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  BFH-Urteil vom 14.8.1991 (X R 86/88) BStBl. 1992 II S. 128

Sind die Steuern im Festsetzungsverfahren geschätzt worden, können sie bei der Anforderung von Hinterziehungszinsen nicht ohne weiteres als verkürzt angesehen werden. Das FA bzw. das FG muß vielmehr von der Steuerverkürzung überzeugt sein. Dabei ist der strafverfahrensrechtliche Grundsatz in dubio pro reo zu beachten.

AO § 144 Abs. 1, § 392; StSäumG § 4 a; AO 1977 § 162, § 169 Abs. 2 Satz 2, § 235, § 370; FGO § 96.

Vorinstanz: FG Berlin

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsklägerin zu 1 (Klägerin zu 1) war die Ehefrau des am 29. Dezember 1977 verstorbenen F, die Klägerin und Revisionsklägerin zu 2 (Klägerin zu 2) dessen Tochter. F wurde beerbt von den beiden Klägerinnen und seinem Sohn; dieser verstarb am 25. Mai 1981 und wurde von der Klägerin zu 2 beerbt. Die Klägerin zu 1 wurde in den Jahren 1970 und 1973 bis 1977 mit F zusammen zur Einkommensteuer veranlagt; für 1971 und 1972 fanden getrennte Veranlagungen statt.

F betrieb einen Einzelhandel und eine Handelsvertretung (Gewinnermittlungen nach § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes - EStG -). Die Klägerin zu 1 gab nach seinem Tode Vermögensteuererklärungen auf den 1. Januar 1972, 1. Januar 1974 und 1. Januar 1977 ab, aus denen sich ergab, daß F und sie Spareinlagen und Wertpapiere in beträchtlichem Umfang besaßen, die ebenso wie die hierauf angefallenen Kapitalerträge nicht erklärt worden waren. Die Klägerin zu 1 gab an, sie habe erst nach dem Tode ihres Ehemanns von den Vermögenswerten und Kapitalerträgen erfahren.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) nahm Hinzuschätzungen bei den Gewinnen, Gewerbeerträgen und Umsätzen 1970 bis 1977 des F vor. Er ermittelte die Hinzuschätzungsbeträge anhand der nacherklärten Vermögenswerte. Vom Vermögenszuwachs wurden zwei ausgezahlte Lebensversicherungssummen und "angesparte Einkommen" abgesetzt. Die Differenzen (ungeklärte Vermögenszuwächse) sah er als zusätzliche Gewinne (Gewerbeerträge, Umsätze) an.

Im einzelnen:

ungeklärter

Vermögens-

zuwachs

abzüglich

abzüglich

= Hinzuschätzung

Vermögens-

Lebens-

angesparte

Gewinn (Gewerbe-

zuwachs

versicherungen

Einkommen

ertrag, Umsatz)

abgerundet

DM

DM

DM

DM

1970

32.228

-

4.000

28.200

1971

10.182

-

4.323

5.800

1972

12.003

14.600

-

-

1973

30.743

-

8.000

22.700

1974

13.466

1975

101.623

-

61.179

13.466

13.466

1976
1977

72.610

27.700

27.942

16.900

Das FA errechnete das "angesparte Einkommen" aus den erklärten Einkünften und den nacherklärten Kapitalerträgen vermindert um Beträge für den Lebensunterhalt. Es erließ Änderungsbescheide für 1970, 1971, 1973 bis 1977 betreffend Einkommensteuer, Umsatzsteuer und Gewerbesteuer, die die o. a. Hinzuschätzungsbeträge als zusätzliche Gewinne, Umsätze und Gewerbeerträge erfaßten. Weiterhin wurden in den Einkommensteuerbescheiden die nacherklärten Kapitalerträge angesetzt. Die Änderungsbescheide betreffend Einkommensteuer 1972 erfaßten lediglich die nacherklärten Kapitalerträge. Ferner ergingen (erstmalige) Vermögensteuerbescheide für 1972 bis 1974, 1976 und 1977, denen die nacherklärten Vermögenswerte zugrunde lagen. Die Einsprüche blieben erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) trennte nach Klageerhebung das Verfahren betreffend Einkommensteuer, Umsatzsteuer und Gewerbesteuer 1970 ab und wies die Klage im übrigen ab (Urteil vom 28. Mai 1984 VIII 87/83). Der Bundesfinanzhof (BFH) hat die Revision der Klägerinnen durch Beschluß vom 14. August 1985 III R 197/84, der gemäß Art. 1 Nr. 7 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) nicht begründet wurde, zurückgewiesen.

