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  BFH-Beschluß vom 7.2.1992 (III B 24, 25/91) BStBl. 1992 II S. 408

Eine Aussetzung des Klageverfahrens nach § 74 FGO kann geboten sein, wenn vor dem BVerfG bereits ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, den FG zahlreiche Parallelverfahren (Massenverfahren) vorliegen und keiner der Beteiligten des Klageverfahrens ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat.

FGO §§ 74 und 98.

Vorinstanz: FG Nürnberg

Sachverhalt

Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) erhoben wegen der Einkommensteuer für die Jahre 1981 bis 1983 und wegen der Einkommensteuer für das Jahr 1987 nach erfolglosen Vorverfahren Klagen mit der Begründung, daß die Regelungen des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der jeweils geltenden Fassung über die Grundfreibeträge und über die Kinderfreibeträge und für 1981 bis 1983 auch die Regelung über den Vorwegabzug von Vorsorgeaufwendungen bei den Sonderausgaben verfassungswidrig seien.

Nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Beschluß vom 12. Juli 1990 1 BvL 72/86 (BStBl II 1990, 664) entschieden hatte, daß die einkommensteuerrechtliche Regelung über die Kinderfreibeträge für die Jahre 1983 bis 1985 verfassungswidrig ist, setzte das Finanzgericht (FG) sowohl das Klageverfahren wegen der Einkommensteuer 1981 bis 1983 als auch das Klageverfahren wegen der Einkommensteuer 1987 aus, "bis Klarheit über die zu erwartenden gesetzlichen Neuregelungen besteht". Zur Begründung führte das FG aus: Der Beschluß des BVerfG betreffe zwar nur die Kinderfreibeträge für die Jahre 1983 bis 1985. Gleichwohl werde aber aus dem Beschluß des BVerfG gefolgert, daß das völlige Fehlen von Kinderfreibeträgen für die Streitjahre 1981 und 1982 und auch die Kinderfreibeträge ab 1986 verfassungswidrig seien. Ebenso seien hinsichtlich der Höhe der Grundfreibeträge aufgrund des Beschlusses des BVerfG mehrere Verfassungsbeschwerden anhängig. Es müsse daher abgewartet werden, welche Folgerungen der Gesetzgeber aus dem Beschluß des BVerfG ziehe.

Gegen die Aussetzungsbeschlüsse des FG richten sich die Beschwerden der Kläger, denen das FG nicht abgeholfen hat. Die Kläger machen geltend, es sei zu befürchten, daß der Gesetzgeber aus der Entscheidung des BVerfG in BStBl II 1990, 664 keinerlei Folgerungen für die steuerliche Entlastung der Familien für die Streitjahre 1981 und 1982 sowie für 1987 ziehe. Es sei auch nicht absehbar, wann das BVerfG über die Verfassungsbeschwerden wegen der Grundfreibeträge der Jahre 1986 bis 1988 entscheide. Die weitere Fortsetzung der Klageverfahren sei daher zweckdienlich, da nur auf diesem Wege die Dringlichkeit der anstehenden Probleme sowohl dem BVerfG als auch der Bundesregierung klargemacht werden könnte.

Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) hält die Beschwerden für unbegründet.

Entscheidungsgründe

Der Senat hält es für zweckmäßig, die beiden Beschwerden III B 24/91 und III B 25/91 zur gemeinsamen Entscheidung zu verbinden (§ 73 der Finanzgerichtsordnung -FGO -).

Die Beschwerden sind unbegründet. Das FG hat die von den Klägern angestrengten Klageverfahren wegen der Einkommensteuer 1981 bis 1983 und 1987 im Ergebnis zu Recht ausgesetzt.

1. Nach § 74 FGO kann das FG das Verfahren u. a. aussetzen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet. Diese Voraussetzungen sind in den Streitfällen gegeben.

a) Das FG Münster hat in einem Vorlagebeschluß an das BVerfG vom 1. Februar 1991 16 K 936/90 E (Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1991, 253) die Auffassung vertreten, daß der jeweilige Grundfreibetrag nach § 32 a Abs. 1 EStG für die Veranlagungszeiträume 1978 bis 1984 mit dem Grundgesetz (GG) nicht vereinbar sei. Die in dem Streitfall wegen der Einkommensteuer 1981 bis 1982 u. a. aufgeworfene Frage der Verfassungsmäßigkeit der Grundfreibeträge ist deshalb in einem anderen Rechtsstreit beim BVerfG anhängig.

