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  BFH-Urteil vom 30.1.1990 (VII R 97/89) BStBl. 1990 II S. 416

Ein Fernsehgerät ist grundsätzlich nicht pfändbar. Das gilt auch dann, wenn der Schuldner zusätzlich noch über ein Rundfunkgerät verfügt.

AO 1977 § 295; ZPO §§ 811 Nr. 1, 811a.

Vorinstanz: FG Münster

Sachverhalt

Wegen rückständiger Steuerschulden in Höhe von 16.080,05 DM pfändete der Vollziehungsbeamte des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt - FA -) am 20. Juni 1988 in der Wohnung des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) mehrere Einrichtungsgegenstände, unter denen sich auch ein Stereo-Farbfernsehgerät befand.

Nach erfolglosem Beschwerdeverfahren hob das Finanzgericht (FG) die Pfändungsverfügung des FA hinsichtlich des Fernsehgerätes auf und begründete die Entscheidung wie folgt:

Das Fernsehgerät sei nach § 295 der Abgabenordnung (AO 1977), § 811 Nr. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) unpfändbar. Aufgrund der heutigen Lebensverhältnisse müsse davon ausgegangen werden, daß das Fernsehgerät anstelle des Radiogeräts zu dem Mindeststandard gehöre, der dem Schuldner belassen werden müsse.

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist unbegründet.

Das FG hat die Pfändung des Farbfernsehgeräts zu Recht als unzulässig angesehen.

1. Nach § 295 AO 1977 i.V.m. § 811 Nr. 1 ZPO sind diejenigen Sachen der Pfändung nicht unterworfen, die dem persönlichen Gebrauch des Vollstreckungsschuldners oder seinem Haushalt dienen, soweit er ihrer zu einer seiner Berufstätigkeit und seiner Verschuldung angemessenen, bescheidenen Lebens- und Haushaltsführung bedarf.

Ob dementsprechend ein vom Schuldner privat genutztes Fernsehgerät der Zwangsvollstreckung insbesondere dann unterliegt, wenn der Schuldner zusätzlich über ein Radiogerät verfügt, ist in der Rechtsprechung auch heute noch umstritten (vgl. Hartmann in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 48. Aufl., 1990, § 811 Anm. 3 B b, mit Nachweisen der Rechtsprechung).

2. Die Entscheidung über die Pfändbarkeit hängt davon ab, was unter einer bescheidenen, der Verschuldung des Schuldners angemessenen Lebens- und Haushaltsführung i.S. des § 811 Nr. 1 ZPO zu verstehen ist. Vor allem hinsichtlich technischer Geräte ist bei der Beantwortung dieser Rechtsfrage in hohem Maße auf den Wandel der Bedürfnisse und Betrachtungsweisen im Verlaufe der Zeit abzustellen (vgl. Hartmann, a.a.O., § 811 Anm. 1 A).

a) Die Ausgestaltung der Regelung in § 811 Nr. 1 ZPO war ursprünglich von Vorstellungen getragen, denen die inzwischen weitgehend überholten sozialen Strukturen des 19. Jahrhunderts zugrunde lagen (Zöller, Zivilprozeßordnung, 15. Aufl., 1987, § 811 Rdnr. 3). Die geltende Fassung des § 811 Nr. 1 ZPO, die auf das Gesetz zur Änderung von Vorschriften der Zwangsvollstreckung vom 24. Oktober 1934 (RGBl 1934, 1070) zurückgeht, macht die Unpfändbarkeit nicht mehr von der Unentbehrlichkeit des Gegenstandes abhängig (so aber noch das Landgericht - LG - Regensburg, Beschluß vom 5. Juli 1949 2 T 199/49, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1950, 548, und LG Siegen, Beschluß vom 20. September 1949 1 T 141/49, NJW 1950, 548, 549). Maßgebend ist vielmehr der Bedarf des Schuldners zu einer bestimmten Lebens- und Haushaltsführung (Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht - OLG -, Beschluß vom 23. Juni 1949 2 W 237/49, Juristische Rundschau - JR - 1949, 578).