Das FA erließ am 12. September 1985 gegen die Klägerinnen Bescheide nach § 235 der Abgabenordnung (AO 1977), mit denen es Hinterziehungszinsen wegen vollendeter Steuerhinterziehung des F von 10.015,50 DM (Einkommensteuer 1970, 1973 bis 1977, Ergänzungsabgabe 1973 und 1974, Gewerbesteuer 1971, 1973, 1974 und 1977, Umsatzsteuer 1971, 1973 bis 1977 und Vermögensteuer 1972 und 1973 - Sammelzinsbescheid -), von 1.289 DM (getrennte Veranlagungen Einkommensteuer 1971 und 1972 für F) und von 160 DM (getrennte Veranlagungen Einkommensteuer 1971 und 1972 für die Klägerin zu 1) anforderte.

Die Einsprüche und die zusammengefaßte Klage der Klägerinnen blieben erfolglos. Das FG führte aus: Nach seiner Überzeugung habe F die nachgeforderten Steuern hinterzogen. Dies sei für die Vermögensteuer augenscheinlich. Aber auch im übrigen bestünden keine Anhaltspunkte, daß die bestandskräftig festgesetzten nachgeforderten Steuern nicht hinterzogen worden seien. Art und Höhe der Hinzuschätzungen ergäben sich aus der zutreffenden gerichtlich bestätigten Schätzung des FA. Die Klägerinnen hätten sich nicht in Beweisnot befunden. Sie hätten vielmehr durch Sichtung der häuslichen Unterlagen und durch weitere - wenn auch kostenpflichtige - Bankauskünfte einen Beitrag zur Sachverhaltsaufklärung leisten können. Der strafprozessuale Grundsatz in dubio pro reo sei nicht anwendbar. Es widerspreche "dem Wesen einer Schätzung, wenn man an sie den gleichen Maßstab in bezug auf den erforderlichen Überzeugungsgrad des Richters anlegen müßte, wie beim Ausspruch der schuldhaften Tatbestandsverwirklichung durch einen Bürger". Der Rechtsanwender müsse "die Schätzung für wahrscheinlich halten", nicht aber "wirklich davon überzeugt sein, daß .... jedes andere Schätzungsergebnis falsch wäre". Anhaltspunkte für Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs- oder Strafbefreiungsgründe in der Person des F seien nicht ersichtlich.

Die Klägerinnen machen mit der Revision geltend: Die Rechtmäßigkeit eines Zinsbescheids nach § 235 AO 1977 setze die Feststellung einer Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 AO 1977 voraus. Sowohl die Steuerverkürzung als auch der auf sie gerichtete Vorsatz müßten nach dem Grundsatz in dubio pro reo festgestellt werden. Der Rechtsanwender müsse entgegen der Auffassung des FG von der Richtigkeit des Schätzungsergebnisses so überzeugt sein, daß eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung in Betracht komme. Es sei zweifelhaft, ob F dem Grunde nach Steuern hinterzogen habe; Zweifel bestünden zumindest hinsichtlich der Höhe der Steuerverkürzungen.

