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  BFH-Urteil vom 22.5.1992 (VI R 17/91) BStBl. 1993 II S. 80

Einen als Kfz-Mechanikermeister und Kfz-Sachverständiger tätigen Steuerpflichtigen trifft regelmäßig kein grobes Verschulden i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977, wenn er es infolge mangelnder Steuerrechtskenntnisse unterläßt, anteilige Kosten seiner Wohnung als Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer geltend zu machen.

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2.

Vorinstanz: Schleswig-Holsteinisches FG

Sachverhalt

I.

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurden als Eheleute für das Streitjahr 1986 zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. Der Einkommensteuerbescheid 1986 vom 2. Juli 1987 erlangte Bestandskraft. Hierin waren Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, die der Kläger als Kfz-Sachverständiger und die Klägerin als Versicherungsangestellte erzielt hatten, sowie (negative) Einkünfte beider Kläger aus Vermietung und Verpachtung berücksichtigt. Bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit waren Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte sowie Beiträge zu einem Berufsverband als Werbungskosten angesetzt, die die Kläger in der von ihnen selbst gefertigten Einkommensteuererklärung geltend gemacht hatten. Mit Schreiben vom 8. April 1988 stellten die Kläger, nunmehr vertreten durch ihre Prozeßbevollmächtigte, den Antrag, den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu ändern und Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer als weitere Werbungskosten bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit zu berücksichtigen. Sie trugen hierzu vor: Der Kläger nutze seit Jahren ein Zimmer in der gemeinsamen Eigentumswohnung als Arbeitszimmer. Ihm sei nicht bekannt gewesen, daß Kosten für das Arbeitszimmer über die Vergünstigung nach § 7 b des Einkommensteuergesetzes (EStG) hinaus als Werbungskosten abziehbar seien.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) lehnte den Antrag mit der Begründung ab, den Kläger treffe ein grobes Verschulden daran, daß die neu vorgebrachten Tatsachen erst nachträglich bekanntgeworden seien. Der Einspruch gegen den Ablehnungsbescheid blieb erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Da der Kläger nicht unerhebliche Aufwendungen für ein Arbeitszimmer getätigt habe, hätte sich ihm der Gedanke aufdrängen müssen, daß diese Aufwendungen im unmittelbaren Zusammenhang mit seinem Arbeitsverhältnis stünden und durch dieses veranlaßt seien. Daß dieser Sachverhalt dem FA erst nach Bestandskraft des Steuerbescheids bekanntgeworden sei, könne der Kläger auch nicht mit dem Vorbringen entschuldigen, er habe nicht gewußt, daß diesbezügliche Aufwendungen als Werbungskosten abgesetzt werden könnten, weil solche in dem amtlichen Vordruck bzw. den Anleitungen hierzu nicht aufgeführt seien. Dem Kläger hätte einleuchten müssen, daß in der Anleitung nur einzelne (als Werbungskosten abziehbare) Aufwendungen beispielhaft, keineswegs also abschließend aufgezählt seien. Vordrucke wie Anleitungen sollten dem Steuerpflichtigen nur eine Hilfe für seine Steuererklärung geben, ihn jedoch nicht von der Verantwortung entbinden, alle Einnahmen und Werbungskosten vollständig und richtig zu erklären. Im übrigen sei aufgrund der individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten des Klägers, eines Kfz-Sachverständigen, davon auszugehen, daß er auch in der Lage gewesen sei, die Einkommensteuererklärung vollständig und richtig auszufüllen. Dem Kläger müßte außerdem der steuerrechtliche Begriff des Arbeitszimmers bekannt gewesen sein. Die entsprechenden steuerrechtlichen Folgen seien durch die Medien einem breiten Publikum bekanntgeworden. Wenn der Kläger die erforderlichen Angaben in der Einkommensteuererklärung des Streitjahres nicht gemacht habe, könne dies nur auf ein außergewöhnlich leichtfertiges und oberflächliches Verhalten bei der Anfertigung der Steuererklärung zurückgeführt werden. Die Zuordnung von Aufwendungen für ein Arbeitszimmer zu den - in der Anlage N aufzuführenden - Werbungskosten sei so klar und einfach, daß jeder Steuerpflichtige mit dem Bildungsstand des Klägers bei auch nur einigermaßen sorgfältigem Umgang mit der Erklärung die Kosten richtigerweise geltend gemacht hätte.

