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  BFH-Urteil vom 7.8.1992 (III R 20/92) BStBl. 1993 II S. 103

Beendet ein Sohn zum 30. September seine vierjährige Tätigkeit als Zeitsoldat und erhält er nachweislich einen Ausbildungsplatz erst zum folgenden 1. Januar, so steht den Eltern für das Vorjahr ein Kinderfreibetrag auch dann zu, wenn der Sohn für die Monate Oktober bis Dezember Übergangsgebührnisse nach § 11 SVG erhalten hat.

EStG § 32 Abs. 4 Nr. 2.

Vorinstanz: FG Münster

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) und seine Ehefrau haben einen am .... 1963 geborenen Sohn G, der bis einschließlich des Schuljahres 1983/84 eine allgemeinbildende Schule besucht hat. G war dann für vier Jahre bis zum 30. September 1988 Soldat auf Zeit. Anschließend bewarb er sich um eine Lehrstelle als Gärtner, die er zum 2. Januar 1989 erhielt. Für die Zeit vom 1. Oktober 1988 bis zum 31. März 1989 wurden ihm Übergangsgebührnisse gemäß § 11 Abs. 1 und 2 des Soldatenversorgungsgesetzes (SVG) gezahlt.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) erließ auf Antrag des Klägers und seiner Ehefrau einen Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheid für 1988, in dem er einen Kinderfreibetrag nur für den anderen Sohn K des Ehepaares berücksichtigte. Einen Kinderfreibetrag für G lehnte das FA auch im Einspruchsverfahren ab. Zur Begründung berief es sich insbesondere auf Abschn. 180 a Abs. 1 Satz 5 der Einkommensteuer-Richtlinien (EStR). Danach kann für ein Kind, das während des ganzen Kalenderjahres eine Erwerbstätigkeit gegen Entgelt ausgeübt oder Lohnersatzleistungen erhalten hat, ein Kinderfreibetrag nicht berücksichtigt werden.

Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte im wesentlichen aus, die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i. d. F. des Steuersenkungsgesetzes 1986/1988 seien im Streitfall erfüllt. Denn es bestehe kein Streit unter den Beteiligten, daß G im Streitjahr eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht habe beginnen können. Zwar habe G während des ganzen Kalenderjahrs eine Erwerbstätigkeit gegen Entgelt ausgeübt oder Lohnersatzleistungen erhalten; denn auch die Übergangsgebührnisse nach § 11 SVG stellten einkommensteuerpflichtige Einkünfte dar (Hinweis auf Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 1. März 1974 VI R 47/71, BFHE 111, 516, BStBl II 1974, 490). Dies sei jedoch unschädlich; die entgegenstehende Richtlinienregelung stehe mit dem Gesetz nicht in Einklang. Nach dem Wortlaut des § 32 Abs. 4 Nr. 2 EStG sei der Kinderfreibetrag unabhängig davon zu gewähren, ob das Kind eigene Einkünfte oder Lohnersatzleistungen erzielt habe. Die Vorschrift verweise nicht mehr auf das Bundeskindergeldgesetz (BKGG), wie dies noch die vorhergehenden Regelungen (§ 32 Abs. 6 Nr. 1 a EStG i. d. F. des Steueränderungsgesetzes - StÄndG - 1977 für die Veranlagungszeiträume 1977 bis 1982, i. d F. des 2. Haushaltsstrukturgesetzes - 2. HStruktG - für die Veranlagungszeiträume 1983 und 1984, sowie i. d. F. des Steuerbereinigungsgesetzes - StBereinG - 1985 für den Veranlagungszeitraum 1985) getan hätten. Insbesondere werde nicht mehr auf § 2 Abs. 4 Satz 2 BKGG verwiesen, wonach der Bezug von laufenden Geldleistungen wegen Erwerbs-, Berufs- oder Arbeitsunfähigkeit bzw. Arbeitslosigkeit oder von Übergangsgebührnissen nach beamten- oder soldatenversorgungsrechtlichen Grundsätzen von einer bestimmten Höhe an der Berücksichtigung eines Kinderfreibetrages entgegenstehe. Daraus müsse man schließen, daß eigene Einkünfte des Kindes der Gewährung eines Kinderfreibetrages nicht mehr entgegenstehen sollten.

Dies entspreche im übrigen auch dem Willen des Gesetzgebers. Denn der amtlichen Begründung des Gesetzentwurfs (BTDrucks 10/2884) sei zu entnehmen, daß ein Kind, das eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen könne, innerhalb des im Gesetz bezeichneten Lebensabschnittes stets berücksichtigt werden solle. Insoweit sei in der amtlichen Begründung ausdrücklich eine typisierende Betrachtungsweise befürwortet worden. Da diese Typisierung auch Gesetz geworden sei, müsse davon ausgegangen werden, daß es nicht darauf ankomme, ob im Einzelfall Aufwendungen für das Kind erforderlich gewesen oder erbracht worden seien.

Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung des § 32 Abs. 4 Nr. 2 EStG 1986. Es meint, die Auslegung des FG werde dem Zweck der Norm nicht gerecht. Dieser gehe dahin, kindbedingte wirtschaftliche Belastungen in angemessener Weise zu berücksichtigen. Zwar gehe der Gesetzgeber in typisierender Betrachtungsweise davon aus, daß dem Steuerpflichtigen für ein Kind, das eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen könne, Unterhaltsaufwendungen in einer Höhe erwüchsen, die den Abzug des Kinderfreibetrags rechtfertige. Von einer typisierend unterstellten Belastung könne aber nicht mehr ausgegangen werden, wenn das Kind während des ganzen Kalenderjahrs erwerbstätig gewesen sei. Hier werde vielmehr das Warten auf einen Ausbildungsplatz durch eine gleichzeitige Erwerbstätigkeit während des ganzen Kalenderjahrs überlagert (Hinweis auf Stephan in Littmann/Bitz/Meincke, Das Einkommensteuerrecht, 15. Aufl., § 32 EStG Anm. 79). Einer gesetzlichen Typisierung werde dann die Grundlage entzogen, wenn der zu beurteilende Sachverhalt ohne nähere Prüfung eindeutig erkennen lasse, daß die Grundvoraussetzung - hier die finanzielle Belastung der Eltern - nicht vorliege.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Zu Recht ist das FG davon ausgegangen, daß dem Kläger auch für G ein Kinderfreibetrag zusteht (§ 32 Abs. 6 i. V. m. Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG).

Gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG ist ein Kind, das zu Beginn des Kalenderjahrs das 16. Lebensjahr, aber noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat, zu berücksichtigen, wenn es eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen kann. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Sohn G des Klägers war im Streitjahr 24 bzw. 25 Jahre alt; seine Berufsausbildung als Gärtner konnte er nach den Feststellungen des FG, die unter den Beteiligten auch unstreitig sind, erst zum 2. Januar 1989 antreten. Der vorliegende Fall zeichnet sich dadurch aus, daß G nicht das ganze Jahr 1988, sondern nur vom 1. Januar bis zum 30. September 1988 als Soldat auf Zeit tätig war. Ab 1. Oktober 1988 wartete G auf einen Arbeitsplatz als Gärtner. Die Tatsache, daß G ab diesem Zeitpunkt Lohnersatzleistungen in Form von Übergangsgebührnissen nach § 11 SVG erhalten hat, steht der Gewährung des Kinderfreibetrags nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG entgegen der Auffassung der Finanzverwaltung in Abschn. 180 a Abs. 1 Satz 5 EStR 1990 nicht entgegen. Angesichts des Gesetzeswortlauts, der die Berücksichtigung des Kindes - ohne weitere Einschränkungen - ausschließlich vom Warten auf einen Ausbildungsplatz abhängig macht, wäre eine Auslegung in dem Sinne der Richtlinienregelung nur möglich, wenn sie dem Sinn und Zweck des Gesetzes entsprechen würde, mit dem Wortlaut noch vereinbar wäre und keine sonstigen Umstände ersichtlich wären, die auf einen entgegenstehenden Willen des Gesetzgebers schließen ließen.

Im vorliegenden Zusammenhang ist schon nicht eindeutig, ob das Gesetz überhaupt bezweckt, die Gewährung des Kinderfreibetrages von Unterhaltsaufwendungen des Steuerpflichtigen abhängig zu machen. Denn die in § 32 Abs. 4 EStG geregelte mittlere Altersgruppe der Kinder (16. bis 27. Lebensjahr) ist nach sieben Kriterien unterschieden. Lediglich in einem dieser Fälle (Nr. 7 der Vorschrift) verlangt das Gesetz ausdrücklich, daß das Kind außerstande sein muß, sich selbst zu unterhalten. Es läge deshalb nahe, eher im Gegenschluß zu folgern, daß in den übrigen Fällen (Nr. 1 bis Nr. 6 des § 32 Abs. 4 EStG) nicht entscheidend sein soll, ob der Steuerpflichtige das Kind unterhält und ob das Kind eigene Einkünfte oder Bezüge hat (so Stäuber in Blümich/Falk, Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer, Kommentar, § 32 EStG Anm. 23).