Die Klägerinnen beantragen, die Vorentscheidung, die Zinsbescheide vom 12. September 1985 über Hinterziehungszinsen auf Einkommensteuer 1970 bis 1977, Ergänzungsabgabe 1973 und 1974, Gewerbesteuer 1971, 1973 bis 1975 und 1977, Umsatzsteuer 1971, 1973 bis 1977 sowie Vermögensteuer 1972 und 1973 und die hierzu ergangenen Einspruchsentscheidungen aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Das FG ist nach seiner Sachverhaltsdarstellung (Urteil S. 3) davon ausgegangen, daß lediglich Hinterziehungszinsen wegen Einkommensteuer 1970, 1973 bis 1977, Ergänzungsabgabe 1973 und 1974, Gewerbesteuer 1971, 1973 bis 1975 und 1977, Umsatzsteuer 1971, 1973 bis 1977 und Vermögensteuer 1972 und 1973 streitbefangen sind. Lediglich hierüber hat es entschieden. Die Klägerinnen hatten nach ihrem Klageantrag hingegen auch die Aufhebung der Zinsbescheide wegen Einkommensteuer 1971 und 1972 (getrennte Veranlagungen für F und die Klägerin zu 1) beantragt. Es ist nicht ersichtlich, daß sie ihren Klageantrag eingeschränkt hätten. Soweit mit der Revision in Weiterverfolgung des Klageantrags auch begehrt wird, die Zinsbescheide wegen Einkommensteuer 1971 und 1972 aufzuheben, kann der Senat hierüber sachlich nicht befinden. Das FG wird insoweit noch Stellung nehmen müssen.

2. Hinsichtlich der Hinterziehungszinsen wegen Einkommensteuer 1970 reichen die Feststellungen des FG nicht aus. Das FG hat zur Begründung der Steuerverkürzungen auf sein Urteil in der Steuerfestsetzungssache vom 28. Mai 1984 VIII 87/83 Bezug genommen, dabei jedoch übersehen, daß es schon zuvor das Verfahren wegen Einkommensteuer 1970 abgetrennt hatte. Die Bezugnahme geht sonach ins Leere. Nach Ankündigung des FA sollen die Bescheide für 1970 geändert worden und der angenommene ungeklärte Vermögenszuwachs von 28.200 DM entfallen sein. Das FG wird die erforderlichen Feststellungen nachholen. Sollte sich der vom FA als hinterzogen angenommene Betrag von 1.256 DM Einkommensteuer 1970 auf die nacherklärten Kapitaleinkünfte beziehen, wird das FG entsprechend den folgenden Ausführungen des Senats prüfen, ob es zulässig war, auch die Einkommensteuer, die auf die schätzungsweise Anhebung der Kapitaleinkünfte auf 4.000 DM (von nacherklärten 2.511 DM) entfällt, als hinterzogen anzusehen.

3. Das FG hat die Rechtmäßigkeit der Zinsanforderungen anhand des § 235 AO 1977 beurteilt. Das FA hat den angegriffenen Sammelzinsbescheid, der allein noch sachlich zu überprüfen ist, ursprünglich ebenfalls auf § 235 AO 1977, in der Einspruchsentscheidung jedoch auf § 4 a des Steuersäumnisgesetzes (StSäumG) gestützt. Die Pflicht zur Verzinsung begann nach dem Inhalt des Bescheids in den meisten Fällen vor dem 1. Januar 1977 und endete nach Inkrafttreten der AO 1977; in einigen Fällen begann und endete der Zinslauf nach dem 31. Dezember 1976, hier allerdings teilweise auch Steuern betreffend, die bis zum 31. Dezember 1976 entstanden waren.