Mit der Revision rügen die Kläger - sinngemäß - Verletzung von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977. Hierzu tragen sie u. a. vor: Aus dem Satz "Werbungskosten sind Aufwendungen, die durch den Beruf veranlaßt sind", wie er in der Anleitung zur Einkommensteuererklärung 1986 stehe, lasse sich entgegen der Auffassung des FG für einen Steuerlaien nicht zwingend die Abziehbarkeit der Kosten für das Arbeitszimmer herleiten. Einschlägige Ausführungen seien im Steuererklärungsvordruck und den Erläuterungen bzw. Merkblättern nicht vorhanden. Auch sei er, der Kläger, nach seinem Bildungs- und Kenntnisstand nicht in der Lage, allgemeine Hinweise in der vom FG geforderten Weise zu interpretieren. Tatsächlich habe er weder an die Abziehbarkeit der Kosten gedacht, noch habe er auch nur leichtfertig irgendwelche Informationsmöglichkeiten nicht genutzt. Die Unkenntnis steuerrechtlicher Bestimmungen allein könne den Vorwurf des Verschuldens i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 nicht begründen. Hierbei sei zu berücksichtigen, daß das Steuerrecht eine sehr komplizierte, umfangreiche und selbst für Kenner nicht durchschaubare Materie sei, und daß Erklärungsvordrucke und Erläuterungen für den gewöhnlichen Steuerbürger nur schwer verständlich seien.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Die Vorentscheidung war aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Entgegen der Auffassung des FG durfte das FA den Antrag auf Änderung nicht mit dem Hinweis auf ein grobes Verschulden des Klägers ablehnen.

Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden.

a) Tatsache im vorgenannten Sinne ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (ständige Rechtsprechung, vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 9. August 1991 III R 24/87, BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65). Das FG hat unterstellt, daß der Kläger im Streitjahr ein Zimmer seiner Eigentumswohnung als Arbeitszimmer genutzt und hierfür (anteilig) Aufwendungen getätigt hat. Dieser Sachverhalt stellt eine Tatsache i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 dar.

b) Als grobes Verschulden hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten (BFH-Urteil vom 28. Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2). Grobe Fahrlässigkeit in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße verletzt (ständige Rechtsprechung, vgl. z. B. BFH-Urteile vom 21. Juli 1989 III R 303/84, BFHE 157, 488, BStBl II 1989, 960, m. w. N., sowie in BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65).

aa) Ein grobes Verschulden kann vorliegen, wenn der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht nur unzureichend nachkommt, indem er z. B. eine unvollständige Steuererklärung abgibt. Gemäß § 150 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 sind die Angaben in der Erklärung nach bestem Wissen und Gewissen zu machen. Um die Steuererklärung vollständig und wahrheitsgemäß abgeben zu können, muß der Steuerpflichtige das Erklärungsformular gewissenhaft durchlesen. Deshalb handelt ein Steuerpflichtiger regelmäßig grob schuldhaft, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen bestimmten Vorgang bezogene Frage nicht beachtet (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 29. Juni 1984 VI R 181/80, BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693 - Berlin-Darlehen -; vom 11. Mai 1990 VI R 76/86, BFH/NV 1991, 281 - Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte -, sowie in BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65 - Ausbildungsfreibetrag -).

Anders als in den vorbezeichneten Fällen für die dort steuerlich relevanten Tatsachen sehen die Steuererklärungsvordrucke (hier: Anlage N) eine Rubrik "Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer" nicht vor. Als hierfür allgemein einschlägig kommt nur der Abschnitt "weitere Werbungskosten" in Betracht, der den erläuternden Zusatz "z. B. Fortbildungs- und Reisekosten" enthält. Danach kann dem Kläger nicht der Vorwurf gemacht werden, er habe eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen ganz bestimmten Vorgang bezogene Frage nicht beachtet (ebenso in einem vergleichbaren Fall: FG Düsseldorf, Urteil vom 2. Juli 1987 VIII 109/81 E, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1987, 538).

bb) Entgegen der Auffassung des FG verweist der Kläger zu seiner Entschuldigung zu Recht auf den Umstand, daß auch die Anleitung zur Einkommensteuererklärung keinen Hinweis auf die Abziehbarkeit von Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer enthält. Ein Steuerpflichtiger kann zwar grob fahrlässig handeln, wenn er ausdrückliche Hinweise in Merkblättern, die das FA ihm zugesandt hat, nicht beachtet (vgl. Anwendungserlaß zur AO - AEAO - vom 24. September 1987, BStBl I 1987, 664, zu § 173 Nr. 4). Jedoch muß dieser Hinweis für einen steuerlichen Laien ausreichend verständlich, klar und eindeutig abgefaßt sein (vgl. Woerner/Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 8. Aufl., S. 98, m. w. N.). Zudem dürfen in bezug auf das Durchlesen von Merkblättern keine unzumutbaren Anforderungen an den Steuerpflichtigen gestellt werden.