Für die Entscheidung des vorliegenden Streitfalls braucht der Senat dieser Frage aber nicht weiter nachzugehen. Denn für die hier maßgebliche Vorschrift der Nr. 2 des § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG ergibt sich aus anderen Umständen, daß der Gesetzgeber die Berücksichtigung des Kindes nicht von der Frage abhängig machen wollte, ob das Kind sich selbst unterhalten kann, ob es von dritter Seite unterhalten wird oder ob es auf Unterhaltsaufwendungen des Steuerpflichtigen angewiesen ist. Das ergibt sich - worauf das FG zu Recht hingewiesen hat - eindeutig aus einem Vergleich der Vorschrift mit den entsprechenden früheren Regelungen. Denn diese enthielten durch Bezugnahmen auf das BKGG detaillierte Regelungen über schädliche eigene Einkünfte des Kindes bzw. Lohnersatzzahlungen an das Kind. Die unmittelbare Vorgängervorschrift des § 32 Abs. 6 Nr. 1 a EStG i. d. F. des StBereinG 1985 sah z. B. vor, daß auch die übrigen Voraussetzungen des neuen § 2 Abs. 4 BKGG erfüllt sein mußten; das Kind darf nach dieser kindergeldrechtlichen Regelung kein Nettoentgelt aus einer Erwerbstätigkeit, keine laufenden Geldleistungen wegen Erwerbs-, Berufs- oder Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit oder Übergangsgebührnisse nach beamten- oder soldatenversorgungsrechtlichen Grundsätzen beziehen, die monatlich 400 DM oder mehr betragen. Gerade die Koppelung an die Vorschriften des BKGG, insbesondere § 2 Abs. 4 BKGG, ist aber in der steuerrechtlichen Neuregelung durch § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 1986 beseitigt worden, ohne daß eine entsprechende Regelung in das EStG selbst aufgenommen worden wäre. Daraus kann nur geschlossen werden, daß der Gesetzgeber eine eigene entgeltliche Tätigkeit des Kindes wie auch den Zufluß von Bezügen von dritter Seite an das Kind nicht mehr als Hindernis für die steuerliche Anerkennung ansehen wollte, wenn das Kind eine Berufsausbildung mangels eines Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen kann.

Die vorstehende Auslegung wird bestätigt durch die Entstehungsgeschichte der gesetzlichen Neuregelung. Nach der amtlichen Begründung des Gesetzentwurfs (BTDrucks 10/2884) soll nämlich ein Kind, das das 16., aber noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat und eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen kann, stets berücksichtigt werden. Lediglich zur Begründung dieses eindeutig bekundeten Willens heißt es dann weiter, daß in typisierender Betrachtungsweise davon ausgegangen werden könne, daß dem Steuerpflichtigen auch in diesen Fällen regelmäßig Unterhaltsaufwendungen für das Kind in einer Höhe erwüchsen, die den Abzug eines Kinderfreibetrages rechtfertigten. Hieraus läßt sich aber keinesfalls schließen, daß die Berücksichtigung des Kindes von dessen Unterhaltsbedürftigkeit oder etwa von tatsächlichen Unterhaltsaufwendungen des Steuerpflichtigen abhängig sein sollte. Vielmehr wird die Berücksichtigung gerade angeordnet, obwohl nur regelmäßig in diesen Fällen Unterhaltsaufwendungen erwachsen; bewußt in Kauf genommen wird, daß dies in einer Minderheit von Sachverhaltsgestaltungen gerade nicht der Fall ist.

Diese Auffassung wird auch in der Literatur gebilligt (Schmidt/Glanegger, Einkommensteuergesetz, 11. Aufl., § 32 Anm. 8 b; Blümich/Stäuber, a. a. O., § 32 EStG Rz. 27; Nissen in Hartmann/Böttcher/Nissen/Bordewin, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 32 Rdnr. 74). Soweit andere Auffassungen vertreten werden, sind diese entweder nicht näher begründet (so Fitsch in Lademann/Söffing/Brockhoff, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 32 Anm. 63, und Stephan in Littmann/Bitz/Meincke, a. a. O.), oder führen wie die Begründung von Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach (Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, § 32 EStG Rdnr. 115) - in einem Fall der hier vorliegenden Art - nicht weiter. Denn wenn sich aus der Erwerbstätigkeit des Kindes eine (widerlegbare) Vermutung dafür ergeben soll, daß das Kind keine weitere Berufsausbildung anstrebt, so ist diese Vermutung bei einem Soldaten auf Zeit, der in einem Teil des Jahres nur noch Übergangsgebührnisse erhält und einen Ausbildungsplatz für den Beginn des folgenden Kalenderjahres sicher hat, zweifellos widerlegt. Im übrigen zeigen die Ausführungen von Kanzler (a. a. O.), welche Abgrenzungsschwierigkeiten sich ergäben, wenn man vom Wortlaut des Gesetzes abweichen wollte. Denn wenn man auf die Unterhaltsbedürftigkeit des Kindes abstellt, so ist es nicht folgerichtig, nur eine ganzjährige Erwerbstätigkeit (bzw. eine Ersatzform) als schädlich anzusehen, sondern man müßte unter Umständen auch kürzere Abschnitte ausreichen lassen. Dementsprechend befürwortet Kanzler (a. a. O.) bereits eine Nichtberücksichtigung des Kindes bei "überwiegender Erwerbstätigkeit (mehr als die Hälfte des Kalenderjahres)". Differenzierungen dieser Art wollte der Gesetzgeber nach Auffassung des Senats aber gerade vermeiden.