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  BFH-Urteil vom 31.7.1990 (VII R 60/89) BStBl. 1990 II S. 1071

Es ist ein absoluter Revisionsgrund, wenn das FG die Gründe seines Urteils hinsichtlich eines wesentlichen Streitpunkts durch die Bezugnahme auf eine von ihm erlassene Entscheidung ersetzt, die den Beteiligten bei Beginn der Revisionsfrist weder bekannt noch zugänglich war (Bestätigung der Rechtsprechung).

FGO § 116 Abs. 1 Nr. 5, § 119 Nr. 6.

Vorinstanz: FG Hamburg

Sachverhalt

Der Beklagte und Revisionskläger (das Hauptzollamt - HZA -) lehnte mit zwei Bescheiden vom 23. Mai 1985 den Antrag der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) ab, sie in Anwendung der Verordnung (EWG) Nr. 926/80 (VO Nr. 926/80) der Kommission über die Befreiung von der Erhebung der Währungsausgleichsbeträge (WAB) in bestimmten Fällen (Altkontraktregelung) vom 15. April 1980 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - ABlEG - L 99/15) von der Erhebung bestimmter WAB zu befreien. Die Klage hatte teilweisen Erfolg. Soweit das Finanzgericht (FG) der Klage stattgab, begründete es sein Urteil u.a. damit, der betreffende, von der Klägerin abgeschlossene mündliche Vertrag sei als Einfuhrvertrag i.S. des Art. 5 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 926/80 anzuerkennen. Es fuhr fort: "Was unter einem Einfuhrvertrag zu verstehen ist, hat der Senat mit der Auslegung dieser Vorschrift in den beiden parallelen Rechtsstreitigkeiten IV 201 u. 261/85 S - H in den beiden Urteilen vom heutigen Tage erkannt; auf diese zwischen denselben Beteiligten ergangenen Urteile wird Bezug genommen." Die Vorentscheidung wurde am 8. Februar 1989 verkündet und mit Gründen den Beteiligten am 16. März 1989 zugestellt. Die beiden in Bezug genommenen Urteile wurden am gleichen Tag verkündet, den Beteiligten aber erst am 6./7. April 1989 bzw. 26. Mai 1989 zugestellt.

Seine Revision begründete das HZA zunächst im wesentlichen wie folgt: Die Vorentscheidung sei zum Teil nicht mit Gründen versehen. Die Auslegung des Art. 5 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 926/80 stelle einen wesentlichen Streitpunkt im vorliegenden Rechtsstreit dar. Insoweit habe das FG in der Vorentscheidung auf Urteile zwischen denselben Beteiligten Bezug genommen, die wesentlich später als die Vorentscheidung zugestellt worden seien. Damit sei die Revision ohne Zulassung statthaft und ein absoluter Revisionsgrund gegeben (§ 116 Abs. 1 Nr. 5, § 119 Nr. 6 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Nachdem der Senat mit Beschluß vom 23. November 1989 VII B 88/89 auf die Beschwerde des HZA die Revision zugelassen hatte, begründete das HZA seine Revision weiter auch damit, daß die Vorentscheidung auf einer unzutreffenden Anwendung der Art. 4, 5 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 926/80, einem Verstoß gegen die Denkgesetze und auf mangelnder Sachaufklärung beruhe.

Entscheidungsgründe

Die Revision des HZA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache. Die Vorentscheidung leidet an dem Mangel, der einen absoluten Revisionsgrund darstellt, daß sie (teilweise) nicht mit Gründen versehen ist (§ 119 Nr. 6 FGO).

