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  BFH-Urteil vom 18.12.1991 (X R 38/90) BStBl. 1992 II S. 504

1. Im Rahmen des § 177 AO 1977 sind Rechtsfehler auch dann zu berichtigen, wenn sie wegen Eintritts der Verjährung nicht mehr zu einer Aufhebung oder Änderung des Steuerbescheids nach den §§ 172 ff. AO 1977 führen könnten.

2. Eine Berichtigung nach § 177 AO 1977 kann nach den Grundsätzen von Treu und Glauben ausgeschlossen sein.

AO §§ 144 ff.; AO 1977 § 175 Abs. 1 Nr. 1, § 177 Abs. 2; EGAO 1977 Art. 97 §§ 9 und 10; FGO § 126 Abs. 3 Nr. 2, § 127.

Vorinstanz: Niedersächsisches FG

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute, die im Streitjahr 1972 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Sie waren Kommanditisten der KG I, die in diesem Jahr einen Betrag in Höhe von 40.000 DM an die Staatsbürgerliche Vereinigung e. V. (SV) gezahlt und hierüber eine Spendenbescheinigung erhalten hatte, die im Rahmen der einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellung der KG I vorgelegt worden war. Darin ist auf die Anerkennung der SV als steuerbegünstigte juristische Person i. S. des § 49 Abs. 1 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV) i. d. F. vom 5. August 1959 (BGBl I 1959, 625) durch die Zweite Verordnung über den Abzug von Spenden zur Förderung staatspolitischer Zwecke vom 23. Oktober 1956 (Zweite Spendenverordnung, BStBl I 1956, 457) verwiesen. Außerdem enthält die Bescheinigung die Bestätigung der SV, daß sie die ihr zugewendeten Beträge und ihre übrigen Mittel nur für staatspolitische Zwecke, nicht aber für die unmittelbare oder mittelbare Unterstützung oder Förderung politischer Parteien verwende.

Am 12. März 1975 hatten die Kläger beim damals zuständigen FA I ihre Einkommensteuererklärung für 1972 abgegeben und darin den auf sie entfallenden Anteil an der Zuwendung, 36.000 DM, als Spende für staatspolitische Zwecke zum Sonderausgabenabzug geltend gemacht. Diesem Begehren hatte das FA I mit Zusammenveranlagungsbescheid vom 17. November 1975 entsprochen. Dieser zunächst unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangene (am 15. Januar 1980 und am 10. November 1981 aus nicht im Streit befindlichen Gründen geänderte) Bescheid ist bestandskräftig geworden. Aufgrund späterer Ermittlungen der Steuerfahndungsstelle in A gelangte das FA I zu der Erkenntnis, daß die SV die ihr zugeflossenen Spenden nach Abzug von Verwaltungskosten unter Verstoß gegen ihre Satzung an politische Parteien weitergeleitet hatte. Es erließ daher am 9. Juli 1984 einen Änderungsbescheid, in dem es die Spenden der Kläger an die SV nicht mehr berücksichtigte. Der Einspruch der Kläger blieb erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) hob den Änderungsbescheid auf. Es führte aus, ein bestandskräftiger Steuerbescheid dürfe nur nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) geändert werden, wenn die Steuer noch nicht verjährt sei. Bei Erlaß des Änderungsbescheids sei die reguläre Verjährungsfrist von fünf Jahren bereits abgelaufen gewesen. Eine Verjährungsfrist von zehn Jahren könne nur zugrunde gelegt werden, wenn die Verantwortlichen der SV als mittelbare Täter einer Steuerhinterziehung zu beurteilen seien. Dies brauche im Streitfall jedoch nicht entschieden zu werden, weil einer Änderung des Einkommensteuerbescheids 1972 jedenfalls die Grundsätze von Treu und Glauben entgegenstünden. Wenn der Spender aufgrund eines besonderen Verhaltens der Finanzbehörden habe annehmen dürfen, daß alle Voraussetzungen für die Abziehbarkeit einer Spende vorgelegen hätten, dürfe ein bestandskräftiger Einkommensteuerbescheid nicht nachträglich geändert werden. Die Kläger hätten auf die Richtigkeit der Spendenbescheinigung vertraut und darauf auch vertrauen dürfen, weil die SV durch die Zweite Spendenverordnung als juristische Person i. S. des § 49 EStDV anerkannt worden sei.

Mit der Revision rügte das FA I Verletzung materiellen Rechts. Zunächst brachte es vor, nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) lasse sich weder aus der Spendenbescheinigung noch aus der Zweiten Spendenverordnung ein Vertrauensschutz für die Kläger herleiten. Erforderlich sei ein konkretes Rechtsverhältnis. Ob ein solches hier zwischen Spender und Finanzbehörde bestanden und diese darin vertrauensbildende Umstände zu dessen Gunsten geschaffen habe, hätte das FG prüfen müssen.