Die Entscheidung des Einkommensteuer-Streitfalles 1981 bis 1983 hängt auch von der Entscheidung des BVerfG in diesem anderen Rechtsstreit ab. Ausreichend für die Abhängigkeit ist, daß der andere Rechtsstreit irgendeinen Einfluß auf das auszusetzende Verfahren hat (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 74 Rdnr. 2, m. w. N.). Die Entscheidung des BVerfG über den Vorlagebeschluß des FG Münster hat nach § 31 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) Gesetzeskraft und ist daher in besonderem Maße für alle Gerichte bindend.

Entgegen der Auffassung der Kläger besteht diese Abhängigkeit nicht nur isoliert hinsichtlich der Grundfreibeträge. Denn das FG könnte nicht vorab zunächst nur über die für 1981 bis 1983 ebenfalls streitigen Fragen der Verfassungsmäßigkeit des Vorwegabzugs von Vorsorgeaufwendungen, des Fehlens von Kinderfreibeträgen für 1981 und 1982 oder der (durch das BVerfG bereits geklärten) Höhe des Kinderfreibetrages für 1983 entscheiden. Hinsichtlich des Fehlens von Kinderfreibeträgen in den Veranlagungszeiträumen 1981 und 1982 ist nach Auffassung des erkennenden Senats ohnehin keine Prüfung durch die Finanzgerichtsbarkeit möglich. Nach der Rechtsprechung des BVerfG steht es dem Gesetzgeber frei, die kindesbedingte Minderung der Leistungsfähigkeit entweder im Steuerrecht zu berücksichtigen oder ihr statt dessen im Sozialrecht durch die Gewährung eines dafür ausreichenden Kindergeldes Rechnung zu tragen oder auch eine Entlastung im Steuerrecht und eine solche im Sozialrecht miteinander zu kombinieren (vgl. Beschluß des BVerfG vom 29. Mai 1990 1 BvL 20/84, 26/84 u. 4/86, BStBl II 1990, 653, m. w. N.). Aufgrund der Einführung eines einheitlichen Familienlastenausgleichs in Form der Kindergeldgewährung durch das Einkommensteuerreformgesetz (EStRG) 1974 hat der Gesetzgeber bis einschließlich dem Veranlagungszeitraum 1982 eindeutig eine ausschließlich sozialrechtliche Regelung getroffen (vgl. Entscheidung des BVerfG vom 23. November 1976 1 BvR 150/75, BVerfGE 43, 108 ff., BStBl II 1977, 135). Eine verfassungsrechtliche Unzulänglichkeit des Familienlastenausgleichs bis zum Veranlagungszeitraum 1982 kann daher nur im sozialgerichtlichen Verfahren geltend gemacht werden.

Unabhängig davon kann ein Teilurteil nach § 98 FGO nur ergehen, wenn der Streitgegenstand teilbar ist. Bei einem Einkommensteuerbescheid läßt sich der Streitgegenstand wegen des Progressionstarifs und der einkommensabhängigen Freibeträge aber in der Regel nicht in größenmäßig bestimmte Teile zerlegen (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 98 FGO Rdnr. 2). Die Entscheidung des Streitfalles wegen der Einkommensteuer 1981 bis 1983 ist demnach insgesamt von der Entscheidung des BVerfG über den Vorlagebeschluß des FG Münster in EFG 1991, 253 abhängig.

b) Wegen der Einkommensteuer 1987 ist sowohl die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages als auch die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Kinderfreibetrages bereits in mehreren anderen Verfahren beim BVerfG anhängig.

