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  BFH-Urteil vom 28.11.1990 (X R 102/89) BStBl. 1991 II S. 477

1. Die Nichtberücksichtigung eines Fehlbetrages in einem Gewerbesteuermeßbescheid löst keine Bindungswirkung für die Folgejahre aus.

2. Im Rahmen des § 10a Satz 1 GewStG (in der bis zum Inkrafttreten des Steuerreformgesetzes 1990 geltenden Fassung) war eine zu Unrecht unterbliebene Verlustverrechnung innerhalb des Fünf-Jahres-Zeitraums nachholbar (Abweichung vom BFH-Urteil vom 9. Januar 1958 IV 250/57 U, BFHE 66, 351, BStBl III 1958, 134).

GewStG § 10a; EStG § 10d.

Vorinstanz: FG München

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betreibt seit 1980 ein Einzelhandelsunternehmen mit Möbeln und Einrichtungsgegenständen. Den Gewinn ermittelte er bis einschließlich 1981 nach § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Dabei ergaben sich Verluste (Fehlbeträge) in Höhe von 38.944 DM für 1980 und in Höhe von 41.408 DM für 1981.

Von 1982 an erzielte der Kläger Gewinne, die er nunmehr durch Betriebsvermögensvergleich (§ 4 Abs. 1, § 5 EStG) ermittelte.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) legte den Gewerbesteuermeßbeträgen für die Jahre 1982 bis 1984 jeweils ungekürzte Gewerbeerträge (1982: 145.100 DM; 1983: 55.828 DM; 1984: 34.562 DM) zugrunde. Die vom Kläger begehrte Verrechnung mit den Verlusten aus den Erhebungszeiträumen 1980 und 1981 lehnte da FA jeweils mit der Begründung ab, die Betriebsergebnisse seien nicht nach § 5 EStG ermittelt worden. Diese Gewerbesteuermeßbescheide sind bestandskräftig geworden.

Für das Streitjahr 1985 kam es wiederum nicht zur beantragten Verlustverrechnung. Das FA war der Meinung, die Verluste der Jahre 1980 und 1981 seien inzwischen "verbraucht".

Der (nach erfolglosem Einspruch erhobenen) Klage gab das Finanzgericht (FG) statt. Es setzte den Gewerbesteuermeßbetrag auf null DM fest. Zur Begründung führte es u.a. aus: Im Streitfall greife die rückwirkende Neufassung des § 10a Satz 1 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) durch das Steuerbereinigungsgesetz (StBereinG 1986) vom 19. Dezember 1985 (BGBl I 1985, 2436) ein, wonach die Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG einer Verlustverrechnung nicht mehr entgegenstehe. Die Verluste seien nicht dadurch "verbraucht", daß sie für 1982 und 1983 nicht zu einer Kürzung des Gewerbeertrages geführt hätten. Ob dies schon aus dem Gesetzeswortlaut folge, der (innerhalb des Fünf-Jahres-Zeitraums) nur tatsächlich berücksichtigte Fehlbeträge von einer Verrechnung ausschließe, könne dahingestellt bleiben; denn auch wenn man insoweit auf die frühere Verrechnungsmöglichkeit abstelle, müsse die Klage Erfolg haben. Für die Jahre 1982 und 1983 sei die begehrte Verlustverrechnung wegen der seinerzeit maßgeblichen Rechtslage nicht möglich gewesen. Hieran habe sich für den Kläger durch die rückwirkende Neufassung des § 10a GewStG nichts geändert, die bestandskräftige Bescheide unberührt lasse. Daß der Kläger für 1984 eine Verlustverrechnung hätte erreichen können, weil bei Bekanntgabe des Gewerbesteuermeßbescheids für diesen Erhebungszeitraum am 31. Oktober 1986 das StBereinG 1986 schon gegolten habe, sei nicht entscheidungserheblich; denn das Klagebegehren erstrecke sich nicht mehr auf den möglicherweise 1984 "verbrauchten" Verlustbetrag, sondern ziele nur noch auf den Ansatz eines Gewerbeertrags, der unter dem Freibetrag des § 11 Abs. 1 Satz 3 GewStG liege.

Das FA rügt mit der Revision Verletzung materiellen Rechts. Es ist der Meinung, das FG habe § 10a GewStG unzutreffend ausgelegt und nicht beachtet, daß der Verlust aus den Jahren 1980 und 1981 im Streitjahr "verbraucht" gewesen sei. Darin liege eine Mißachtung der Regeln über die Bestandskraft, vor allem der gesetzgeberischen Absicht, die im StBereinG 1986 enthaltene Rückwirkungsanordnung auf das materielle Recht zu beschränken.

Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Im Ergebnis zu Recht hat das FG den einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrag, dem Klageantrag entsprechend, gemäß § 100 Abs. 2 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf null DM festgesetzt. Die Summe aus dem für 1985 ermittelten Gewinn und den für diesen Erhebungszeitraum vorgenommenen Hinzurechnungen (§ 7 GewStG) war um den mit der Klage geltend gemachten Verlustbetrag zu kürzen.

