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  BFH-Beschluß vom 27.3.1992 (III B 547/90) BStBl. 1992 II S. 842

1. Im Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde wirft bei der derzeitigen Gesetzeslage die bloße Behauptung des Beschwerdeführers, der im Einkommensteuertarif berücksichtigte Grundfreibetrag sei verfassungsrechtlich zu niedrig, keine so offenkundige Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung auf, daß von der näheren Darlegung dieser grundsätzlichen Bedeutung abgesehen werden könnte.

2. Die bloße Darlegung, das FG habe eine Entscheidung des BVerfG über die Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm und eine deshalb erforderliche gesetzliche Neuregelung nicht beachtet, reicht für die Geltendmachung eines Verfahrensfehlers nicht aus. Wenn die Beteiligten im Klageverfahren nicht selbst auf die Entscheidung des BVerfG hingewiesen haben und die betreffende Rechtsnorm während des Klageverfahrens selbst zu keiner Zeit im Streit war, ist eine substantiierte Darlegung erforderlich, warum sich dem FG die Beachtung der Entscheidung des BVerfG aufdrängen mußte.

 

FGO §§ 74, 115 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1.

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg

Sachverhalt

Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wurden im Streitjahr (1985) als Eheleute zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Nach erfolglosem Vorverfahren erhoben sie Klage, weil der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) bei der Einkommensteuerveranlagung für das Streitjahr ein Mietverhältnis zwischen dem Kläger und der Klägerin über die Vermietung von Räumen zu gewerblichen Zwecken steuerlich nicht anerkannt hatte. Die Klage blieb erfolglos. Das Urteil des Finanzgerichts (FG) erging auf Grund mündlicher Verhandlung vom 11. September 1990. Das FG ließ die Revision nicht zu.

Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger. Die Kläger machen geltend, das FG habe in dem angegriffenen Urteil den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 12. Juni 1990 1 BvL 72/86 (BStBl II 1990, 664) nicht beachtet, wonach die Regelung des Einkommensteuergesetzes (EStG) über die Kinderfreibeträge u. a. für das Streitjahr verfassungswidrig ist. Aus diesem Beschluß des BVerfG werde nach Pressemitteilungen außerdem gefolgert, daß die Höhe des Grundfreibetrages für das Streitjahr ebenfalls nicht verfassungsgemäß sei. Dieser Auffassung schlössen sie - die Kläger - sich an. Das Vorbringen weiterer Gründe für die Zulassung der Revision bleibe vorbehalten.

Nach Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde erklärte das FA den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr zunächst durch Bescheid vom 25. März 1991 hinsichtlich des den Klägern zustehenden Kinderfreibetrages und dann auf Einspruch gegen diesen Bescheid durch weiteren Bescheid vom 18. Juni 1991 auch hinsichtlich des Grundfreibetrages für vorläufig. Die Kläger machten daraufhin den Änderungsbescheid vom 18. Juni 1991 durch Schriftsatz vom 14. August 1991 gemäß §§ 68 und 121 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Verfahrens.

In diesem Schriftsatz erklärten die Kläger die Nichtzulassungsbeschwerde "insoweit für erledigt", als es um die Verfassungsmäßigkeit des Kinderfreibetrages und des Grundfreibetrages geht. Unter Berufung auf den in ihrer Beschwerdeschrift erklärten Vorbehalt des Vorbringens weiterer Beschwerdegründe verwiesen sie außerdem auf "die im Beschwerdeverfahren wegen Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg IX K 47/89 vom 7. August 1990 (Aktenzeichen des Bundesfinanzhofs: X B 228/90) mit klägerischem Schriftsatz vom 23. Oktober 1990 geltend gemachten Gründe außerhalb der §§ 32 und 32 a Einkommensteuergesetz." Diese Gründe würden in vollem Umfang auch in das vorliegende Verfahren eingebracht.

Die Kläger beantragen, die Revision zuzulassen.

Das FA beantragt, die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen.

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist unzulässig.