Das Niedersächsische FG hat mit Vorlagebeschluß vom 15. Januar 1991 IX 427 u. 437/90 (EFG 1991, 260) die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Grundfreibeträge 1986 und 1988 beim BVerfG eingeleitet. Außerdem ist das Urteil des erkennenden Senats vom 8. Juni 1990 III R 14-16/90 (BFHE 161, 109, BStBl II 1990, 969), wonach die Grundfreibeträge für die Jahre 1986 bis 1988 verfassungsgemäß sind, durch Verfassungsbeschwerde angefochten worden. Ferner liegt dem BVerfG zumindest eine Verfassungsbeschwerde gegen die Kürzung des Kindergeldes auf den Sockelbetrag durch § 10 Abs. 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) in den Jahren 1986 und 1987 vor. Nach der Entscheidung des BVerfG in BStBl II 1990, 653 kann der für verfassungswidrig erachtete Familienlastenausgleich, der sich wie für 1987 aus einem Zusammenwirken von Kindergeldgewährung und steuerlicher Kinderfreibetragsregelung ergibt und bei dem sich deshalb der etwa bestehende Mangel durch eine Nachbesserung bei der einen oder anderen Regelung beheben ließe, grundsätzlich anhand jeder der betroffenen Normen zur Prüfung gestellt werden. Mit der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 10 Abs. 2 BKGG für die Jahre 1986 und 1987 steht also zugleich die Prüfung der Kinderfreibetragsregelung für das Streitjahr 1987 durch das BVerfG an.

Schließlich hat das FG des Saarlandes mit Beschluß vom 19. März 1991 1 K 84/91 (EFG 1991, 330) dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob der Grundfreibetrag und die Kinderfreibeträge für das Jahr 1991 verfassungsgemäß sind. Der Grundfreibetrag und die Kinderfreibeträge für 1991 sind wesentlich höher als für das Streitjahr 1987. Würde das BVerfG den Grundfreibetrag und die Kinderfreibeträge für 1991 für verfassungswidrig erklären, müßte auch dies daher zwangsläufig Auswirkungen auf diese Beträge für das Streitjahr 1987 haben. Der Streitfall wegen der Einkommensteuer 1987 ist daher von der Entscheidung des BVerfG in mehreren Parallelverfahren abhängig.

2. Der erkennende Senat hat allerdings wiederholt entschieden, daß ein laufender Musterprozeß kein berechtigter Grund für die Aussetzung eines Klageverfahrens ist (vgl. Beschluß vom 7. Oktober 1977 III B 8/77, Der Steuerberater - StB - 1979, 38; Urteil vom 8. Juni 1990 III R 41/90, BFHE 161, 1, BStBl II 1990, 944; vgl. Beschluß des VI. Senats des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 21. August 1986 VI B 91/85, BFH/NV 1987, 43). Diese Entscheidungen betreffen jedoch nur Musterprozesse vor dem BFH. In den Streitfällen sind dagegen bereits Musterverfahren vor dem BVerfG anhängig.

In Fällen, in denen wegen der gleichen Rechtsfrage beim BVerfG eine Verfassungsbeschwerde anhängig ist, hält der I. Senat des BFH unter bestimmten Voraussetzungen eine Aussetzung des Klageverfahrens für geboten (Beschluß vom 8. Mai 1991 I B 132, 134/90, BFHE 164, 194, BStBl II 1991, 641). Neben prozeßökonomischen Gründen läßt er sich dabei davon leiten, daß die Entscheidung des BVerfG in den Musterverfahren mit Gesetzeskraft für die Fachgerichte bindend und daher in besonderem Maße für Parallelverfahren vor den Fachgerichten vorgreiflich ist. Der erkennende Senat folgt grundsätzlich dieser Erwägung.

a) Offen kann bleiben, ob diese Erwägung zu einer unmittelbaren oder nur zu einer entsprechenden Anwendung des § 74 FGO führt. Gegen eine unmittelbare Anwendung spricht, daß es nach dem Wortlaut des § 74 FGO nicht ausreicht, wenn das (Steuer-)Rechtsverhältnis, um das es vor dem FG geht, von dem Ausgang eines anderen Rechtsstreits abhängt. Die Entscheidung des FG muß vielmehr von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängen, das vor einem anderen Gericht streitig ist. Die vor dem BVerfG streitige (allgemeine) Gültigkeit einer gesetzlichen Bestimmung ist aber kein Rechtsverhältnis (vgl. BFH-Beschluß vom 23. Januar 1974 II B 68/73, BFHE 111, 232, BStBl II 1974, 247, m. w. N.). § 74 FGO ist jedoch zumindest entsprechend anzuwenden.

b) Anerkannt ist, daß über den Wortlaut des § 74 FGO hinaus ein Verfahren dann auszusetzen ist, wenn das BVerfG dem Gesetzgeber wegen Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem GG eine gesetzliche Neuregelung aufgegeben hat. In diesen Fällen muß das Fachgericht abwarten, bis der Gesetzgeber die verfassungswidrige Regelung durch eine verfassungsgemäße ersetzt (vgl. Gräber/Koch, a. a. O., Vor § 74 Rdnr. 7, m. w. N.).