Dies folgt aus § 10a Satz 1 GewStG i.d.F. des StBereinG 1986. Danach wird der maßgebliche Gewerbeertrag um die Fehlbeträge gekürzt, die sich bei der Ermittlung des maßgeblichen Gewerbeertrags für die fünf vorangegangenen Erhebungszeiträume nach den Vorschriften der §§ 7 bis 10 ergeben haben, soweit die Fehlbeträge nicht bei der Ermittlung des Gewerbeertrages für die vier vorangegangenen Erhebungszeiträume berücksichtigt worden sind. Diese Voraussetzungen sind hier im Umfang des Klagebegehrens für das Streitjahr erfüllt.

1. Daß die Verluste in den Entstehungsjahren nicht verrechenbar waren, ist unschädlich. Sie haben diese in der Gewinnermittlungsart begründete Eigenschaft verloren. Das seinerzeit noch maßgebliche zusätzliche Tatbestandsmerkmal des § 10a Satz 1 GewStG, demzufolge der Gewinn nach § 5 EStG ermittelt worden sein mußte, ist gemäß § 36 Abs. 3 GewStG i.d.F. des StBereinG 1986 mit Wirkung ab dem Erhebungszeitraum 1975 entfallen. Seither kommt es im Rahmen des § 10a GewStG für die Berücksichtigung von Verlusten auf die Art der Gewinnermittlung nicht mehr an.

2. Daß die im StBereinG 1986 enthaltene rückwirkende Änderung des § 10a GewStG nur materiell-rechtlicher Natur ist (vgl. dazu Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 9. August 1990 X R 5/88, BFHE 162, 355, BStBl II 1991, 55), steht der begehrten Verlustverrechnung ebenfalls nicht entgegen.

a) Die Ablehnung der Verlustberücksichtigung in den für die Erhebungszeiträume 1982 bis 1984 erlassenen Gewerbesteuermeßbescheiden ist trotz der Unanfechtbarkeit dieser Steuerverwaltungsakte kein formelles Hindernis für den Verlustabzug im Streitjahr. In Bestandskraft ist jeweils nur der Verfügungssatz (der "Tenor"), nicht auch die Begründung dieser Bescheide erwachsen. Die (Nicht-)Berücksichtigung von Fehlbeträgen (Verlusten) in einem Gewerbesteuermeßbescheid zählt zu den (negativen) unselbständigen Besteuerungsgrundlagen i.S. des § 157 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) i.V.m. § 184 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 AO 1977 (vgl. Glanegger/Güroff, Gewerbesteuergesetz, 1988, § 10a Tz. 23; zu den hieraus abzuleitenden Folgen für die Verjährung: BFH-Urteil vom 24. Mai 1989 I R 213/85, BFHE 157, 521, BStBl II 1990, 8, 10 zu Buchst. B a.E.). Schon deshalb ging von den negativen Entscheidungen des FA über den Verlustabzug in den Erhebungszeiträumen 1982 bis 1984 keine dem Verrechnungsbegehren entgegenstehende Bindungswirkung für das Streitjahr 1985 aus.

b) Die Rechtfertigung für die vom FG vorgenommene Verlustverrechnung liegt darin, daß § 10a Satz 1 GewStG in zeitlicher Hinsicht nach seinem Wortsinn für den hier zu beurteilenden Erhebungszeitraum nur verlangt, daß die Fehlbeträge der fünf vorangegangenen Jahre bei der Ermittlung des Gewerbeertrags für die vier vorangegangenen Erhebungszeiträume nicht berücksichtigt "worden sind", also nur auf das Ergebnis und die Tatsache des Unterlassens der Verlustverrechnung abstellt und nicht danach fragt, warum die Verrechnung bisher unterblieben ist (im Ergebnis ebenso Glanegger/Güroff, a.a.O.; a.M. BFH-Urteil vom 9. Januar 1958 IV 250/57 U, BFHE 66, 351, BStBl III 1958, 134; Lenski/Steinberg, Kommentar zum Gewerbesteuergesetz, § 10a Anm. 19; Meyer/Scharenberg/Popp/ Woring, Kommentar zum Gewerbesteuergesetz, 1989, § 10a Tz. 23; Müthling/Fock, Gewerbesteuergesetz, Kommentar, § 10a Tz. 1; v. Twickel in Blümich, Gewerbesteuergesetz, § 10a Tz. 45; Abschn. 68 Abs. 9 der Gewerbesteuer-Richtlinien - GewStR -). Die Frage, inwieweit eine frühere Berücksichtigung von Fehlbeträgen in tatsächlicher und/oder rechtlicher Hinsicht möglich war, stellt sich daher hier nicht.

c) Diese Auslegung des § 10a Satz 1 GewStG wird bestätigt durch den Vergleich mit der anders gefaßten einkommensteuerrechtlichen Vorschrift des § 10d EStG.

aa) Während die einkommensteuerrechtliche Verlustberücksichtigung ausdrücklich (in § 10d Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz und in Abs. 2 Satz 2 EStG n.F. bzw. in § 10d Satz 1, 2. Halbsatz und Satz 4 EStG a.F.) an die Möglichkeit des Verlustabzugs geknüpft ist, fehlt ein solches (negatives) Merkmal in der gewerbesteuerrechtlichen Verlustvortragsregelung. Nach deren eindeutigem Wortsinn kommt es auch auf Gesichtspunkte des Verschuldens und der Zumutbarkeit nicht an.

