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  BFH-Urteil vom 18.12.1991 (II R 6/89) BStBl. 1992 II S. 279

Zu den Voraussetzungen, unter denen die Einwirkung von Straßenverkehrslärm auf ein Wohngrundstück zu einer Ermäßigung des Einheitswerts führen kann.

BewG 1965 § 82 Abs. 1 Nr. 1.

Vorinstanz: FG Köln

Sachverhalt

I.

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eigentümer des Grundstücks X-Straße in J, auf dem sie in den Jahren 1984 und 1985 ein Wohngebäude errichteten. Mit dem angefochtenen Bescheid führte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) eine Wert- und Artfortschreibung auf den 1. Januar 1986 durch. Dabei stellte er die Grundstücksart "Zweifamilienhaus" und den Einheitswert im Ertragswertverfahren auf 95.700 DM fest. Die übliche Miete (Jahresrohmiete) schätzte das FA anhand seines Mietspiegels für freifinanzierte Wohnungen in sog. Ortslagen mit 3,60 DM/qm. Nach erfolglosem Einspruch machten die Kläger mit ihrer Klage geltend, der Einheitswert sei zu hoch festgestellt worden. Die übliche Miete habe lediglich mit 3,30 DM/qm angesetzt werden dürfen. Ihr Grundstück sei einer erhöhten Lärmbelästigung ausgesetzt. Die Lärmimmissionen würden zum einen durch den Verkehr auf der westlich ihres Grundstücks gelegenen Bundesautobahn (BAB) verursacht. Trotz des Lärmschutzwalls trage der überwiegend aus Westen kommende Wind ganz erheblichen Verkehrslärm herüber. Zum zweiten werde die X-Straße - obwohl als Wohnstraße gewidmet - auch von Verkehrsteilnehmern benutzt, die mit ihren Fahrzeugen in das östlich der BAB gelegene Industriegebiet führen. Weiterer Lärm gehe von einem nahegelegenen Taxiunternehmen aus.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und setzte den Einheitswert auf 88.800 DM herab.

Mit der dagegen gerichteten Revision rügt das FA die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des FA führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Die vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen nicht aus, um die von ihm vorgenommene Herabsetzung des Einheitswerts zu rechtfertigen.

1. Zutreffend sind das FG und die Beteiligten davon ausgegangen, daß der Einheitswert des Zweifamilienhauses der Kläger im Ertragswertverfahren (§§ 78 bis 82 des Bewertungsgesetzes - BewG -) zu ermitteln ist (vgl. § 76 Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 3 Nr. 1 BewG).

2. Nach § 82 Abs. 1 BewG ist der durch die Anwendung des Vervielfältigers auf die Jahresrohmiete sich ergebende Grundstückswert zu ermäßigen, wenn wertmindernde Umstände vorliegen, die weder in der Höhe der Jahresrohmiete noch in der Höhe des Vervielfältigers berücksichtigt worden sind. Als solche wertmindernden Umstände kommen gemäß § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG u. a. ungewöhnlich starke Beeinträchtigungen durch Lärm in Betracht.