Aus heutiger Sicht stellen die Pfändungsverbote zwingende öffentlich-rechtliche Schranken der staatlichen Vollstreckungsgewalt dar. Sie sind Ausfluß der in Art. 1 ("Würde des Menschen") und Art. 2 ("freie Entfaltung der Persönlichkeit") des Grundgesetzes (GG) normierten Grundrechte und müssen als Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips (Art. 20, 28 GG) verstanden werden (Zöller, a.a.O., § 811 Rdnr. 1; Thomas/Putzo, Zivilprozeßordnung mit Nebengesetzen, 15. Aufl., 1987, § 811 Anm. 1 A; Münzberg in Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 4. Band, Teilband 1, 20. Aufl., 1986, § 811 Rdnr. 1; Schneider/Becher, Probleme der "unpfändbaren Sachen" in der Judikatur, § 811 ZPO; Deutsche Gerichtsvollzieher-Zeitschrift - DGVZ - 1980, 177, 178). Als verfahrensrechtliche Schutzvorschrift muß § 811 ZPO deshalb mit Blick auf diese Grundrechte ausgelegt werden, denn das Verfahrensrecht dient nicht nur dem Ziel, einen geordneten Verfahrensgang - hier der Zwangsvollstreckung - zu sichern, sondern ist im grundrechtsrelevanten Bereich auch das Mittel, im konkreten Fall dem Grundrechtsträger zu seinen verfassungsmäßigen Rechten zu verhelfen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - (vgl. Beschluß vom 10. Oktober 1978 1 BvR 475/78, BVerfGE 49, 252, 257) ist daraus zu folgern, daß bei mehreren Auslegungsmöglichkeiten der genannten Norm diejenige zu wählen ist, die geeignet ist, die Grundrechte der Verfahrensbeteiligten durchzusetzen und zu verwirklichen.

b) Danach gebieten es die seit Inkrafttreten der ZPO eingetretenen tiefgreifenden Veränderungen und die weitreichende technische Fortentwicklung der Massenkommunikations - und - informationsmedien, ein Fernsehgerät heute zu den "Sachen" zu zählen, deren der Schuldner zu einer einfachen, bescheidenen Lebensführung i.S. von § 811 Nr. 1 ZPO bedarf und die deshalb unpfändbar sind. Dies gilt - wie die Vorinstanz zu Recht ausgeführt hat - unabhängig davon, ob der Schuldner daneben noch über ein Radiogerät verfügt. Das Fernsehgerät gehört aus heutiger Sicht zum Standard der in § 811 Nr. 1 ZPO umschriebenen Lebensführung. Es hat insoweit das Radiogerät als Grundinformationsquelle, wenn nicht gar verdrängt (so LG Nürnberg-Fürth, Beschluß vom 27. Mai 1977 11 T 3824/77, NJW 1978, 113), so doch zumindest weitgehend in den Hintergrund treten lassen und als Informationsquelle eine eigenständige, durch das Radiogerät nicht ersetzbare Bedeutung erlangt. Das gilt gleichermaßen für Schwarz/Weiß- und Farbfernsehgeräte.

aa) Das Gesetz stellt in § 811 Nr. 1 ZPO auf eine angemessene, bescheidene Lebens- und Haushaltsführung ab und spricht damit - wie ausgeführt - den Bedarf des Schuldners an. Fernseh- und Radiogeräte dienen den Beziehungen zur Umwelt und damit der Befriedigung persönlicher Bedürfnisse, insbesondere der Möglichkeit zur Information über das Zeitgeschehen und der Teilnahme am kulturellen Leben (Zöller, a.a.O., § 811 Rdnr. 15), auch im Wege der Unterhaltung. Dem Vollstreckungsschuldner die Befriedigung dieser Bedürfnisse zu sichern, entspricht vor allem den Grundrechten auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie auf Informationsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Dieses darf gemäß Art. 5 Abs. 2 GG durch das "allgemeine Gesetz" des § 811 Nr. 1 ZPO nicht stärker beeinträchtigt werden, als es die Interessen des Gläubigers an der Zwangsvollstreckung unbedingt gebieten (OLG Frankfurt, Beschluß vom 13. Oktober 1969 15 W 98/69, NJW 1970, 152, 153; zur Wechselwirkung des Grundrechts aus Art. 5 GG und den allgemeinen Gesetzen vgl. BVerfG-Beschluß vom 15. Januar 1958 1 BvR 400/51, BVerfGE 7, 198, 208 ff.; vgl. auch BVerfGE 49, 252, 257).

