Rechten und Nachteilsausgleichen, die Schwerbehinderten nach dem SchwbG oder nach anderen Vorschriften zustehen. Der Ausweis versetzt den Behinderten in die Lage, die Rechte und Vergünstigungen, die von den Feststellungen der Versorgungsverwaltung abhängen, gegenüber jedermann nachzuweisen (vgl. Jung/Cramer, Schwerbehindertengesetz, Kommentar, 3. Aufl., § 4 Rdnr. 21; Wilrodt/Neumann, Schwerbehindertengesetz, 7. Aufl., § 4 Rdnr. 32; Thieler, a.a.O.; Neubert/Becke, a.a.O.; Rewolle, Schwerbehindertengesetz, Stand 46. Erg.-Lfg., § 4 Anm. V; vgl. hierzu auch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 17. Dezember 1982 7 C 11.81, BVerwGE 66, 315, 318).

An die nach dem SchwbG getroffenen Feststellungen der Versorgungsverwaltung sind nach dem Urteil des erkennenden Senats vom 13. Dezember 1985 III R 204/81 (BFHE 145, 545, BStBl II 1986, 245) auch die Finanzbehörden gebunden, da ihnen die Beurteilung medizinischer Sachverhalte zugrunde liegt, die diese mangels eigener Sachkunde nicht selbst nachzuprüfen vermögen (vgl. hierzu auch Senatsurteil vom 5. Februar 1988 III R 244/83, BFHE 152, 488, BStBl II 1988, 436). Die Feststellungsbescheide gemäß § 3 SchwbG a.F. (§ 4 SchwbG n.F.) stellen insoweit Grundlagenbescheide i.S. des § 171 Abs. 10 AO 1977 dar. Für die Steuerfestsetzung des Streitjahres ist damit auch der den Grad der Behinderung herabsetzende Neufeststellungsbescheid vom 2. Juni 1980 bindend.

b) Weder die verfahrensrechtlichen Bestimmungen zur Durchführung des Neufeststellungsverfahrens bei wesentlichen Änderungen im Ausmaß der Behinderung noch die Vorschriften des SchwbG vermögen die Auffassung des FG zu stützen, daß die Neufeststellung erst mit Eintritt der Bestandskraft des Änderungsbescheids wirksam wird.

aa) Das Verfahren zur Feststellung des Grades der Behinderung richtet sich nach § 30 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und dem Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung i.d.F. vom 6. Mai 1976 (BGBl I, 1179) i.V.m. dem Zehnten Buch des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - vom 18. August 1980 (BGBl I, 1469 - SGB 10 -; vgl. Wilrodt/Neumann, a.a.O., § 4 Rdnr. 6).

Nach § 48 Abs. 1 SGB 10 können Verwaltungsakte mit Dauerwirkung, zu denen auch ein unbefristeter Feststellungsbescheid nach § 3 SchwbG a.F. rechnet, mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben werden, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlaß des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine Herabsetzung des Grades der Behinderung für die Zukunft tritt im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Neufeststellungsbescheids ein (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 24. Februar 1987 11b RAr 53/86, BSGE 61, 189).

bb) Nach § 35 SchwbG a.F. erlischt der gesetzliche Schutz Schwerbehinderter, wenn sich der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit auf weniger als 50 v.H. verringert, erst am Ende des Kalenderjahres, das auf den Eintritt der Unanfechtbarkeit des die Verringerung feststellenden Bescheids folgt. § 38 SchwbG n.F. hat diese Schonfrist auf drei Monate verkürzt.

Bis zum Ablauf der Schonfrist stehen dem Schwerbehinderten alle Rechte des SchwbG zu (vgl. Neubert/Becke, a.a.O., § 38 Rdnr. 6). Inwieweit sich die in § 35 SchwbG a.F. angeordnete Verlängerung des Schwerbehindertenschutzes auf Vergünstigungsnormen anderer Gesetze erstreckt, die an die Schwerbehinderteneigenschaft anknüpfen, ist in der Kommentarliteratur umstritten (bejahend: Jung/Cramer, a.a.O., § 38 Rdnr. 2a; verneinend: Rewolle, a.a.O., § 38 Anm. 1; Thieler, a.a.O., § 38, Rdnr. 10). Der erkennende Senat muß auf diese Streitfrage nicht näher eingehen. Denn bereits die Stellung und Bedeutung der Vorschrift des § 33b EStG im System des Einkommensteuerrechts stehen ihrer Qualifizierung als einer Schutzvorschrift i.S. des § 35 SchwbG a.F. entgegen.

