| Home | Index | EStG | Neuzugang | Impressum  
       

 

 

 

 

 

  BFH-Urteil vom 14.8.1991 (I R 133/90) BStBl. 1992 II S. 88

Das in den Niederlanden an arbeitslos gewordene frühere Staatsbedienstete gezahlte Uitkering ist weder Arbeitslosengeld noch Arbeitslosenhilfe noch eine sonstige Leistung, die i. S. des § 3 Nr. 2 EStG nach dem AFG gezahlt wird. Es handelt sich entweder um nachträgliche steuerpflichtige Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit i. S. des § 19 Abs. 1 Nr. 2 EStG oder um steuerpflichtige sonstige wiederkehrende Bezüge i. S. des § 22 Nr. 1 EStG, die in die Berechnung der 90-v. H.-Grenze des § 2 AGGrenzg NL einzubeziehen sind.

EStG 1984 § 3 Nr. 2, § 19 Abs. 1 Nr. 2, § 22 Nr. 1; AGGrenzg NL § 2.

Vorinstanz: FG Köln (EFG 1990, 563)

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist verheiratet. Im Streitjahr 1984 hatten er und seine Ehefrau ihren einzigen Wohnsitz in V (Niederlande). Der Kläger übte eine nichtselbständige Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) für einen Arbeitgeber aus, der hier ansässig war. Von den Einkünften des Klägers behielt der Arbeitgeber Lohnsteuer nach der Steuerklasse III entsprechend einer dem Kläger gemäß § 39 d des Einkommensteuergesetzes (EStG) ausgestellten Bescheinigung ein. Der Bruttolohn des Klägers betrug 49.989 DM.

Die Ehefrau des Klägers war in der Zeit vom 1. Januar bis zum 11. Juni 1984 im niederländischen Staatsdienst beschäftigt. In dieser Zeit verdiente sie 5.706,88 hfl. Für die Zeit vom 11. Juni bis zum 31. Dezember 1984 erhielt sie eine monatliche Unterstützung (sog. "uitkering") in Höhe von insgesamt 6.070,72 hfl als eine früher im Staatsdienst beschäftigte Person, die unfreiwillig arbeitslos wurde. Rechtsgrundlage für die Zahlung war die Uitkeringsregeling 1966 in der Fassung vom 3. Juli 1982 (Teket van de Uitkeringsregeling 1966, zoals deze regeling is vastgesteld bij Koninklijk besluit van 27. augustus 1966, Stb. 408, en laatstelijk gewijzigd bij Koninklijk besluit van 3. juli 1982, Stb. 467). Danach wird die Unterstützung für alle früher im Staatsdienst beschäftigten Personen vom Innenminister des Königreichs der Niederlande bewilligt und ausgezahlt. Ihre Höhe richtet sich nach dem letzten Verdienst. Für die ersten zwei Monate der Arbeitslosigkeit werden die vollen Bezüge, für die nächsten zwei Monate 90 v. H. der Bezüge und für die sich anschließenden acht Monate 75 v. H. der Bezüge bezahlt. Voraussetzung ist, daß der frühere Staatsbedienstete sich bei seinem örtlichen Arbeitsamt als Arbeitssuchender meldet. Schlägt er eine ihm angebotene Arbeit aus, so verliert er den Anspruch auf die Unterstützungsleistung. Das sog. "uitkering" tritt für früher im Staatsdienst beschäftigte Personen an die Stelle der Arbeitslosenunterstützung, die Arbeitslose in den Niederlanden erhalten, wenn sie früher in der Privatwirtschaft beschäftigt waren. Den Staatsbediensteten wird während ihrer Beschäftigungszeit kein Beitrag zu einer Unterstützungskasse abverlangt.