Nach Art. 97 § 15 Abs. 1 Satz 1 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) entstehen Zinsen für die Zeit nach dem 31. Dezember 1976 nach den Vorschriften der AO 1977. Für den hier nicht einschlägigen Fall, daß Hinterziehungszinsen nach dem 31. Dezember 1976 für Verzinsungszeiträume festgesetzt werden, die vor dem 1. Januar 1977 endeten, hat der BFH noch § 4 a StSäumG für anwendbar gehalten (BFH-Urteil vom 22. Mai 1984 VIII R 60/79, BFHE 141, 211, 215 f., BStBl II 1984, 697). Der erkennende Senat hat entschieden, daß Hinterziehungszinsen mit Zinslauf nach dem 31. Dezember 1976 gemäß § 235 AO 1977 anzufordern sind, unabhängig davon, ob Veranlagungssteuern für Zeiträume vor oder nach dem Inkrafttreten der AO 1977 betroffen sind (BFH-Urteile vom 19. April 1989 X R 3/86, BFHE 156, 383, 385, BStBl II 1989, 596; X R 17/88, BFH/NV 1990, 140). Für den Fall, daß der Zinslauf vor Inkrafttreten der AO 1977 begann und danach endete, hat der Senat offengelassen, ob § 235 AO 1977 oder noch § 4 a StSäumG oder beide Vorschriften nebeneinander anwendbar sind (BFH-Urteil vom 19. April 1989 X R 19/88, BFH/NV 1990, 73). Auch der Streitfall gibt keinen Anlaß, diese Frage zu entscheiden, da beide Vorschriften zum selben Ergebnis führen. Die Wirksamkeit des Bescheids wird durch die Angabe einer möglicherweise unrichtigen Rechtsgrundlage nicht berührt (BFHE 141, 211, BStBl II 1984, 697). Gleiches gilt für die Einspruchsentscheidung.

4. Nach § 4 a Abs. 1 Satz 1 StSäumG sind, sofern in Fällen des § 392 der Reichsabgabenordnung (AO) Steuerverkürzungen bereits eingetreten sind, die hinterzogenen Beträge zu verzinsen. Nach § 235 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 sind hinterzogene Steuern zu verzinsen. Auch wenn § 235 AO 1977 nicht - entsprechend § 4 a StSäumG - ausdrücklich auf § 370 AO 1977 verweist, der die Strafbarkeit der Steuerhinterziehung anordnet, ist das Begriffsmerkmal "hinterzogene Steuern" anhand der Strafvorschrift zu bestimmen.

Die Rechtslage ist, worauf das FA zu Recht hinweist, vergleichbar mit der verlängerten Festsetzungsverjährung, die eintritt, soweit Steuern hinterzogen worden sind (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977; s. auch § 144 Abs. 1 AO). Nicht gefolgt werden kann dem FA allerdings darin, es sei, soweit die Steuernachforderungen eine verlängerte Verjährung voraussetzten, für die Hinterziehungszinsen nicht mehr zu untersuchen, ob die Steuern hinterzogen worden seien. Es besteht für die Hinterziehungszinsen keine rechtliche Bindung an die Beurteilung der Verjährungsfrage in den Nachforderungsbescheiden. Zwar setzen sowohl Hinterziehungszinsen als auch die verlängerte Verjährung voraus, daß Steuern i. S. des § 392 AO, § 370 AO 1977 hinterzogen worden sind. Indessen ist das FG in einem späteren Verfahren an die früher getroffene Feststellung, daß Steuerhinterziehung vorliegt, nicht gebunden.

Wegen Steuerhinterziehung macht sich strafbar, wer den Finanzbehörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht und dadurch Steuern verkürzt (§ 392 Abs. 1 AO, § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977). FA und FG haben angenommen, daß F diesen Tatbestand hinsichtlich der in dem Sammelzinsbescheid genannten Steuerbeträge erfüllt und vorsätzlich (§ 15 des Strafgesetzbuches - StGB -) gehandelt hat. Soweit es um Steuerbeträge geht, die die Klägerin zu 1 schuldet, ist eine Steuerhinterziehung des F zugunsten der Klägerin zu 1 angenommen worden. Die Klägerin zu 1 wird insoweit als Zinsschuldnerin für eine zu ihrem Vorteil begangene Steuerhinterziehung in Anspruch genommen (§ 235 Abs. 1 Satz 2 AO 1977). Unerheblich ist, daß die Klägerin zu 1, wie der Zinsbescheid voraussetzt, nicht selbst an der Steuerhinterziehung mitgewirkt hat (BFH-Urteil vom 11. Mai 1982 VII R 97/81, BFHE 136, 182, BStBl II 1982, 689).