Das FG hat auf zwei andere Urteile Bezug genommen. Das ist nicht schlechthin unzulässig. Die Bezugnahme ist nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) dann nicht zu beanstanden, wenn die in Bezug genommene und - so wie hier - zwischen denselben Beteiligten ergangene Entscheidung entweder gleichzeitig mit dem angefochtenen Urteil oder früher verkündet oder zugestellt worden ist. Dagegen liegt ein absoluter Revisionsgrund vor, wenn das FG die Gründe seiner Entscheidung hinsichtlich eines wesentlichen Streitpunkts dadurch ersetzt, daß es auf die Gründe einer seiner Entscheidungen verweist, deren Inhalt den Beteiligten bei Beginn der Revisionsfrist weder bekannt noch zugänglich war (vgl. zuletzt BFH-Urteile vom 8. März 1988 VII R 53/86, BFH/NV 1989, 31, und vom 30. September 1988 III R 27/87, BFH/NV 1989, 511, jeweils mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Diese Auffassung, der sich der erkennende Senat anschließt, beruht im wesentlichen auf der Erwägung, daß die Befugnis des Gerichts, einzelne Teile der Urteilsgründe durch die Bezugnahme auf andere Schriftstücke zu ersetzen, dort ihre Grenze findet, wo diese Handhabung einen Beteiligten in der Wahrnehmung seiner prozessualen Rechte beeinträchtigen würde. § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO knüpft den Beginn der Revisionsfrist an die Zustellung des vollständigen Urteils der Vorinstanz. Der durch das Urteil Beschwerte soll aber mindestens einen Monat zur Verfügung haben, sich unter Berücksichtigung der schriftlichen Urteilsgründe darüber schlüssig zu werden, ob er das Urteil anfechten will. Er soll nicht in die Zwangslage versetzt werden, seine Überlegung und Entschließung über die Einlegung der Revision treffen zu müssen, ohne die Urteilsgründe in allen vom Gericht für wesentlich erachteten Punkten zu kennen (vgl. Senatsurteil vom 3. März 1970 VII R 43/68, BFHE 98, 525, 527, BStBl II 1970, 494).

Im vorliegenden Fall entspricht die Vorentscheidung den genannten Anforderungen nicht. Das FG hat zur Begründung seiner Auslegung des Begriffs "Einfuhrvertrag" i.S. des Art. 5 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 926/80 - ein im vorliegenden Verfahren wesentlicher Streitpunkt - auf seine Urteile in zwei Parallelverfahren zwischen den gleichen Beteiligten verwiesen. Die in Bezug genommenen Urteile sind nach Beginn der Revisionsfrist gegen das vorliegende bezugnehmende Urteil zugestellt worden. Der Vorentscheidung fehlen also (teilweise) die Entscheidungsgründe. Der vom HZA gerügte Verfahrensmangel des § 119 Nr. 6 FGO liegt somit vor.

Der BGH hat es in seinem Beschluß vom 2. Oktober 1970 I ZB 9/69 (Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1971, 39) für möglich gehalten, daß eine spätere Zustellung der in Bezug genommenen Entscheidung unschädlich sei, weil die Gründe der bezugnehmenden Entscheidung erst mit der genannten Zustellung vollständig zugestellt seien und Rechtsmittelfristen, soweit sie mit der Zustellung des vollständigen Urteils beginnen, deshalb erst ab der zweiten Zustellung zu berechnen seien. Der Senat folgt dieser die Entscheidung nicht tragenden Auffassung nicht. Nach § 120 Abs. 1 FGO beginnt der Lauf der Revisionsfrist mit der "Zustellung des vollständigen Urteils". Als Urteil in diesem Sinn kann dabei nur jenes verstanden werden, das durch Revision angefochten werden soll, hier also die Vorentscheidung. Die Zustellung der in Bezug genommenen Urteile ist keine Vervollständigung der Gründe des bezugnehmenden Urteils. Die Revisionsfrist wird daher durch Zustellung des bezugnehmenden Urteils in Lauf gesetzt, nicht erst durch die spätere Zustellung der Urteile, auf die Bezug genommen worden ist. Die Richtigkeit dieser Auslegung wird durch die Überlegung bestätigt, daß Fristen wegen ihrer Bedeutung für ein ordnungsmäßiges Verfahren aus dem Gesetzestext eindeutig und klar erkennbar sein müssen; sie können nicht erst aus Sinn und Zusammenhang des Gesetzes durch - vielleicht überraschende - Auslegung gefunden werden (vgl. Beschluß des Großen Senats des BFH vom 8. November 1971 GrS 9/70, BFHE 103, 549, 551, BStBl II 1972, 219 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG -). Diese Anforderungen würden nicht erfüllt, wenn der Beginn der Revisionsfrist von der Entscheidung u.a. der Frage abhinge, ob eine etwaige Bezugnahme im angefochtenen Urteil auf andere Entscheidungen einen wesentlichen Streitpunkt betrifft oder nicht.