Das FA I beantragte, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

In einem späteren Schriftsatz teilte das FA I mit, in dem angefochtenen Einkommensteuerbescheid sei ein Verlust in Höhe von 71.520 DM aus der Beteiligung des Klägers an einer Vermögensanlagegesellschaft (KG II) berücksichtigt worden. Das für die KG II zuständige Betriebs-Finanzamt habe durch Bescheid vom 16. November 1989 für den Kläger einen Anteil am Verlust der KG II in Höhe von 151.185 DM gesondert und einheitlich festgestellt. Das inzwischen für die Einkommensbesteuerung der Kläger zuständige FA II habe daher den angefochtenen Einkommensteuerbescheid 1972 am 27. März 1990 nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 geändert. Die Spende an die SV sei in dem Änderungsbescheid nach wie vor nicht berücksichtigt worden. Ferner führte das FA I aus, der BFH habe inzwischen entschieden, daß die Verantwortlichen der SV in den Fällen, in denen Steuerpflichtige in gutem Glauben an die SV geleistete Spenden als Sonderausgaben geltend gemacht hätten, nicht mittelbare Täter einer Steuerhinterziehung seien. Im Streitfall habe daher die reguläre Verjährungsfrist gegolten, so daß der Änderungsbescheid vom 9. Juli 1984 nicht hätte ergehen dürfen. Die Nichtberücksichtigung der Spende an die SV im Änderungsbescheid vom 27. März 1990 sei jedoch im Hinblick auf § 177 Abs. 2 AO 1977 gerechtfertigt.

Die Kläger haben den Änderungsbescheid des FA II gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Verfahrens gemacht. Sie beantragen, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Das FA II, das mit dem Antrag der Kläger nach § 68 FGO zum Beteiligten des Revisionsverfahrens geworden ist, verweist für sein Vorbringen auf die bisherigen Schriftsätze des FA I.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO i. V. m. § 127 FGO zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

Nach dieser Regelung kann der BFH das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverweisen, wenn während des Revisionsverfahrens ein neuer oder geänderter Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens geworden ist (§§ 68, 123 Satz 2 FGO). Das ist hier geschehen.

Zu einer eigenständigen Entscheidung ist der Senat außerstande, weil die Sache nicht spruchreif ist (vgl. dazu Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., 1987, Anm. zu § 127): Inwieweit dem angefochtenen Korrekturbescheid mit seinem nunmehr maßgeblichen Regelungsgehalt die Grundsätze von Treu und Glauben entgegenstanden, läßt sich aufgrund der vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen (§ 118 Abs. 2 FGO) nicht beurteilen. Die vom FG angestellten rechtlichen Erwägungen jedenfalls tragen das Ergebnis nicht.

1. Ob und in welchem Umfang die bestandskräftige Veranlagung der Kläger zur Einkommensteuer 1972 noch geändert werden durfte, richtet sich nach den ab 1. Januar 1977 geltenden Vorschriften des neuen Abgabenrechts (§ 415 Abs. 1 AO 1977; Art. 97 § 9 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO 1977 - vom 14. Dezember 1976, BGBl I 1976, 3341, BStBl I 1976, 694). Inwieweit Verjährung eingetreten war, bestimmt sich gemäß Art. 97 § 10 EGAO 1977 nach den §§ 143 ff. der Reichsabgabenordnung (AO) i. d. F. des Änderungsgesetzes vom 15. September 1965 (BGBl I 1965, 1356, BStBl I 1965, 643).

2. Über die Berechtigung zum Spendenabzug wird, wovon bisher auch alle Beteiligten ausgehen, verbindlich nicht im Grundlagen-, sondern im Folgebescheid entschieden (vgl. BFH-Urteil vom 8. August 1990 X R 149/88, BFHE 162, 251, BStBl II 1991, 70). Aus § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 ergab sich daher im Streitfall kein Hinderungsgrund, im Einkommensteuerbescheid die Folgerungen daraus zu ziehen, daß die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Spendenabzug nach § 10 b Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) tatsächlich nicht vorlagen (vgl. BFH-Urteil vom 7. November 1990 X R 143/88, BFHE 163, 329, BStBl II 1991, 325). Offen ist nur, inwieweit dem die Korrekturregelungen der §§ 172 ff. AO 1977 aus anderen Gründen entgegenstehen.