5. Ist die Rechtmäßigkeit eines Bescheids davon abhängig, daß eine Steuerhinterziehung begangen wurde, so muß, wie das FG zu Recht angenommen hat, diese Voraussetzung grundsätzlich nicht nach den Vorschriften der Strafprozeßordnung (StPO), sondern nach den Vorschriften der AO und der FGO geprüft werden (BFH-Beschluß vom 5. März 1979 GrS 5/77, BFHE 127, 140, 145, BStBl II 1979, 570, unter C I 2 a). Hieraus folgt, daß der Tod des F, der seiner strafprozessualen Verfolgung entgegensteht, die Festsetzung von Hinterziehungszinsen nicht hindert (ebenso für die verlängerte Verjährung Urteil des Reichsfinanzhofs - RFH - vom 14. Juni 1934 III A 152/34, RStBl 1934, 918; BFH-Urteil vom 2. Dezember 1977 III R 117/75, BFHE 124, 302, 305, BStBl II 1978, 359; s. auch FG München, Urteil vom 22. Februar 1988 XIII 30/86 E, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1988, 545; a. A. Streck/Rainer, Steuer und Wirtschaft - StuW - 1979, 267).

Entgegen der Auffassung des FG ist indessen auch im Besteuerungs- und Finanzgerichtsverfahren der strafverfahrensrechtliche Grundsatz in dubio pro reo zu beachten (BFH-Urteile vom 9. April 1964 II 7/61 S, BFHE 79, 241, BStBl III 1964, 318; vom 10. Oktober 1972 VII R 117/69, BFHE 107, 168, BStBl II 1973, 68; vom 16. Januar 1973 VIII R 52/69, BFHE 108, 286, 289, BStBl II 1973, 273). Der Große Senat des BFH hat diese Rechtsprechung unberührt gelassen, allerdings darauf hingewiesen, dies bedeute keine Übernahme von Grundsätzen des Strafverfahrensrechts, sondern lasse sich auch daraus ableiten, daß die Finanzbehörde (der Steuergläubiger) im finanzgerichtlichen Verfahren die objektive Beweislast (Feststellungslast) für steueranspruchsbegründende Tatsachen trägt (BFHE 127, 140, 146, BStBl II 1979, 570, unter C II 1). Der III. Senat des BFH hat der Äußerung des Großen Senats entnommen, daß die Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung nach wie vor unter Beachtung des Grundsatzes in dubio pro reo zu prüfen sind; Grundlage der Prüfung seien jedoch nicht die Vorschriften der StPO, sondern diejenigen der AO 1977 und der FGO; es sei kein höherer Grad von Gewißheit erforderlich als für die Feststellung anderer Tatsachen, für die das FA die Feststellungslast trage (Urteil vom 21. Oktober 1988 III R 194/84, BFHE 155, 232, 237, BStBl II 1989, 216).

Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an und bemerkt ergänzend:

Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die Verweisung im 2. Halbsatz dieser Vorschrift auf § 162 AO 1977 - insbesondere auf dessen Abs. 2 Satz 1 - bedeutet, daß das Gericht die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen hat, wenn der Steuerpflichtige seinen abgabenrechtlichen Mitwirkungspflichten nicht nachkommt. Eine Verletzung der Mitwirkungspflichten führt insofern nicht nur zu einer Begrenzung der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO), sondern auch zu einer Minderung des in § 96 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz FGO vorgesehenen Beweismaßes. Der Grad der grundsätzlich erforderlichen Gewißheit ("Überzeugung") reduziert sich in der Weise, daß der Sachverhalt aufgrund von Wahrscheinlichkeitserwägungen festgestellt werden darf (BFH-Urteil vom 15. Februar 1989 X R 16/86, BFHE 156, 38, BStBl II 1989, 462). Dies bedeutet, daß sich das Gericht über etwa gegebene Zweifel in tatsächlicher Hinsicht hinwegsetzen kann. Stellt das Gericht den Sachverhalt mittels reduzierten Beweismaßes fest, bedarf es keiner Anwendung der Regeln über die Verteilung der Feststellungslast (Beweislast).