Zu einem "Verbrauch" des vortragsfähigen Verlusts kann es demgemäß nach § 10a Satz 1 GewStG in der für den Streitfall geltenden Fassung grundsätzlich (bei Fortbestand der sonstigen Voraussetzungen, z.B. der Unternehmer- und der Unternehmensgleichheit) nur durch Zeitablauf, d.h. nur dadurch kommen, daß die Berücksichtigung der Fehlbeträge zu einer Überschreitung der Fünf-Jahres-Frist führt.

Selbst diese zeitliche Begrenzung ist inzwischen durch das Steuerreformgesetz 1990 (BGBl I 1988, 1093) für ab Erhebungszeitraum 1985 entstandene Fehlbeträge entfallen (und durch das formelle Erfordernis einer gesonderten Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlusts ersetzt worden).

bb) Für eine exakte zeitliche Zuordnung von Verlusten sind in § 10a GewStG - anders als in § 10d EStG - nicht nur keine materiell-rechtlichen Vorkehrungen getroffen worden, es fehlt auch an einer entsprechenden speziellen Korrekturregelung, wie sie in § 10d Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 EStG n.F. (§ 10d Satz 2 und Satz 3 EStG a.F.; vgl. dazu die BFH-Urteile vom 14. November 1989 VIII R 36/88, BFHE 160, 217, BStBl II 1990, 618, und VIII R 209/85, BFHE 160, 219, BStBl II 1990, 620) enthalten ist.

Dies läßt insgesamt nach dem in der Gesetzesfassung angedeuteten gesetzgeberischen Plan nur den Schluß zu, daß es im Rahmen des § 10a GewStG im Gegensatz zu § 10d EStG auf eine exakte zeitliche Zuordnung von Verlusten innerhalb der Fünf-Jahres-Frist nicht ankommt.

cc) Das grundsätzliche Bedürfnis, zu Unrecht unterbliebene Verlustverrechnungen im ersten hierfür noch offenen Erhebungszeitraum nachzuholen, ist um so dringlicher, als die allgemeine Korrekturvorschrift des § 222 Abs. 1 Nr. 4 der Reichsabgabenordnung (AO), auf die der BFH in BFHE 66, 351, BStBl III 1958, 134 noch verweisen konnte, in der AO 1977 keine Nachfolgeregelung gefunden hat.

d) Daß § 10a GewStG gegenüber § 10d EStG eine eigenständige Regelung geblieben ist (vgl. v. Twickel, a.a.O., Tz. 35), ergibt sich auch aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift: Trotz wiederholter Anpassungsversuche (zur Entwicklung im einzelnen vgl. Lenski/Steinberg, a.a.O., Tz. 1; v. Twickel, a.a.O., Tz. 6 ff.) ist es - für das Streitjahr und im wesentlichen auch für die Folgezeit - bei den zuvor dargelegten inhaltlichen Unterschieden zwischen den beiden Verlustausgleichsregelungen geblieben.

e) Die hier vertretene Auffassung führt zwar auch dazu, daß die Beteiligten des Gewerbesteuermeßbetragsverfahrens (das Finanzamt durch fehlerhafte Verlustverrechnung, der Steuerschuldner durch Hinnahme einer infolgedessen unzutreffenden Meßbetragsfestsetzung) in gewisser Weise auf die zeitliche Zuordnung von Fehlbeträgen Einfluß nehmen können. Damit wird aber kein "Wahlrecht" begründet, wie der BFH in BFHE 66, 351, BStBl III 1958, 134 und die ihm folgende Gegenmeinung annimmt. Eine beliebige zeitliche Zuordnung von Verlusten ist auch nach der hier vertretenen Ansicht nicht möglich. Grundsätzlich wird der Gewerbeertrag (auch ohne entsprechend genaue gesetzgeberische Anordnung) in der durch den tatsächlichen Geschehensablauf vorgegebenen Weise berücksichtigt, d.h. Kürzungen um Fehlbeträge sind von Amts wegen vorzunehmen. Nur geschieht das nach Maßgabe der (wie oben unter b) dargelegt) weit gefaßten tatbestandlichen Voraussetzungen des § 10a GewStG - mit der Folge für den Streitfall, daß die zu Unrecht unterbliebene Verlustverrechnung in dem mit der Klage begehrten Umfang nachgeholt werden kann.

3. Einer Anrufung des Großen Senats gemäß § 11 Abs. 3 FGO bedurfte es nicht, weil das BFH-Urteil, von dem der Senat abweicht (BFHE 66, 351, BStBl III 1958, 134), nicht nach § 64 AO veröffentlicht worden ist (§ 184 Abs. 2 Nr. 5 FGO).