1. Die Zulässigkeit der Beschwerde beurteilt sich allein nach den innerhalb der Beschwerdefrist geltend gemachten Gründen für die Zulassung der Revision. Nach § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO müssen die Gründe für die Zulassung der Revision nämlich innerhalb der Beschwerdefrist des § 115 Abs. 3 Satz 1 FGO dargelegt werden (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 115 Rdnr. 55, m. w. N.). Mit Gründen, die erst nach Ablauf der Beschwerdefrist geltend gemacht werden, kann ein Beschwerdeführer nicht mehr gehört werden. Solche Gründe dürfen daher bei der Prüfung der Zulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde nicht berücksichtigt werden (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 115 FGO Rdnrn. 83 und 87, m. w. N.).

Im Streitfall haben die Kläger den Hauptstreitpunkt aus dem Klageverfahren, nämlich die steuerliche Anerkennung des Mietverhältnisses zwischen ihnen, erst mit Schriftsatz vom 14. August 1991 durch Verweisung auf das beim Bundesfinanzhof (BFH) anhängige Verfahren X B 228/90 in das Verfahren über die vorliegende Nichtzulassungsbeschwerde einbezogen. Die Beschwerdefrist war zu diesem Zeitpunkt bereits seit langer Zeit abgelaufen.

An dem verspäteten Vorbringen dieses Hauptstreitpunktes kann auch die Tatsache nichts ändern, daß sich die Kläger in der innerhalb der Beschwerdefrist eingereichten Beschwerdeschrift das Vorbringen weiterer Beschwerdegründe vorbehalten haben. Die Beschwerdefrist des § 115 Abs. 3 Satz 1 FGO, in der die Gründe für die Zulassung der Revision darzulegen sind, ist nicht verlängerbar (Gräber/Ruban, a. a. O., § 115 Rdnr. 52, m. w. N.). Eine Verlängerung kann daher nicht dadurch erreicht werden, daß sich ein Beschwerdeführer innerhalb der Frist das Vorbringen von Beschwerdegründen außerhalb der Frist vorbehält.

Da die Frage der steuerlichen Anerkennung des Mietverhältnisses zwischen den Klägern für die Zulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde unbeachtlich ist, kann der Senat offenlassen, ob die Kläger mit ihrer Verweisung auf die Beschwerdeschrift in dem unter dem Az. X B 228/90 beim BFH anhängigen Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren einen Zulassungsgrund ordnungsgemäß dargelegt haben oder ob nähere Ausführungen im vorliegenden Verfahren selbst erforderlich gewesen wären.

2. Innerhalb der Beschwerdefrist haben die Kläger ihren Antrag auf Zulassung der Revision nur auf die Nichtbeachtung der Entscheidung des BVerfG in BStBl II 1990, 664 hinsichtlich des Kinderfreibetrages und auf die behauptete Verfassungswidrigkeit des Grundfreibetrages gestützt. Bei der auf diese Punkte zu beschränkenden Prüfung erweist sich die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig.

a) Es kann dahingestellt bleiben, ob sich die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages und die Nichtbeachtung der Entscheidung des BVerfG in BStBl II 1990, 664 durch die Vorläufigkeitserklärung des angegriffenen Steuerbescheides hinsichtlich dieser Punkte erledigt haben. Bei einer solchen Annahme wäre die Beschwerde schon unzulässig, weil sie trotz Erledigung der in der Beschwerdefrist geltend gemachten Gründe aufrechterhalten worden ist. Das gleiche würde gelten, wenn in der teilweisen Erledigungserklärung der Kläger ein Verzicht auf die Geltendmachung der Frage der Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages und der Nichtbeachtung der Entscheidung des BVerfG in BStBl II 1990, 664 zu sehen wäre.

Unabhängig davon, ob sich die von den Klägern innerhalb der Beschwerdefrist des § 115 Abs. 3 Satz 1 FGO geltend gemachten Gründe für die Zulassung der Revision erledigt haben oder ob auf sie verzichtet worden ist, sind sie jedenfalls von vornherein nicht in einer den Anforderungen an eine zulässige Nichtzulassungsbeschwerde genügenden Weise vorgebracht worden.

b) Nach § 115 Abs. 2 FGO kann die Nichtzulassungsbeschwerde nur auf grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, auf Abweichung der angegriffenen Entscheidung von einer Entscheidung des BFH oder auf einen Verfahrensmangel gestützt werden. Wenigstens einer dieser Gründe ist nach § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO innerhalb der Beschwerdefrist näher darzulegen.