Angesichts dieser Pflicht kann ein Abwarten des FG sowohl im Interesse des Steuerpflichtigen als auch im Interesse der Prozeßökonomie schon vorher geboten sein, wenn das Gericht ein beim BVerfG anhängiges Verfahren über die Verfassungsmäßigkeit einer anzuwendenden Norm nicht für offensichtlich aussichtslos hält, sondern mit der Möglichkeit rechnet, daß das BVerfG die Norm als mit dem GG unvereinbar erachtet. Zwar ist dem FG dann eine eigene Entscheidung nicht verwehrt. Bei Vorliegen einer Vielzahl von Parallelfällen bei den FG würden solche eigenen Entscheidungen aber bedeuten, daß die gleiche Rechtsfrage in einer Vielzahl von konkreten Normenkontrollverfahren oder Verfassungsbeschwerden immer wieder an das BVerfG herangetragen würde. Für die verfahrensbeteiligten Steuerpflichtigen wäre dadurch nichts gewonnen, da ihr Steuerrechtsstreit weiterhin bis zur Entscheidung des BVerfG über die bereits dort anhängigen Verfahren in der Schwebe bliebe. Sie würden möglicherweise nur unnötig mit zusätzlichen Kostenrisiken belastet. Unter solchen Umständen entspricht es dem Zweck des § 74 FGO, dem BVerfG als demjenigen Gericht die Vorwegentscheidung zu überlassen, das allein verbindlich über die umstrittene Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung entscheiden kann.

3. Ausgehend von diesen Erwägungen hält der erkennende Senat jedenfalls unter folgenden Einschränkungen eine Aussetzung von Klageverfahren für berechtigt und auch für geboten, falls das FG nicht stillschweigend die Entscheidung des BVerfG abwartet.

a) Das anhängige Verfahren vor dem BVerfG muß unmittelbar die Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Regelung und nicht nur den Vorwurf der verfassungswidrigen Anwendung einer an sich verfassungsgemäßen Norm durch die Gerichte betreffen (vgl. BFH-Beschluß vom 9. Oktober 1991 II B 56/91, BFHE 165, 185, BStBl II 1991, 930). Nur dann hat die Entscheidung des BVerfG die Wirkung des § 31 Abs. 2 BVerfGG.

Diese Voraussetzung ist in den Streitfällen gegeben, wie oben unter 1. dargelegt worden ist.

b) Bei dem oder den Verfahren vor dem BVerfG muß es sich um einen oder mehrere echte Musterprozesse handeln. Dieselbe Vorschrift, deren Verfassungsmäßigkeit vor dem BVerfG in Streit ist, muß für die Entscheidung in dem Klageverfahren maßgebend sein, das ausgesetzt werden soll. Dabei darf es nicht um immer wieder andere Sachverhalte gehen, sondern die Fälle müssen hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Streitfrage im wesentlichen gleichgelagert sein (vgl. BFH-Beschluß in BFHE 165, 185, BStBl II 1991, 930).

Auch davon ist in den vorliegenden Streitfällen auszugehen.

c) Bei den FG muß eine Vielzahl gleichartiger Fälle anhängig sein (Massenverfahren). Das ist hier ebenfalls der Fall.

d) Das Musterverfahren vor dem BVerfG darf nach Auffassung des FG nicht offensichtlich aussichtslos sein (vgl. BFH-Beschluß in BFHE 164, 194, BStBl II 1991, 641).