Der Kläger erklärte diesen Sachverhalt gegenüber dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -). Das FA kam jedoch zu der Auffassung, daß der Kläger die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. § 2 Abs. 2 des Ausführungsgesetzes zum Zusatzprotokoll vom 13. März 1980 zum Abkommen vom 16. Juni 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Gebiete vom 21. Oktober 1980 - AGGrenzg NL - (BGBl I 1980, 1999, BStBl I 1980, 725) nicht erfülle und deshalb die Lohnsteuer nach der Steuerklasse II/2 zu erheben sei (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 AGGrenzg NL). Es erließ am 6. Dezember 1985, zugestellt am 14. Februar 1986, gegenüber dem Kläger einen Nachforderungsbescheid über Lohnsteuer 1984 in Höhe von 1.784 DM.

Der Einspruch blieb erfolglos. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Es vertrat die Auffassung, daß das sog. "uitkering" als eine gemäß § 3 Nr. 2 EStG steuerfreie Einnahme in die Ermittlung der Gesamteinkünfte des Klägers und seiner Ehefrau nicht einzubeziehen sei. Deshalb betrügen die der deutschen Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte der Eheleute mehr als 90 v. H. ihrer Gesamteinkünfte. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1990, 563, veröffentlicht.

Mit seiner vom FG zugelassenen Revision rügt das FA Verfahrensfehler und die Verletzung des § 2 Abs. 1 Satz 1 AGGrenzg NL.

Es beantragt, das Urteil des FG Köln vom 28. Juni 1990 5 K 4509/88 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Die vom FA erhobene Verfahrensrüge greift nicht durch. Dies bedarf keiner weiteren Begründung (Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs - BFHEntlG -).

2. Nach den tatsächlichen Feststellungen des FG, an die der erkennende Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO in Ermangelung durchgreifender Verfahrensrügen gebunden ist, hatte der Kläger im Streitjahr 1984 weder einen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik. Allerdings übte er hier für einen inländischen Arbeitgeber eine nichtselbständige Arbeit aus. Er war deshalb mit den aus dieser Arbeit erzielten Einkünften in der Bundesrepublik beschränkt einkommensteuerpflichtig (§ 1 Abs. 4, § 49 Abs. 1 Nr. 4 EStG). Die auf die Einkünfte entfallende Einkommensteuer war im Wege des Lohnsteuerabzuges (§§ 38 ff. EStG) zu erheben. Da der Kläger einen Wohnsitz in den Niederlanden hatte, waren beim Lohnsteuerabzug die Vorschriften des AGGrenzg NL zu beachten.

3. Gemäß § 4 Satz 1 AGGrenzg NL sind Arbeitnehmer mit Wohnsitz in den Niederlanden, denen in der Bundesrepublik die Steuerklasse III bescheinigt worden ist, verpflichtet, die Änderung der Steuerklasse zu beantragen, wenn die Voraussetzungen des § 2 AGGrenzg NL entfallen sind. Ist in einem solchen Fall zu wenig Lohnsteuer erhoben worden, so ist § 39 a Abs. 6 EStG 1984 sinngemäß anzuwenden.

Bei Ehegatten, die nicht dauernd getrennt leben und von denen wenigstens einer Arbeitnehmer ist, entfallen die Voraussetzungen des § 2 AGGrenzg NL auch dann, wenn sich erst im Lauf des Kalenderjahres herausstellt, daß die Summe der Einkünfte beider Ehegatten zu weniger als 90 v. H. in der Bundesrepublik der Einkommensteuer unterliegt. Insoweit kann es keinen Unterschied machen, ob die entsprechende Beurteilung darauf beruht, daß die Einkünfte sich im Laufe des Kalenderjahres gegenüber den Verhältnissen zu dessen Beginn zum Nachteil des Steuerpflichtigen veränderten oder ob die 90-v. H.-Grenze zu keinem Zeitpunkt während des Kalenderjahres erreicht wurde. Nach § 2 Abs. 1 AGGrenzg NL kann die Einhaltung der 90-v. H.-Grenze immer nur für das ganze Kalenderjahr ermittelt werden. Eine abschließende Beurteilung ist deshalb regelmäßig erst nach dessen Ablauf möglich. Wenn deshalb § 4 Satz 2 AGGrenzg NL uneingeschränkt auf die entsprechende Anwendung des § 39 a Abs. 6 EStG 1984 verweist, so hängt die Anwendung der Vorschrift nicht davon ab, ob das Entfallen der Voraussetzungen des § 2 AGGrenzg NL auf einer nachträglichen Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse im Laufe des Kalenderjahres beruht oder ob eine an sich erwartete nachträgliche Veränderung tatsächlich nicht eingetreten ist. Es genügt, wenn nach Ablauf des Kalenderjahres festgestellt wird, daß die 90-v. H.-Grenze entgegen den der Eintragung der Steuerklasse zugrunde liegenden Angaben des Steuerpflichtigen nicht erreicht wurde. Auch dann sind die Voraussetzungen des § 2 AGGrenzg NL entfallen.