Die Kläger haben nicht einmal ausgeführt, auf welchen dieser Gründe ihre Nichtzulassungsbeschwerde gestützt werden soll. Sie haben sich lediglich auf die Behauptung der Verfassungswidrigkeit des Grundfreibetrages und die Nichtbeachtung der Entscheidung des BVerfG in BStBl II 1990, 664 beschränkt.

c) Selbst wenn man davon ausgeht, daß die Kläger mit ihrer Behauptung der Verfassungswidrigkeit des Grundfreibetrages eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend machen wollten, reicht das für eine ordnungsgemäße Darlegung dieses Zulassungsgrundes nicht aus. Erforderlich ist vielmehr ein konkretes Eingehen auf die Rechtsfragen und ihre Bedeutung für die Allgemeinheit. Es muß daher dargelegt werden, inwieweit die Rechtsfrage im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig ist und ggf. in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen sie umstritten ist. Das gilt auch, wenn die grundsätzliche Bedeutung auf einen Verstoß gegen das Grundgesetz (GG) gestützt wird (vgl. BFH-Beschluß vom 14. Dezember 1987 V B 77/87, BFH/NV 1989, 27). Die bloße Behauptung der Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift reicht nicht aus (vgl. Gräber/Ruban, a. a. O., § 115 Rdnr. 62, m. w. N.).

Die Auffassung der Kläger, der Grundfreibetrag sei verfassungswidrig, wirft auch keine so offenkundige Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung auf, daß von der näheren Darlegung dieser grundsätzlichen Bedeutung abgesehen werden könnte (vgl. BFH-Beschluß vom 9. Mai 1988 IV B 35/87, BFHE 153, 378, BStBl II 1988, 725). Dabei ist zu berücksichtigen, daß die von den Klägern zur Stützung ihrer Behauptung lediglich herangezogene Entscheidung des BVerfG in BStBl II 1990, 664 nicht den Grundfreibetrag für das Streitjahr, sondern den Kinderlastenausgleich betrifft. Außerdem hat der erkennende Senat mit Urteil vom 8. Juni 1990 III R 14-16/90 (BFHE 161, 109, BStBl II 1990, 969) entschieden, daß die Grundfreibeträge für die Jahre 1986 bis 1988 grundsätzlich verfassungsgemäß sind. Angesichts dieser Umstände wäre zumindest ein kurzes Eingehen der Kläger darauf erforderlich gewesen, warum sich aus der Entscheidung des BVerfG zum Kinderlastenausgleich auch Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages ergeben und warum trotz der gegenteiligen Entscheidung des erkennenden Senats weiterhin eine Klärungsbedürftigkeit besteht (vgl. Gräber/Ruban, a. a. O., § 115 Rdnr. 62, m. w. N.). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdeschrift der Kläger nicht.

d) Ein Grund für die Zulassung der Revision ist auch dann nicht ordnungsgemäß dargelegt worden, wenn man die Rüge der Nichtbeachtung der Entscheidung des BVerfG in BStBl II 1990, 664 als Geltendmachung eines Verfahrensmangels ansieht.

Allerdings kann in der Nichtbeachtung einer Entscheidung des BVerfG über die Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Bestimmung nicht nur ein materieller Rechtsfehler, sondern auch ein Verfahrensfehler liegen.

Wegen der Bindungswirkung und Gesetzeskraft einer Entscheidung des BVerfG über die Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm (§ 31 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht) ist ein finanzgerichtliches Verfahren nämlich bis zu einer gesetzlichen Neuregelung auszusetzen, wenn das BVerfG eine im Streitfall anzuwendende Norm für verfassungswidrig erklärt und dem Gesetzgeber die Neuregelung aufgegeben hat (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, vor § 74 Rdnr. 7). Eine Aussetzungspflicht hat der BFH unter bestimmten Voraussetzungen sogar bereits angenommen, wenn vor dem BVerfG ein Musterverfahren über die Verfassungsmäßigkeit einer Norm anhängig ist (BFH-Beschluß vom 8. Mai 1991 I B 132, 134/90, BFHE 164, 194, BStBl II 1991, 641; Beschluß des erkennenden Senats vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/91, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408). Eine Verletzung der Aussetzungspflicht kann danach ein Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens und damit ein Verfahrensfehler sein.