a) Bei den hier in Rede stehenden Straßenverkehrslärm-Immissionen kann eine "ungewöhnlich starke Beeinträchtigung" i. S. des § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG nur in seltenen - extrem gelagerten - Ausnahmefällen vorliegen. Denn bei der Beurteilung der Frage, welche Verkehrslärmeinwirkungen noch als "übliche", "gewöhnliche" und welche bereits als "ungewöhnlich starke" Beeinträchtigungen anzusehen sind, darf nicht der Umstand außer acht gelassen werden, daß die stetig zunehmende Motorisierung und der damit einhergehende Neu- und Ausbau von Straßen nahezu allerorten, besonders aber in Großstädten und Ballungsräumen, bereits am Hauptfeststellungszeitpunkt (1. Januar 1964) zu einer erheblichen Zunahme des Straßenverkehrslärms geführt hatten und dieser Lärm - abgesehen von bestimmten Extrembelastungen - von der Bevölkerung weitgehend als "gewöhnlich" und "üblich" empfunden und hingenommen wird (vgl. auch Gürsching/Stenger, Kommentar zum Bewertungsgesetz und Vermögensteuergesetz, 8. Aufl., § 82 BewG, Rdnr. 3). Ein Abschlag vom Grundstückswert ist nur dann gerechtfertigt, wenn die bestimmungsgemäße ortsübliche Nutzung in erheblichem Maße beeinträchtigt wird. Bei einem Wohngrundstück bedeutet dies, daß die Bewohner gezwungen sind, ihre Lebensgewohnheiten bezüglich der Nutzung des Grundstücks in einer Weise einzuschränken, die bei einer üblichen Benutzung des Grundstücks in seiner konkreten Beschaffenheit nicht mehr hingenommen würde (vgl. Senatsurteil vom 12. Dezember 1990 II R 97/87, BFHE 163, 229, 231, BStBl II 1991, 196, 197, unter 1., betr. die von einer Mülldeponie ausgehenden Schadstoffemissionen). Der gewöhnliche - übliche -, wenn auch mitunter starke Verkehrslärm vermag dagegen einen Abschlag vom Grundstückswert nicht zu rechtfertigen (vgl. auch Rössler/Troll, Bewertungsgesetz und Vermögensteuergesetz, Kommentar, 15. Aufl., § 82 BewG, Rdnr. 15, m. w. N.; Gürsching/Stenger, a. a. O., § 82 BewG, Rdnr. 3, m. w. N.). Dementsprechend hat der Bundesfinanzhof (BFH) die Einwirkung des Straßenverkehrslärms auf ein in einer Großstadt gelegenes Wohngrundstück, die sich innerhalb der üblichen Schwankungsbreite des Straßenverkehrslärms in Großstädten bewegte, nicht als "ungewöhnlich starke" Lärmimmission i. S. des § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG angesehen (BFH-Urteil vom 23. September 1977 III R 42/75, BFHE 123, 364, BStBl II 1978, 5).

Hat die Straßenbaubehörde bei Errichtung des Verkehrsweges oder nachträglich (z. B. in Erfüllung ihrer Verpflichtung nach § 41 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes - BImSchG -) Schallschutzmaßnahmen getroffen (z. B. Lärmschutzwälle errichtet), so spricht dies als gewichtiges Indiz dafür, daß die von der betreffenden Straße ausgehenden Verkehrslärmemissionen nicht zu einer "ungewöhnlich starken Beeinträchtigung" der in der Umgebung gelegenen Grundstücke führen. Der Steuerpflichtige kann diese Vermutung freilich dadurch entkräften, daß er in substantiierter Form darlegt, welche konkreten außergewöhnlichen Umstände trotz der vorhandenen Schallschutzeinrichtungen den Schluß auf eine ungewöhnlich starke Lärmbeeinträchtigung nahelegen.

aa) Ein Abschlag wegen ungewöhnlich starker Verkehrslärmbeeinträchtigung scheidet von vornherein dann aus, wenn dieser wertmindernde Umstand bereits in der Höhe der Jahresrohmiete berücksichtigt ist (§ 82 Abs. 1 Satz 1 BewG). Das kann zum einen der Fall sein, wenn - was hier nicht in Betracht kommt - die konkrete Lärmquelle und das betroffene Wohnhaus bereits am Hauptfeststellungszeitpunkt (1. Januar 1964) vorhanden waren und das Grundstück an diesem Stichtag vermietet war. Von einem solchen Sachverhalt ist zum anderen aber auch dann auszugehen, wenn am Hauptfeststellungszeitpunkt zwar noch nicht die konkrete Lärmquelle (hier: BAB), wohl aber vergleichbare - ähnliche - Emissionsquellen (hier: ähnlich frequentierte - überregionale - Verkehrswege) existierten, die auf eine größere Zahl von vermieteten Grundstücken einwirkten und daher die im Streitfall maßgebliche Spiegelmiete beeinflußt haben.