3. Die Steuerfestsetzung gemäß dem Änderungsbescheid vom 27. März 1990, der im Revisionsverfahren Gegenstand des Verfahrens wurde, ist rechtmäßig.

a) Maßgeblich ist der Ausspruch (Verfügungssatz, Tenor) dieses Steuerverwaltungsakts (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 118 AO 1977 Tz. 28, § 40 FGO Tz. 11 und § 100 FGO Tz. 3), nicht die hierzu oder zum ursprünglich angefochtenen Bescheid vom 9. Juli 1984 gegebenen Begründungen. Entscheidend ist somit allein, inwieweit sich die Steuerfestsetzung vom 27. März 1990 nunmehr im Ergebnis als richtig erweist (Tipke/Kruse, a. a. O., § 65 FGO Tz. 3 und § 100 FGO Tz. 3 ff., m. w. N.).

b) Das richtet sich infolge der durch den Änderungsbescheid vom 27. März 1990 geschaffenen Rechtslage nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 und § 177 Abs. 2 AO 1977.

Im Rahmen der durch den Grundlagenbescheid vom 16. November 1989 gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 i. V. m. § 182 Abs. 1 AO 1977 ausgelösten Verpflichtung, den Einkommensteuerbescheid vom 9. Juli 1984 zu ändern, hatte das FA II zuungunsten wie zugunsten des Steuerpflichtigen auch solche Rechtsfehler zu berichtigen, die - wie hier der unzutreffende Spendenabzug - nicht Anlaß dieser (Folge-)Änderung waren. Rechtsfehlerhaft i. S. des § 177 AO 1977 ist ein Bescheid nicht nur, wenn geltendes Recht unrichtig angewendet wurde, sondern auch dann, wenn der Steuerfestsetzung ein Sachverhalt zugrunde gelegt worden ist, der sich als unrichtig erweist (BFH-Urteil vom 5. August 1986 IX R 13/81, BFHE 148, 394, BStBl II 1987, 297, m. w. N.).

Diese Berichtigungsvorschrift gilt, soweit der darin vorausgesetzte Aufhebungs- oder Änderungstatbestand reicht, unabhängig davon, inwieweit (nach altem oder neuem Abgabenrecht) Verjährung eingetreten ist. Dies folgt zum einen daraus, daß nur der Steueranspruch selbst ganz oder teilweise verjähren kann, nicht aber eine Besteuerungsgrundlage. Zum anderen hat dies seinen Grund darin, daß § 177 AO 1977 sowohl in Absatz 1 als auch in Absatz 2 für die hierdurch eröffnete Kompensationsmöglichkeit allein darauf abstellt, daß einerseits die Voraussetzungen für die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids (einschließlich derjenigen des § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 bzw. entsprechender Vorgängervorschriften) vorliegen und andererseits ein Rechtsfehler gegeben ist. Soweit danach eine Saldierungslage besteht, muß berichtigt werden, ohne daß es weiterer zusätzlicher Voraussetzungen bedarf. Das gilt auch für solche Rechtsfehler, die ihrerseits eine Korrekturmöglichkeit nach den §§ 172 ff. AO 1977 wegen Eintritts der Verjährung nicht mehr eröffnen könnten. Soweit es - wie im Rahmen des § 177 AO 1977 - allein um die Begrenzung von Korrekturen geht, hat der Gesetzgeber dem Grundsatz der Rechtsrichtigkeit erkennbar Vorrang vor dem der Rechtssicherheit eingeräumt.

4. Begrenzt sein kann diese Kompensationspflicht allerdings durch die auch im Regelungsbereich des § 177 AO 1977 geltenden Grundsätze von Treu und Glauben.

Hierzu sind im zweiten Rechtsgang weitere tatsächliche Feststellungen deshalb erforderlich, weil weder die von der SV ausgestellte Spendenquittung noch die Zweite Spendenverordnung eine schützenswerte Vertrauensposition für die Kläger haben schaffen können. Die nämlich kann, was das FG nicht beachtet hat, nur innerhalb einer konkreten Rechtsbeziehung aufgebaut werden (vgl. die BFH-Urteile vom 9. August 1989 I R 181/85, BFHE 158, 31, BStBl II 1989, 990, und in BFHE 163, 329, BStBl II 1991, 325). Im Streitfall würde das ein entsprechend bestimmtes, dem FA I (und infolgedessen auch seinem Rechtsnachfolger, dem FA II) zurechenbares Verhalten der Finanzverwaltung voraussetzen: So etwa, daß eine vorgesetzte Dienststelle (Ministerium, Oberfinanzdirektion) oder einzelne weisungsbefugte Personen (Minister, leitende Beamte) Kenntnis von der tatsächlichen Spendenpraxis gehabt und pflichtwidrig nicht dafür gesorgt haben sollten, daß dieses Wissen an das FA I und an die Kläger gelangte (wegen der Anforderungen, die in diesem Zusammenhang an die Steuerschuldner und die für sie Handelnden zu stellen sind, vgl. BFH in BFHE 163, 329, BStBl II 1991, 325).