Aus der für die Überprüfung seines Aussetzungsbeschlusses maßgebenden jetzigen Sicht konnte das FG in den Streitfällen zu Recht davon ausgehen, daß die Vorlageverfahren aufgrund der Beschlüsse des FG Münster in EFG 1991, 253, des Niedersächsischen FG in EFG 1991, 260 und des FG des Saarlandes in EFG 1991, 330 sowie die Verfassungsbeschwerden wegen der Grundfreibeträge für die Jahre 1986 bis 1988 und wegen der Kürzung des Kindergeldes auf den Sockelbetrag für die Jahre 1986 und 1987 nicht als offensichtlich aussichtslos erscheinen. Der erkennende Senat hat zwar mit Urteil in BFHE 161, 109, BStBl II 1990, 969 entschieden, daß die Grundfreibeträge für die Jahre 1986 bis 1988 verfassungsgemäß seien. In seinem Beschluß vom 9. Oktober 1991 III B 51, 74, 81/91 (BFHE 165, 415, BStBl II 1992, 91) hat der Senat bei Einkommensverhältnissen wie in den Streitfällen auch ernste verfassungsrechtliche Bedenken an den Grundfreibeträgen für die Jahre 1978 bis 1983 verneint. Dennoch besitzen die dagegen in der Verfassungsbeschwerde und in den genannten Vorlagebeschlüssen geltend gemachten Bedenken nicht so wenig Gewicht, daß den Verfahren vor dem BVerfG von vornherein eine Erfolgsaussicht abzusprechen wäre. Zu der vom BVerfG noch nicht geklärten Verfassungsmäßigkeit der Kinderfreibeträge für das Streitjahr 1987 liegt ohnehin noch keine Entscheidung des BFH vor.

e) Schließlich sieht der Senat eine weitere Voraussetzung für die Aussetzung des Klageverfahrens wegen eines anhängigen Musterprozesses vor dem BVerfG darin, daß keiner der Beteiligten ein berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG bereits anhängigen Verfahrens hat. Ein solches berechtigtes Interesse kann z. B. gegeben sein, wenn ein Kläger beim BVerfG zusätzlich neue Gesichtspunkte vortragen will. Ferner kann z. B. ein berechtigtes Interesse eines Beteiligten gegen die Aussetzung eines Klageverfahrens sprechen, wenn bei einer etwaigen Bejahung der Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen Norm durch das FG erstmals eine Entscheidung des BFH als dem zuständigen obersten Bundesgericht über die Streitfrage herbeigeführt werden soll.

Diese Erwägungen für ein berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG trotz der anhängigen Musterverfahren vor dem BVerfG scheiden in den Streitfällen aus. Der BFH hat über die Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages für die Jahre 1986 bis 1988 mit Urteil in BFHE 161, 109, BStBl II 1990, 969 bereits entschieden. Mit dem Beschluß vom 9. Oktober 1991 III B 51, 74, 81/91 hat der Senat deutlich gemacht, daß er die Rechtslage für die in den Streitfällen ferner umstrittenen Grundfreibeträge für 1981 bis 1983 nicht anders sieht. Im übrigen sind beim BFH bereits eine Reihe von weiteren Verfahren anhängig, in denen die Grundfreibeträge wie auch die Kinderfreibeträge für mehrere Veranlagungszeiträume umstritten sind. Das Herantragen der Streitfälle der Kläger an den BFH könnte daher keine zusätzliche Klärung herbeiführen.

Sonstige Gesichtspunkte für ein der Aussetzung der Verfahren entgegenstehendes berechtigtes Interesse der Kläger sind nicht ersichtlich. Der Vortrag der Kläger, die Fortsetzung der Prozesse sei zweckdienlich, um dem BVerfG und der Bundesregierung die Dringlichkeit der anstehenden Probleme klarzumachen, vermag kein solches berechtigtes Interesse zu begründen.

4. Der Senat weicht mit dieser Entscheidung nicht von Entscheidungen anderer Senate des BFH ab. Wie oben unter 2. bereits ausgeführt, betrifft die Entscheidung des VI. Senats des BFH in BFH/NV 1987, 43 kein Musterverfahren vor dem BVerfG. Zu solchen Verfahren hat der II. Senat des BFH in seinem Beschluß in BFHE 111, 232, BStBl II 1974, 247 die vorherige Rechtsprechung des BFH zusammengefaßt. Danach ist die Gültigkeit oder Ungültigkeit eines Gesetzes zwar kein Rechtsverhältnis i. S. von § 74 FGO. Besondere, außerhalb dieser Vorschrift liegende Gründe können aber in sinngemäßer Anwendung des § 74 FGO die Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung eines beim BVerfG anhängigen Musterverfahrens rechtfertigen. Solche besonderen Gründe sieht der erkennende Senat bei Vorliegen der oben unter 3. beschriebenen Voraussetzungen als gegeben an. Sie liegen in der Verhinderung der unnötigen Überschwemmung des BVerfG und auch des BFH mit einer Vielzahl gleichgelagerter Verfahren.