Aus dieser neueren Sicht über das Verhältnis von Beweismaß und Beweislast ist die Aussage des Großen Senats des BFH zum Grundsatz in dubio pro reo in der Weise zu verstehen, daß bei nicht behebbaren Zweifeln hinsichtlich einer Tatfrage die Feststellung eines Sachverhalts mittels reduzierten Beweismaßes - mithin im Schätzungswege - nicht zulässig ist. Hängt daher wie im Streitfall die Rechtmäßigkeit eines Bescheides davon ab, daß eine Steuerhinterziehung vorliegt, kann das Gericht eine Straftat nur feststellen, wenn es von ihrem Vorliegen überzeugt ist.

Ebensowenig wie der Strafrichter einem wegen Steuerhinterziehung Angeklagten zur Last legen kann, daß er eine Mitwirkung unterläßt, ist dem Steuerpflichtigen im finanzgerichtlichen Verfahren bei der Beurteilung einer Steuerhinterziehung anzulasten, daß er nicht mitwirkt. Danach ist ausschließlich § 96 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz FGO anwendbar, der, der Sache nach mit § 261 StPO übereinstimmend, regelt, daß das FG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden hat.

6. Die Vorentscheidung hat den Sammelzinsbescheid zu Recht unbeanstandet gelassen, soweit als hinterzogen Vermögensteuer auf die nacherklärten Spareinlagen und Wertpapiere und Einkommensteuer auf die nacherklärten Kapitalerträge angesehen worden sind. Die Überzeugung des FG, daß F die Vermögenswerte und Kapitalerträge dem FA bewußt verschwiegen hat, ist ohne Rechtsfehler zustande gekommen. Eine im Geschäftsleben stehende Person wie F weiß, daß derartige Werte und Erträge der Vermögen- und Einkommensteuer unterliegen. Fehlt es insoweit an Zweifeln in tatsächlicher Hinsicht, ist der Grundsatz in dubio pro reo nicht berührt.

Nicht zu folgen ist dem FG, soweit es auch die Einkommensteuer, Gewerbesteuer und Umsatzsteuer auf Betriebseinnahmen (Gewinne, Gewerbeerträge und Umsätze 1971, 1973 bis 1977) als hinterzogen angesehen hat, die in die nacherklärten Vermögenswerte überführt worden sein sollen. Zwar ist mit FA und FG anzunehmen, daß die genannten Vermögenswerte, soweit sie ungeklärt geblieben sind, aus den beiden Gewerbebetrieben des F stammen. Nur diese eröffnen die Möglichkeit einer Einkünftemanipulation. Offen ist jedoch, ob die Steuerforderungen, wenn sie auch unter Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkten gerechtfertigt waren, in voller Höhe als verkürzt anzusehen sind.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) ist der Strafrichter bei einer Verurteilung wegen Steuerhinterziehung an eine finanzamtliche Schätzung der Höhe nach in keiner Weise gebunden; soweit er tatsächliche Zweifel nicht überwinden kann, ist zugunsten des Angeklagten zu entscheiden (BGH-Entscheidungen vom 11. Dezember 1952 3 StR 69/52, BGHSt 3, 377; vom 28. November 1957 4 StR 180/57, Zeitschrift für Zölle + Verbrauchsteuern - ZfZ - 1958, 145; vom 18. April 1978 5 StR 692/77, Umsatzsteuer-Rundschau - UR - 1978, 151; vom 10. September 1985 4 StR 487/85, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, § 370, Abgabenordnung, Rechtsspruch 85; s. auch Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 15. Oktober 1990 2 BvR 385/87, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1991, 45, 46). Diese Rechtsprechung, die auf dem Grundsatz in dubio pro reo beruht, ist steuerrechtlich zu übernehmen. Im Streitfall läßt sich nicht ausschließen, daß die Steuerforderungen, die die Gewerbebetriebe betreffen, teilweise auf Wahrscheinlichkeitserwägungen beruhen und insoweit die Anforderung von Hinterziehungszinsen nicht gerechtfertigt ist.