bb) Scheidet ein Abschlag nicht schon nach den unter aa) dargelegten Grundsätzen aus, so kommt es auf die Frage an, ob der Verkehrslärm eine ungewöhnliche Stärke i. S. von § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG erreicht. Ob dies zutrifft, läßt sich nicht abstrakt, d. h. losgelöst von den konkreten örtlichen Verhältnissen und von der spezifischen Nutzungsart des betroffenen Grundstücks, beantworten (vgl. auch Rössler/Troll, a. a. O., § 82 BewG, Rdnr. 7). Absolute - starre und schematische - Regeln lassen sich nicht aufstellen. So können auch die durch § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BImSchG i. V. m. § 2 Abs. 1 der Verkehrslärmschutzverordnung (16. BImSchV, BGBl I 1990, 1036) festgelegten Immissionsgrenzwerte für Verkehrsgeräusche angesichts der von § 82 Abs. 1 BewG einerseits und den §§ 38 ff. BImSchG andererseits verfolgten unterschiedlichen Zwecke für die Bewertung nicht übernommen werden. Die dort statuierten Grenzwerte bieten jedoch insoweit eine Orientierungshilfe, als bei ihrem Unterschreiten ein Abschlag nach § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG wegen Verkehrslärmbeeinträchtigung von vornherein ausscheidet. Werden die dort bezeichneten Immissionsgrenzwerte hingegen in beträchtlichem Umfang überschritten, so kann ein Abschlag wegen ungewöhnlich starkem Verkehrslärm in Betracht kommen.

Zusätzliche Voraussetzung ist jedoch, daß die auf das betroffene Grundstück einwirkenden Immissionen den gegendüblichen - gewöhnlichen - Straßenverkehrslärm in erheblichem Umfang übertreffen. Als "Gegend" in diesem Sinne ist der örtliche Bereich zu verstehen, den das FA in seinem in dem betroffenen Fall einschlägigen Mietspiegel zusammengefaßt hat (im Streitfall also die sog. Ortslage). Hält sich daher der Straßenverkehrslärm innerhalb der üblichen Schwankungsbreite dieses örtlichen Bereichs, so kann von einer "ungewöhnlich starken Beeinträchtigung" i. S. des § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG nicht die Rede sein (vgl. auch schon BFH-Urteil in BFHE 123, 364, BStBl II 1978, 5). Ein Abschlag wegen ungewöhnlich starker Verkehrslärmbeeinträchtigung wird demzufolge im allgemeinen nur bei einzelnen, besonders intensiven Lärmbelastungen ausgesetzten Grundstücken bzw. bei einer kleinen - überschaubaren - Gruppe extrem belasteter Grundstücke in Betracht kommen. Werden demgegenüber ganze Stadt- oder Ortsteile mit annähernd gleicher Intensität in Mitleidenschaft gezogen, so spricht dies für die Gegendüblichkeit der Lärmimmissionen.

b) Unter Beachtung der unter 2.a) dargelegten Grundsätze wird das FG den strittigen Sachverhalt einer erneuten tatsächlichen und rechtlichen Überprüfung unterziehen müssen. Es wird dabei insbesondere seine bislang nur unvollständig getroffenen tatsächlichen Feststellungen zu ergänzen haben. Angesichts der Tatsache, daß das FA die von den Klägern behaupteten ungewöhnlich starken Lärmbeeinträchtigungen substantiiert bestritten hatte, durfte das FG den dahingehenden - offenbar allein auf subjektiven Empfindungen und nicht auf objektiven Lärmmessungen beruhenden - Sachvortrag der Kläger nicht ohne weitere Ermittlungen - "vom grünen Tisch aus" - als zutreffend unterstellen.

aa) Das FG wird vorab prüfen müssen, welche besonderen Umstände des Falles trotz der vorhandenen Schallschutzeinrichtungen den Schluß zulassen, daß eine ungewöhnlich starke Lärmbeeinträchtigung in Betracht kommt (vgl. dazu schon unter 2.a, letzter Absatz vor aa).