Die den Klägern zugesandte Anleitung zur Einkommensteuer 1986 enthält im einzelnen Erläuterungen zu Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte sowie für Arbeitsmittel, zu weiteren Werbungskosten (Bewerbungskosten, Fortbildungskosten, Kontoführungsgebühr, Reisekosten und Umzugskosten), zu Mehraufwendungen für Verpflegung wegen längerer Abwesenheit von der Wohnung sowie für doppelte Haushaltsführung (mit weiteren Untergliederungen). Der allgemeine Begriff der Werbungskosten ist wie folgt umschrieben: "Werbungskosten im steuerlichen Sinne sind alle Aufwendungen, die durch Ihr Arbeitsverhältnis veranlaßt sind." Hieraus ist entgegen der Auffassung des FA für einen steuerlichen Laien nicht ersichtlich, daß Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer als Werbungskosten abziehbar sind.

cc) Zu Unrecht stützt das FG den Vorwurf des groben Verschuldens auf die Annahme, dem Kläger habe der steuerrechtliche Begriff des Arbeitszimmers bekannt sein müssen. Wie der BFH in seinem Urteil vom 10. August 1988 IX R 219/84 (BFHE 154, 481, BStBl II 1989, 131, mit weiteren Nachweisen) dargelegt hat, kann allein der Mangel an steuerrechtlichen Kenntnissen bei einem Steuerpflichtigen ohne einschlägige Ausbildung den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit nicht rechtfertigen. Dabei kommt es nach Auffassung des Senats nicht darauf an, inwieweit steuerrechtliche Kenntnisse über die Massenmedien einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind. Der Mangel an Rechtskenntnissen entschuldigt den Steuerpflichtigen nur dann nicht, wenn dieser Zweifelsfragen, die sich ihm aufdrängen mußten, nicht nachgegangen ist (BFH-Urteil vom 13. Juni 1989 VIII R 174/85, BFHE 157, 196, BStBl II 1989, 789, unter II. 2. c) bb) am Ende).

Das FG hat aus dem Vorhandensein von Aufwendungen den Schluß gezogen, dem Kläger hätte sich der Gedanke an die Abziehbarkeit dieser Aufwendungen aufdrängen müssen. Die von den Klägern in ihrem Änderungsantrag geltend gemachten Aufwendungen waren jedoch zunächst nicht offenkundig "für das Arbeitszimmer" angefallen, sondern sie sind erst später aus den Gesamtkosten der Eigentumswohnung ermittelt und anteilig dem Arbeitszimmer zugeordnet worden. Der Bezug dieses Kostenanteils zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit war für den Kläger als steuerrechtlichen Laien daher nicht ohne weiteres erkennbar.

dd) Entgegen der Auffassung des FG läßt sich das grobe Verschulden auch nicht damit begründen, der Kläger hätte als Kfz-Sachverständiger in der Lage sein müssen, seine Einkommensteuererklärung, die ohnehin nur Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und aus Vermietung und Verpachtung umfaßt habe, vollständig und richtig auszufüllen. Wie der BFH in seinem Urteil in BFHE 154, 481, BStBl II 1989, 131 ausgeführt hat, muß selbst ein "Berufsjurist" nicht wissen, ob und wann vorab entstandene Schuldzinsen als Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung abgezogen werden können. Ebensowenig darf von einem Steuerpflichtigen mit handwerklich-technischer Ausbildung, wie dem Kläger, verlangt werden, daß er die Voraussetzungen kennt, unter denen die Aufwendungen für ein Arbeitszimmer abziehbar sind, zumal es wegen dieser Frage immer wieder zu Rechtsstreitigkeiten und auch zu einer Vielzahl oberstgerichtlicher Entscheidungen gekommen ist (vgl. die Nachweise bei Schmidt/Drenseck, Einkommensteuergesetz, 10. Aufl., § 19 Anm. 12 "Arbeitszimmer", sowie zuletzt: BFH-Urteile vom 7. September 1990 VI R 141/86, BFH/NV 1991, 445; vom 28. September 1990 VI R 111/87, BFH/NV 1991, 298, und vom 6. Dezember 1991 VI R 101/87, BFHE 166, 285, BStBl II 1992, 304).

ee) Auch im übrigen sind Anhaltspunkte für ein grobes Verschulden des Klägers nicht erkennbar. Solche wären vom FA darzulegen und ggf. zu beweisen gewesen. Denn grundsätzlich ist davon auszugehen, daß Fehler des Steuerpflichtigen im Regelfall auf einem Versehen, also auf leichter Fahrlässigkeit, beruhen. Verbleibende Zweifel hieran gehen daher zu Lasten des FA (Feststellungslast - vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 173 AO 1977 Tz. 31 am Ende).

2. Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden. Das FG hat keine Feststellungen getroffen darüber, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für den begehrten Werbungskostenabzug vorgelegen haben. Die Sache wird an das FG zurückverwiesen, um ihm Gelegenheit zu geben, die fehlenden Feststellungen nachzuholen.