Gesicherte Ausgangsgrößen der Schätzung sind die festgestellten Vermögenszuwächse (anhand der nacherklärten Vermögenswerte). Für 1972 ist von einer Hinzuschätzung abgesehen worden, weil eine Lebensversicherungssumme von 14.600 DM den Vermögenszuwachs von 12.003 DM übersteigt. Zugunsten der Klägerinnen wird zu erwägen sein, ob die Lebensversicherungssumme und andere zur Verfügung stehende Mittel nicht nur den Vermögenszuwachs 1972 erklären, sondern darüber hinaus noch im Folgejahr wirksam geworden sind. Nicht in allen Punkten zu überzeugen vermag bei Beachtung des Grundsatzes in dubio pro reo auch die Berechnung der "angesparten Einkommen" für die Jahre 1971 und 1973 bis 1977. Das FG hat diese Position, die maßgeblich für die Ermittlung des ungeklärten Vermögenszuwachses ist, pauschal als zutreffend bezeichnet. Die Erläuterungen in den Schätzungsbescheiden weisen jedoch Unzulänglichkeiten und Widersprüche auf.

Die Schätzung des FA stellt sich trotz ihres vom gängigen Ermittlungsschema abweichenden Aufbaus als Gesamtgeldverkehrsrechnung dar (dazu Urteil des erkennenden Senats vom 8. November 1989 X R 178/87, BFHE 159, 20, BStBl II 1990, 268, mit Nachweisen). Der für die Streitjahre 1971, 1973 und 1977 einzeln und für die Streitjahre 1974 bis 1976 zusammengefaßt angesetzte "Vermögenszuwachs" gibt den Anstieg im Bestand der Spareinlagen und Wertpapiere in Geld an. Die Lebensversicherungssummen 1972 und 1977 sind wie verfügbare Mittel erfaßt worden. Schließlich lassen sich auch die "angesparten Einkommen" in Geldbewegungen auflösen (verfügbare Mittel aus erklärten Einkünften und nacherklärten Kapitalerträgen, Unterhaltsaufwendungen). Nur wenn dies widerspruchsfrei möglich ist und die Vollständigkeit aller relevanten Geldbewegungen gewährleistet ist, kann die Schätzung zur Überzeugung des FG eine Steuerverkürzung nachweisen.

Das FG wird sich die Schätzung des FA im Zusammenhang darstellen und ggf. erläutern lassen. Die Gesamtgeldverkehrsrechnung ist in der bisher dargestellten Form schwer durchschaubar (vgl. BFHE 159, 20, 27, BStBl II 1990, 268). Sollte das FA diesen Mangel nicht beheben können, werden bei der Bemessung der Steuerverkürzungen Folgerungen zu seinen Ungunsten zu ziehen sein. Das FG wird sein Augenmerk auch auf die erklärten Gewinne (Verluste) aus den beiden Gewerbebetrieben und auf das Gehalt der Klägerin zu 1 richten, die als verfügbare Mittel behandelt worden sind. Das FG hat, soweit ersichtlich, die Gewinne (Verluste) in der erklärten Höhe angesetzt. Das ist im Grundsatz richtig, weil die Gewinne (Verluste) durch Einnahmeüberschußrechnung gemäß § 4 Abs. 3 EStG ermittelt worden sind. Es muß jedoch berücksichtigt werden, daß die Einnahmeüberschußrechnung in einigen Punkten von der hier anzuwendenden Geldrechnung abweicht, z. B. bei der Anschaffung von abnutzbarem Anlagevermögen und bei der Geltendmachung von Absetzungen für Abnutzung und Sonderabschreibungen (hier nach § 14 des Berlinförderungsgesetzes). Weiter hat das FA die Bruttogehälter der Klägerin zu 1 als verfügbare Mittel angesetzt; zugeflossen sind ihr aber lediglich die Nettogehälter. Schließlich wird auch dem Vorbringen der Klägerinnen nachzugehen sein, daß die Klägerin zu 2 im Haushalt ihrer Eltern gelebt und einen Haushaltsbeitrag geleistet hat.