Deshalb muß heute grundsätzlich jedermann die Möglichkeit zugestanden werden, an den vorhandenen Informationsdiensten und Programmen der technischen Massenmedien teilzunehmen. Rundfunk und Fernsehen sind unterschiedliche Erscheinungsformen drahtloser Ausstrahlung derartiger Informationsdienste und Programme. Sie sind schon wegen ihrer unterschiedlichen - einerseits akustischen und visuellen, andererseits nur akustischen - Empfangsmöglichkeiten von jeweils eigenständiger Bedeutung. Deshalb unterliegt nach allgemeiner Auffassung jedenfalls ein einfaches, zum Empfang dieser Ausstrahlungen geeignetes Gerät der Pfändungsschutzvorschrift des § 811 Nr. 1 ZPO (vgl. die Hinweise auf die Rechtsprechung bei Wieczorek/Schütze, Zivilprozeßordnung und Nebengesetze, 2. Aufl., 1981, § 811 Anm. D III b 2). Der Vollstreckungsschuldner darf von den Informationen und Programmen, welche Rundfunk und Fernsehen heute bieten, nicht gänzlich abgeschnitten werden.

bb) Davon ausgehend stellt sich die weitere Frage, ob der Schuldner auf die Benutzung eines der allgemein zugänglichen drahtlosen Massenmedien (Rundfunk oder Fernsehen) - im Streitfall nur auf den Rundfunk - verwiesen werden darf.

Die Antwort darauf läßt sich nicht aus der Beurteilung einer Gleichwertigkeit beider Medien ableiten (so aber LG Köln, Beschluß vom 13. August 1981 12 T 159/81, DGVZ 1982, 62, 63; OLG Frankfurt; Beschluß in NJW 1970, 152, 153; Pardey, Die Wahl zwischen Hausratsgegenständen, insbesondere zwischen Fernsehern und Rundfunkgeräten i.S. der §§ 811 Nr. 1, 812 ZPO, DGVZ 1987, 111). Rundfunk und Fernsehen dienen zwar grundsätzlich gleichgerichteten - schutzwürdigen - Interessen und Bedürfnissen ihrer Empfänger. Doch sind sie schon aufgrund technischer Verschiedenheiten der Empfangsgeräte nicht gleichwertig. Das Fernsehen als akustisches und visuelles Informationsmittel bietet gegenüber dem Rundfunk zusätzliche und auch bessere Möglichkeiten der Darstellung, Übermittlung und Aufnahme von Informationen im weitesten Sinne und stellt deshalb gleichsam ein "aliud" im Verhältnis zum Rundfunk dar (Schneider/Becher, DGVZ 1980, 177, 184).

Diese Überlegenheit hat neben den durch die Massenproduktion gesunkenen Preisen der Empfangsgeräte auch dazu geführt, daß das Fernsehen inzwischen das an erster Stelle rangierende Informations- und Unterhaltungsmittel der Bevölkerung geworden ist (so schon LG Nürnberg-Fürth, Beschluß in NJW 1978, 113). Angesichts des sich stetig vollziehenden technischen Fortschritts und der damit verbundenen, kontinuierlichen Weiterentwicklung des Fernsehens gebietet der Schutzzweck des § 811 Nr. 1 ZPO heute die Sicherung des Zugangs zu diesem akustischen und visuellen Medium.

3. Die grundsätzliche Unpfändbarkeit des Fernsehgeräts führt nicht zu einer unangemessenen Benachteiligung des Gläubigers oder unvertretbaren Verschiebung der Gewichte zugunsten des Schuldners (a.A. Mümmler, Anmerkung zum Beschluß des OLG Stuttgart vom 9. April 1986 8 W 357/85, Juristisches Büro 1987, 460, und von Blumenthal, Anmerkung zum Beschluß des OLG Frankfurt vom 13. Oktober 1969 15 W 98/69, NJW 1970, 152). Es ist allgemein anerkannt, daß ein Farbfernsehgerät im Wege der Austauschpfändung nach § 811a ZPO durch ein Schwarz/Weiß-Gerät, ein hochwertiges Luxusgerät durch ein einfacheres Schwarz/Weiß- oder Farbfernsehgerät ausgetauscht werden kann (vgl. Senatsbeschluß vom 17. September 1987 VII B 115/87, BFH/NV 1988, 316). Auf die Pfändung eines gebrauchten Schwarz/Weiß-Empfangsgeräts wird der Gläubiger in der Regel schon deshalb verzichten, weil der zu erzielende Erlös im allgemeinen zu gering sein wird; in manchen Fällen wird die Pfändung auch schon aus dem in § 803 Abs. 2 ZPO niedergelegten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu unterbleiben haben.

4. Da der Senat von der grundsätzlichen Unpfändbarkeit eines Fernsehgeräts auch dann ausgeht, wenn der Vollstreckungsschuldner zusätzlich im Besitz eines Radiogeräts ist, bedarf es im Streitfall keiner Berücksichtigung der persönlichen und familiären Verhältnisse des Klägers. Die Vorinstanz ist deshalb zu Recht nicht der Frage nachgegangen, ob das im Besitz des Klägers befindliche Radiogerät der Pfändung unterlag und ob die Pfändung des Fernsehgeräts aus anderen Gründen unzulässig war.