bb) Liegen solche besonderen Umstände vor, wird das FG des weiteren untersuchen müssen, ob sich der streitige wertmindernde Umstand nicht bereits in der Höhe der angesetzten Jahresrohmiete (üblichen Miete) niedergeschlagen hat (vgl. dazu unter 2.a aa).

cc) Ist dies zu verneinen, wird das FG anhand verläßlicher objektiver Kriterien zu beurteilen haben, ob die Verkehrslärmbeeinträchtigung des klägerischen Grundstücks trotz der beim Autobahnbau getroffenen Lärmschutzvorkehrungen die in § 2 Abs. 1 16. BImSchV festgelegten Immissionsgrenzwerte in beträchtlichem Umfang übersteigt. Es wird dabei behördliche Auskünfte (z. B. beim zuständigen Landschaftsverband, TÜV etc.) über evtl. früher - zeitnah zum 1. Januar 1986 - durchgeführte Lärmmessungen einholen und ggf. einen Sachverständigen mit der Vornahme von Lärmmessungen unter Rückrechnung auf den 1. Januar 1986 beauftragen müssen. Zur Beurteilung des Verkehrslärmpegels bietet sich das in der Anlage 1 zu § 3 16. BImSchV vorgesehene Verfahren an. Schließlich wird sich das FG unter Umständen selbst - durch Augenscheinseinnahme - ein Bild über die örtlichen Verhältnisse (Lage des streitbefangenen Grundstücks, genaue Entfernung zur Autobahn, topographische Verhältnisse usw.) verschaffen müssen.

dd) Sollten diese Feststellungen ergeben, daß die in § 2 Abs. 1 16. BImSchV festgelegten Immissionsgrenzwerte zum 1. Januar 1986 erheblich überschritten wurden, wird das FG des weiteren - wiederum vorrangig anhand objektiver Kriterien - ermitteln müssen, ob die konkrete Verkehrslärmbeeinträchtigung des Grundstücks der Kläger den gegendüblichen - gewöhnlichen - Straßenverkehrslärm ebenfalls in erheblichem Maße übertrifft.

ee) Maßgebend für die Feststellung und Beurteilung sowohl der auf das Grundstück der Kläger einwirkenden Lärmimmissionen als auch der gegendüblichen Verkehrslärmbelastungen sind die konkreten tatsächlichen Verhältnisse am streitigen Stichtag (1. Januar 1986). Zwischenzeitlich eingetretene Veränderungen dieser tatsächlichen Verhältnisse (z. B. bedingt durch den Neu- und Ausbau sowie die Umwidmung von Verkehrswegen oder die Schaffung neuer Lärmschutzeinrichtungen) dürfen nicht berücksichtigt werden. Entsprechendes gilt auch für die nach dem streitigen Feststellungszeitpunkt und schon davor - nach dem Hauptfeststellungszeitpunkt - eingetretenen Veränderungen der allgemeinen Verkehrsverhältnisse (z. B. verursacht durch die Steigerung des allgemeinen Verkehrsaufkommens), welche - ebenso wie die allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse - zu den Wertverhältnissen i. S. des § 27 BewG rechnen, die das allgemeine Markt- und Preisniveau bestimmen (vgl. auch Rössler/Troll, a. a. O., § 82 BewG, Rdnrn. 22 und 30).

ff) Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die von dem nahegelegenen Taxiunternehmen ausgehenden Geräusche einen Abschlag nach § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG nicht rechtfertigen können.

gg) Die Höhe des ggf. zu gewährenden Abschlags vom Grundstückswert richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Intensität der ungewöhnlich starken Beeinträchtigung. In aller Regel darf die Ermäßigung nicht über 5 v. H. des Grundstückswerts hinausgehen (vgl. Gürsching/Stenger, a. a. O., § 82 BewG, Rdnr. 5.1., m. w. N.).

3. Die Kostenentscheidung wird gemäß § 143 Abs. 2 FGO dem FG übertragen.

4. Der Senat entscheidet durch Urteil, weil sich die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt haben (§§ 121, 90 Abs. 2 FGO).