4. Hiervon ausgehend stand dem Kläger für das Streitjahr 1984 die Steuerklasse III nicht zu. Die Summe der Einkünfte 1984 des Klägers und seiner Ehefrau unterlagen nicht mindestens zu 90 v. H. in der Bundesrepublik der Einkommensteuer. Dazu kann dahinstehen, ob das von der Ehefrau des Klägers erzielte "uitkering" nach deutschem Steuerrecht unter die Einnahmen i. S. des § 19 Abs. 1 Nr. 2 EStG oder unter die sonstigen wiederkehrenden Bezüge i. S. des § 22 Nr. 1 EStG zu rechnen wäre. In beiden Fällen muß es in die Ermittlung der Gesamteinkünfte der Eheleute einbezogen werden, weil - entgegen der Auffassung des FG - die Steuerbefreiung nach § 3 Nr. 2 EStG nicht eingreift. Dazu kann wiederum dahinstehen, ob und inwieweit das "uitkering" mit dem Arbeitslosengeld oder der Arbeitslosenhilfe nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) vergleichbar ist. Nach dem klaren Wortlaut der Vorschrift befreit § 3 Nr. 2 EStG nur solche Leistungen von der Einkommensteuer, die auf Grund des AFG gezahlt werden (vgl. v. Beckerath in: Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, § 3 Rdnr. B 2/2). Die Auslegung nach dem Wortlaut der Vorschrift wird durch die Entstehungsgeschichte des § 3 Nr. 2 EStG bestätigt. Dieser wurde stets an einschlägige Änderungen des AFG angepaßt (vgl. v. Beckerath, a. a. O., Rdnrn. A 403, 427, 442). Die Auszahlung des "uitkering" beruhte jedoch nicht auf dem AFG. Schon deshalb ist es nicht gemäß § 3 Nr. 2 EStG von der Einkommensteuer befreit.

5. Handelt es sich aber bei dem "uitkering" um Einkünfte, die steuerpflichtig wären, wenn die Ehefrau des Klägers einen Wohnsitz in der Bundesrepublik hätte und das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Gebiete vom 15. Juni 1959 - DBA-Niederlande - (BGBl II 1960, 1781, BStBl I 1960, 381) keine Anwendung fände, so ist es in die Ermittlung der Gesamteinkünfte 1984 der Eheleute einzubeziehen. Damit betragen die in DM umgerechneten Gesamteinkünfte rd. 57.480 DM. Davon machen die in der Bundesrepublik steuerpflichtigen nur 48.113 DM aus. Dies entspricht knapp 84 v. H.

6. Das FG ist in der Vorentscheidung von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen. Deshalb kann die Vorentscheidung keinen Bestand haben. Die Sache ist entscheidungsreif. Nach § 1 Nr. 3 AGGrenzg NL stand dem Kläger die Steuerklasse III nicht zu, weil er die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 AGGrenzg NL nicht erfüllte. Ihm stand nur gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 AGGrenzg NL die Steuerklasse II zu. Die deshalb zu wenig erhobene Lohnsteuer war vom FA gemäß § 4 Satz 2 AGGrenzg NL i. V. m. § 39 a Abs. 6 EStG 1984 nachzufordern. Dem entspricht der angefochtene Nachforderungsbescheid. Deshalb war die Vorentscheidung aufzuheben. Die Klage war abzuweisen.