§ 33b EStG regelt einen Sonderfall der außergewöhnlichen Belastungen des § 33 EStG und setzt damit voraus, daß dem Steuerpflichtigen überhaupt Aufwendungen erwachsen sind. Die Vorschrift enthält eine typisierende Regelung zu den mit einer Körperbehinderung unmittelbar und üblicherweise zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen, wobei die Höhe des jeweiligen Behinderten-Pauschbetrags in Abs. 3 die Mindestaufwendungen widerspiegelt, die nach der Lebenserfahrung entsprechend der unterschiedlichen Art und Schwere der Behinderung typischerweise erwartet werden können (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 28. September 1984 VI R 164/80, BFHE 142, 377, BStBl II 1985, 129 unter 1c).

Die Vorschrift eröffnet dem Steuerpflichtigen lediglich ein Wahlrecht, anstelle der ebenfalls möglichen Berücksichtigung höherer nachgewiesener oder glaubhaft gemachter Einzelaufwendungen nach § 33 EStG für die ihm durch die Behinderung erwachsenen Aufwendungen einen Pauschbetrag in Anspruch zu nehmen. Die Pauschbetragsregelung des § 33b EStG dient damit vor allem der Verwaltungsvereinfachung; sie bedeutet gleichzeitig eine Erleichterung für den Steuerpflichtigen, der die entsprechenden Aufwendungen nicht nachzuweisen braucht und erübrigt regelmäßig die Entscheidung schwieriger Abgrenzungsfragen darüber, welche Aufwendungen infolge der Behinderung erwachsen sind (vgl. BFH-Urteil in BFHE 142, 377, BStBl II 1985, 129 unter 1c mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen). Die Anwendung dieser Vorschrift setzt damit voraus, daß überhaupt eine Behinderung vorliegt, bei der Mindestaufwendungen in Höhe der Pauschbeträge typischerweise anfallen.

cc) Die Fortgeltung des Ausweises nach § 3 Abs. 5 SchwbG a.F. (§ 4 Abs. 5 SchwbG n.F.) bis zum Eintritt der Bestandskraft des Neufeststellungsbescheids steht seiner Berücksichtigung vom Zeitpunkt der Neufeststellung an ebenfalls nicht entgegen.

Zutreffend ist das FG allerdings davon ausgegangen, daß der Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluß des Neufeststellungsverfahrens grundsätzlich weiterhin die Rechte aus dem früheren Feststellungsbescheid in Anspruch nehmen konnte, auf dem die Eintragungen im Ausweis beruhten. Denn nach § 3 Abs. 5 Satz 4 SchwbG a.F. ist der Schwerbehindertenausweis erst zu berichtigen oder einzuziehen, wenn eine Neufeststellung unanfechtbar geworden ist. Die Verlängerung der Gültigkeitsdauer des Ausweises bis zum rechtskräftigen Abschluß des Neufeststellungsverfahrens lassen jedoch dessen deklaratorischen Charakter und die Maßgeblichkeit des im Neufeststellungsbescheid herabgesetzten Grades der Behinderung grundsätzlich unberührt (a.A. Horlemann, Deutsche Steuerzeitung 1982, 469, 471). Die Fortgeltung des Ausweises führt deshalb auch zu keinen widerstreitenden Feststellungen vor Eintritt der Bestandskraft des Neufeststellungsbescheids; sie dient lediglich dem Zweck, dem Behinderten während des anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens die Vergünstigungen zu erhalten, die er im Falle eines endgültigen Obsiegens nicht mehr nachträglich in Anspruch nehmen könnte (z.B. den Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personenverkehr nach § 57 SchwbG a.F.) und kommt damit in ihrer Wirkung für das Besteuerungsverfahren der Aussetzung der Vollziehung des Neufeststellungsbescheids gleich, die auch die Finanzbehörden verpflichtet, bei der Steuerfestsetzung den im Ausweis angegebenen früheren Grad der Behinderung solange zugrundezulegen, bis der Ausweis eingezogen oder berichtigt wird. Ist aber die Herabsetzung des Grades der Behinderung rechtskräftig festgestellt, so hat das FA schon deshalb die Folgerungen aus dem Neufeststellungsbescheid (Grundlagenbescheid) zu ziehen, weil es, wie vorstehend dargelegt, mit Sinn und Zweck der typisierenden Regelung des § 33b EStG nicht in Einklang stünde, den Körperbehinderten-Pauschbetrag steuermindernd zu berücksichtigen, obwohl nach dem verminderten Grad der Behinderung derartige Aufwendungen nicht zu erwarten sind.

2. Die Sache ist spruchreif.

Obwohl aufgrund der entsprechenden Erklärung der Kläger der Einkommensteuerbescheid vom 11. Februar 1987 Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden ist (§§ 121, 68, 123 FGO), bedarf es im Streitfall keiner Zurückverweisung der Sache an das FG nach § 127 FGO. Denn die tatsächlichen Grundlagen hinsichtlich des Streitpunktes werden durch den Änderungsbescheid nicht berührt (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 3. Juni 1986 IX R 2/79, BFHE 146, 442, BStBl II 1986, 674).