Der Senat ist nicht zur Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes verpflichtet, da er nicht von den tragenden Gründen der zitierten Entscheidung des BGH abweicht (vgl. § 2 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes). Die Auffassung des BGH in seinem Beschluß in NJW 1971, 39, die der Senat nicht teilt, findet sich in einer beiläufigen Bemerkung (obiter dictum), die für die Entscheidung des BGH nicht tragend war (so auch BFH-Urteil vom 28. März 1984 I R 117/83, BFHE 141, 206, BStBl II 1984, 666). Der BGH hatte die Frage zu entscheiden, ob nicht nur die Bezugnahme auf eine frühere, sondern auch auf eine gleichzeitige Entscheidung zulässig ist, und hat das zu Recht bejaht. Die Frage etwaiger Anforderungen an den Lauf der Revisionsfrist hat der BGH nur erörtert, um "etwaigen Bedenken, die sich ergeben könnten, wenn beide Entscheidungen nicht gleichzeitig zugestellt werden", zu begegnen. Aus diesen Ausführungen ergibt sich, daß sich der BGH nur mit dem hypothetischen Fall der nicht gleichzeitigen Zustellung befaßt hat, in dem ihm vorliegenden Fall die Fallgestaltung aber eine andere war (vgl. auch BGH-Beschluß vom 13. Oktober 1982 IV b ZB 154/82, NJW 1983, 123, in dem der BGH nur noch von der Notwendigkeit spricht, die in Bezug genommene Entscheidung "gleichzeitig" mit der bezugnehmenden Entscheidung bekanntzumachen). Da dem so ist, kann dahingestellt bleiben, ob die Vorlage an den Gemeinsamen Senat nicht auch deswegen unterbleiben müßte, weil die Vorschriften über den Lauf der Revisionsfrist in der Zivilprozeßordnung und FGO nicht voll übereinstimmen.

Die Auffassung des Senats weicht schließlich auch nicht von einer Entscheidung eines anderen Senats des BFH ab (vgl. § 11 Abs. 3 FGO). Der III. Senat des BFH hat sich zwar im Urteil vom 21. Januar 1977 III R 125/73 (BFHE 121, 284, BStBl II 1977, 396) dem zitierten BGH-Beschluß in der Frage, ob die FG auf gleichzeitig verkündete Entscheidungen Bezug nehmen können, ausdrücklich angeschlossen; die Frage der Rechtsfolgen einer späteren Zustellung des in Bezug genommenen Urteils stellte sich dem III. Senat nach dem seiner Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt aber nicht. Der VIII. Senat hat im Urteil vom 10. April 1984 VIII R 229/83 (BFHE 141, 113, BStBl II 1984, 591) ausdrücklich nicht Stellung genommen zur Frage, ob BFH und BGH verschiedene Auffassungen vertreten, da sich die streitige Frage in dem von ihm entschiedenen Fall ebenfalls nicht stellte. Gleiches gilt für das zitierte Urteil des I. Senats des BFH in BFHE 141, 206, BStBl II 1984, 666.

Nach allem ist die Vorentscheidung als nicht mit Gründen versehen anzusehen. Da die Ursächlichkeit dieses Mangels für die Vorentscheidung durch § 119 Nr. 6 FGO unwiderleglich vermutet wird, ist die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache ohne eine Äußerung zu den materiell-rechtlichen Rechtsfragen an die Vorinstanz zurückzuverweisen.