Ein solcher Verfahrensfehler kann jedoch nur vorliegen, wenn das FG Anlaß hatte, der Frage nachzugehen, ob eine Entscheidung des BVerfG über eine im Streitfall anwendbare gesetzliche Bestimmung ergangen oder ein Musterprozeß vor dem BVerfG anhängig war. Der erkennende Senat hat mit Beschluß vom 9. August 1991 III R 48/90 (BFHE 165, 162, BStBl II 1991, 868) und mit Urteil vom 9. August 1991 III R 41/88 (BFHE 166, 1, BStBl II 1992, 219) entschieden, daß in einer wegen etwaiger Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm möglicherweise erforderlich werdenden gesetzlichen Neuregelung eine tatsächliche Ungewißheit liegt. Die Pflicht des Gerichts zur Aufklärung, ob eine solche tatsächliche Ungewißheit besteht, richtet sich nach den allgemeinen Regeln des § 76 Abs. 1 FGO über die gerichtliche Aufklärungspflicht. Danach ist das Gericht nicht verpflichtet, allen möglichen Fragen von sich aus nachzugehen (vgl. Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, § 76 Anm. 15, mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen). In Fällen, in denen die Verfahrensbeteiligten nicht selbst auf ein anhängiges Musterverfahren vor dem BVerfG oder eine bereits ergangene Entscheidung des BVerfG hingewiesen haben, verletzt das FG seine Aufklärungspflicht daher nur dann, wenn sich ihm eine Ungewißheit über die Möglichkeit des Erfordernisses einer künftigen gesetzlichen Neuregelung aufdrängen mußte. Das ist bei anhängigen Musterverfahren vor dem BVerfG z. B. der Fall, wenn das FG aufgrund von Hinweisen in weitverbreiteten Fachzeitschriften von den Musterverfahren hätte wissen müssen. Hat das BVerfG eine Norm bereits für verfassungswidrig erklärt und dem Gesetzgeber eine Neuregelung aufgegeben, kann eine Verletzung der Aufklärungspflicht im Zusammenhang mit dieser Entscheidung des BVerfG regelmäßig so lange nicht vorliegen, als die Entscheidung noch nicht veröffentlicht und daher dem FG nicht bekannt ist und auch nicht bekannt sein muß. Das gilt jedenfalls dann, wenn in dem beim FG anhängigen Verfahren die verfassungswidrige Norm überhaupt nicht umstritten ist, sondern ganz andere Punkte im Streit sind. Ein Urteil des FG, das unter solchen Umständen die Entscheidung des BVerfG nicht beachtet, ist zwar möglicherweise materiell fehlerhaft, es ist aber nicht aufgrund eines Verfahrensfehlers zustande gekommen.

Soll also eine Nichtzulassungsbeschwerde auf den Verfahrensfehler der Nichtbeachtung einer Entscheidung des BVerfG über die Verfassungswidrigkeit einer Norm gestützt werden, muß substantiiert dargelegt werden, warum das FG insoweit seine Sachaufklärungspflicht verletzt hat (vgl. Tipke/Kruse, a. a. O., 13. Aufl., § 115 Rdnr. 90). Da die Kläger im Streitfall während des Verfahrens vor dem FG nicht selbst auf die Entscheidung des BVerfG hingewiesen haben, hätten sie also Tatsachen anführen müssen, aufgrund deren sich dem FG die Abhängigkeit seines Urteils von der Entscheidung des BVerfG hätte aufdrängen müssen. Die Kläger hätten deshalb auf die zeitliche Abfolge zwischen der Entscheidung des BVerfG, der Veröffentlichung dieser Entscheidung und der mündlichen Verhandlung eingehen und darlegen müssen, warum das FG aufgrund dieser Zeitabfolge von sich aus die im Streitfall an sich unumstrittene Höhe des Kinderfreibetrages hätte aufgreifen und das Verfahren aussetzen müssen.

Die bloße Darlegung der Kläger, das FG habe die Entscheidung des BVerfG in BStBl II 1990, 664 nicht beachtet, wird diesen Anforderungen nicht gerecht.