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  BFH-Urteil vom 25.6.1991 (IX R 57/88) BStBl. 1991 II S. 821

Ist ein Grundlagenbescheid ersatzlos aufgehoben worden, so kann das für den Folgebescheid zuständige FA den Sachverhalt, der bisher Gegenstand des Grundlagenbescheids war, in eigener Zuständigkeit ermitteln und steuerrechtlich beurteilen, um auf Grund dessen den Folgebescheid nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zu ändern.

AO 1977 § 175 Abs. 1 Nr. 1.

Vorinstanz: FG Münster

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) ließen in den Jahren 1979 bis 1981 im Rahmen einer Bauherrengemeinschaft (BHG) ein Reihenhaus errichten. In ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1979 erklärten sie auf Grund dessen einen Werbungskostenüberschuß von 63.160 DM.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) führte die Veranlagung zunächst erklärungsgemäß unter dem Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) durch.

Auf Grund einer Außenprüfung bei der BHG teilte das für diese zuständige FA dem beklagten FA mit, daß auf die Kläger ein Werbungskostenüberschuß von 55.855,87 DM entfalle. Gegen den die BHG betreffenden Feststellungsbescheid sei jedoch Einspruch eingelegt worden. Daraufhin hob das FA den Vorbehalt der Nachprüfung auf, ließ aber die Steuerfestsetzung im Einkommensteuerbescheid 1979 unverändert.

Erst nachdem der Feststellungsbescheid ersatzlos aufgehoben worden war, änderte das FA die Einkommensteuerfestsetzung 1979 durch Bescheid vom 19. Juli 1983 unter Berufung auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977, indem es den Werbungskostenüberschuß auf 55.855 DM verminderte.

Der gegen den Änderungsbescheid eingelegte Einspruch blieb erfolglos. Das FA stützte die Änderung in der Einspruchsentscheidung nunmehr auf § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977.

Das Finanzgericht (FG) hat der Klage hinsichtlich der Einkommensteuer 1979 stattgegeben. Es hob den geänderten Einkommensteuerbescheid mit der Begründung auf, eine Änderung nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 sei unzulässig, weil damit der Einkommensteuerbescheid nicht an die Aufhebung des Feststellungsbescheids angepaßt werde.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung hinsichtlich des Einkommensteuerbescheids 1979 aufzuheben und die Klage insoweit abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Die Vorinstanz hat rechtsfehlerhaft die Befugnis des FA verneint, den ursprünglichen Einkommensteuerbescheid 1979 gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zu ändern.

Nach dieser Vorschrift ist ein Steuerbescheid zu ändern, "soweit" ein Grundlagenbescheid erlassen, aufgehoben oder geändert wird, dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt. Die Anpassung des Folgebescheids führt nicht zu einer Wiederaufrollung der gesamten Steuerveranlagung (Bundesfinanzhof - BFH -, Urteile vom 11. April 1990 I R 82/86, BFH/NV 1991, 143; vom 8. April 1965 III 132/61 U, BFHE 82, 352, 355, BStBl III 1965, 376, 377; vom 3. Juli 1964 VI 78/63 S, BFHE 80, 257, BStBl III 1964, 566, beide zu § 218 Abs. 4 der Reichsabgabenordnung - AO -; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 175 AO 1977 Tz. 4). Sie reicht daher zwar grundsätzlich nur so weit, wie es die Bindungswirkung des Grundlagenbescheids verlangt. Das FA muß aber aus dem Erlaß, der Änderung oder Aufhebung eines Grundlagenbescheids alle Folgerungen für die Änderung des Folgebescheids ziehen.

Auf Grund dessen hat die Rechtsprechung eine Anpassung des Folgebescheids nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 auch dann für geboten gehalten, wenn ein unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehender Grundlagenbescheid ersatzlos aufgehoben wurde (BFH-Urteil vom 30. Oktober 1986 IV R 175/84, BFHE 148, 119, BStBl II 1987, 89). In einem solchen Fall hat das FA in eigener Zuständigkeit den nun nicht mehr vom Grundlagenbescheid erfaßten Sachverhalt zu prüfen und das Ergebnis der Änderung des Folgebescheids zugrunde zu legen.

Das gleiche gilt, wenn nur einzelne Besteuerungsgrundlagen aus dem Feststellungsverfahren durch Änderung des Grundlagenbescheids ausgeschieden werden. Auch hier hat das FA den nicht mehr in das Feststellungsverfahren einbezogenen Sachverhalt eigenständig zu ermitteln und zu werten, ohne an frühere Beurteilungen oder Berechnungen gebunden zu sein (BFH-Urteil in BFH/NV 1991, 143, 144).

Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an. Sie dient der Zielsetzung des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977, die vom Grundlagenbescheid ausgehende Bindungswirkung (§ 182 Abs. 1 AO 1977) verfahrensrechtlich zur Geltung zu bringen (dazu BFH-Urteil vom 9. September 1988 III R 253/84, BFH/NV 1989, 138), und trägt der von der Bindungswirkung ausgehenden Kompetenzverteilung im Verwaltungsverfahren Rechnung. Diese Auslegung des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 kann sich, je nach Gestaltung des Einzelfalles, sowohl zugunsten als auch zu Lasten des Steuerpflichtigen auswirken.

Ist ein bestimmter steuerlich relevanter Sachverhalt zunächst Gegenstand eines Feststellungsverfahrens, so ist das für den Folgebescheid zuständige FA durch die Bindung an den Feststellungsbescheid (§ 182 Abs. 1 AO 1977) gehindert, abschließend eigene Ermittlungen vorzunehmen. Erst die Aufhebung des Feststellungsbescheids erlaubt es dem FA, das den Folgebescheid zu erlassen hat, den Sachverhalt selbständig zu ermitteln und steuerrechtlich zu beurteilen (so schon Urteil in BFHE 82, 352, 356), um auf Grund dessen den Folgebescheid entsprechend zu erlassen oder zu ändern.

Nach diesen Grundsätzen hat das FA im Streitfall den Einkommensteuerbescheid 1979 nach Aufhebung des Feststellungsbescheids zutreffend gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 geändert. Die auf einer anderen Rechtsauffassung beruhende Vorentscheidung war deshalb aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Die Klage war abzuweisen.