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BFH-Urteil vom 23.10.1992 (VI R 62/88) BStBl. 1993 II S. 117

Trinkgeldeinnahmen von Kellnern sind als zusätzliches Entgelt für die erbrachte Dienstleistung anzusehen und unterliegen gemäß § 19 Abs. 1 Nr. 1 EStG der Besteuerung. Sie sind zu schätzen, falls die Angaben des Steuerpflichtigen zur Höhe der erhaltenen Trinkgelder nach der Lebenserfahrung unglaubhaft sind.

EStG 1981 § 3 Nr. 51, § 19 Abs. 1 Nr. 1; AO 1977 § 162; FGO § 96.

Vorinstanz: FG Düsseldorf

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war von März bis Dezember des Streitjahres 1983 als Kellner in einem Café-Restaurant tätig. In seinem Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich 1983 erklärte er den von seinem Arbeitgeber erhaltenen Bruttoarbeitslohn ohne Angabe von Trinkgeldern. Der antragsgemäß erlassene Bescheid über den Lohnsteuer-Jahresausgleich führte zu einer Erstattung von 2.012 DM.

Nachdem der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) bei dem Arbeitgeber des Klägers eine Lohnsteueraußenprüfung durchgeführt hatte, bei der er einen auf den Kläger entfallenden Umsatz von 250.698 DM festgestellt hatte, schätzte er die erhaltenen Trinkgelder wie folgt:

  

1% des Kellnerumsatzes

in Höhe von 250.698 DM                                                  2.507 DM

abzüglich Freibetrag

10 Monate x 100 DM                                                     - 1.000 DM

abzüglich Mankogelder

10 Monate x 30 DM                                                          - 300 DM

                                                                                     --------------

nachzuversteuerndes Trinkgeld                                         1.207 DM

Die auf die zusätzlichen Einkünfte entfallende Steuer von 255 DM forderte er mit Lohnsteuernachforderungsbescheid zurück.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Einspruch mit der Begründung ein, er habe im Jahre 1983 keine Trinkgelder erhalten. Später erklärte er, die Trinkgelder hätten im Monatsdurchschnitt ca. 110 DM betragen; diesen stünden jedoch Mankogelder von 120 DM monatlich gegenüber.

Im Klageverfahren legte der Kläger Trinkgelderklärungen für September bis Dezember 1986 vor, aus denen sich monatliche Trinkgelder von durchschnittlich 33,71 DM (= 1,68 DM täglich) ergaben.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Zur Begründung führte es aus: Zwar seien freiwillig gezahlte Trinkgelder steuerpflichtig, soweit sie den Freibetrag von 1.200 DM im Kalenderjahr (§ 3 Nr. 51 des Einkommensteuergesetzes 1981 - EStG -) überstiegen. Das FA habe jedoch nicht nachweisen können, daß dem Kläger weitere, über den Freibetrag hinausgehende Trinkgelder zugeflossen seien. Die vom FA vorgenommene Schätzung sei rechtswidrig, denn eine solche sei nur zulässig, wenn die Gründe, die eine Sachverhaltsaufklärung verhinderten, vom Steuerpflichtigen zu vertreten seien oder zumindest in seiner Sphäre lägen. An einem Verstoß gegen Mitwirkungspflichten fehle es jedoch, denn es bestehe keine gesetzliche Verpflichtung zur Aufzeichnung von Trinkgeldern. Habe der Steuerpflichtige seinen Mitwirkungspflichten genügt, dürften Einnahmen nur bei Vorliegen zusätzlicher, konkreter Anhaltspunkte hinzugeschätzt werden. Ein zur Zuschätzung berechtigender konkreter Anhaltspunkt sei nicht in der Höhe des vom FA festgestellten Kellnerumsatzes zu sehen, denn ein allgemeiner Erfahrungssatz, wonach Kellner Trinkgelder von mindestens 1 % der von ihnen erzielten Umsätze erhielten, bestehe nicht. Hiervon könne erst dann ausgegangen werden, wenn die Verwaltung hierüber - den Richtsätzen für Gewerbebetriebe vergleichbare - Ermittlungen durchgeführt oder die Steuererklärungen von Kellnern ausgewertet hätte. Der Kläger, der als Arbeitnehmer weder Aufzeichnungen zu führen noch gegen Mitwirkungspflichten verstoßen habe, könne nicht schlechtergestellt werden als Gewerbetreibende mit formell ordnungsmäßiger Buchführung, bei denen nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH - (Urteil vom 18. Oktober 1983 VIII R 190/82, BFHE 139, 350, BStBl II 1984, 88) auch dann, wenn der unterste Rohgewinnsatz unterschritten werde, eine Hinzuschätzung nur bei besonderen Umständen zulässig sei. Solche Umstände seien im Streitfall nicht erkennbar.

Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts (§ 162 der Abgabenordnung - AO 1977 -). Eine Pflicht des Klägers zu Aufzeichnungen über Trinkgeldeinnahmen ergebe sich aus Abschn. 73 Abs. 4 Satz 3 der Lohnsteuer-Richtlinien 1981 (LStR). Die vom FA durchgeführte Schätzung führe zu einem Trinkgeld von 1 DM bei abgerechneten 100 DM Umsatz; dies liege am untersten Rahmen der Lebenserfahrung. Der Freibetrag des § 3 Nr. 51 EStG sei entgegen der bisherigen Berechnung in voller Höhe zu berücksichtigen.

Das FA beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung weitere 200 DM Freibetrag bei der Berechnung des Nachforderungsbetrages zugrunde zu legen und die Klage im übrigen abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Zutreffend ist das FG zunächst davon ausgegangen, daß von den Gästen freiwillig gezahlte Trinkgelder nach § 19 Abs. 1 EStG einkommensteuerpflichtig sind (Urteile des BFH vom 13. März 1974 VI R 212/70, BFHE 112, 150, BStBl II 1974, 411, und vom 2. März 1962 VI 255/60 U, BFHE 74, 577, BStBl III 1962, 214). An dieser Rechtsprechung, die teilweise Zustimmung (Schmidt/Heinicke, Einkommensteuergesetz, § 3, ABC Stichwort "Trinkgelder"; Grube in Littmann, Das Einkommensteuerrecht, § 19 EStG Rdnr. 30; Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, § 19 EStG Anm. 400), aber auch Ablehnung erfahren hat (Crezelius, Leistungen an und durch Dritte im Lohnsteuerrecht, Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft - DStJG - 9, 85; Richter, Vom Streikgeld und Entgelt zum Trinkgeld, Deutsches Steuerrecht - DStR - 1992, 1269; H. G. Fischer, Die Problematik der Besteuerung freiwilliger Trinkgelder, Betriebs-Berater - BB - 1983, 1648), hält der Senat fest. Zu den Einkünften aus nichtselbständiger Tätigkeit gehören gemäß § 19 Abs. 1 EStG sämtliche Bezüge und Vorteile, die für eine Beschäftigung im privaten Dienst gewährt werden, auch wenn auf sie kein Rechtsanspruch besteht. Freiwillig durch Dritte gezahlte Trinkgelder werden aus der Sicht des Trinkgeldempfängers wirtschaftlich als Frucht seiner Dienstleistung für den Arbeitgeber betrachtet (ebenso Salje, Trinkgeld als Lohn, Der Betrieb - DB - 1989, 321, wonach im Dienstleistungsgewerbe zunehmend der Grundlohn durch die Erlaubnis, Trinkgelder zu vereinnahmen, ersetzt oder ergänzt wird). Auch aus der Sicht des Kunden handelt es sich bei der Trinkgeldzahlung nicht um eine vom Dienstverhältnis losgelöste, aus privaten Motiven erfolgte Schenkung an den Trinkgeldempfänger, sondern um zusätzliches Entgelt für die entgegengenommene Dienstleistung. Insbesondere spricht die Freibetragsregelung des § 3 Nr. 51 EStG für die Steuerbarkeit von Trinkgeldern. Denn wäre der Gesetzgeber davon ausgegangen, daß Trinkgelder den Lohnbegriff nicht erfüllten, es sich also um nichtsteuerbare Zuwendungen handelte, hätte er in § 3 Nr. 51 EStG keine Begrenzung auf einen bestimmten Betrag bestimmt.

2. Das angefochtene Urteil war jedoch aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen, weil die Vorinstanz über die Nebeneinkünfte des Klägers nach den Regeln der objektiven Beweislast entschieden hat, obwohl unter den vorliegenden Umständen die Trinkgelder zu schätzen waren.

a) Gemäß § 96 FGO i. V. m. § 162 Abs. 1 und 2 AO 1977 ist das FG zur Schätzung nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, wenn es die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln oder berechnen kann. Zu schätzen ist nach § 162 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 insbesondere dann, wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine ausreichenden Aufklärungen zu geben vermag. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall gegeben.

Daß dem Kläger überhaupt Trinkgelder zuflossen, ergibt sich nicht nur aus den (zur Höhe allerdings widersprüchlichen) Angaben des Klägers selbst, sondern bereits aus der Lebenserfahrung. Hiernach erhält ein Kellner in einem Restaurant von den Gästen regelmäßig freiwillige Trinkgelder in einer nicht zu vernachlässigenden Höhe. Zwar ist die Trinkgeldzahlung im Einzelfall von unterschiedlichen Faktoren abhängig (Gepflogenheiten und finanzielle Leistungskraft des Kunden, Zufriedenheit mit der Dienstleistung, Art des Lokals, Höhe der Rechnung) und fällt demgemäß individuell unterschiedlich aus. Als Massenerscheinung des täglichen Lebens folgt sie jedoch bestimmten gesellschaftlichen Spielregeln. So entspricht es der Erfahrung, daß selbst in einfacheren Lokalen der Gast im Regelfall bereit ist, den Rechnungsbetrag jedenfalls aufzurunden. Wie die Erhöhung des Trinkgeldfreibetrages (§ 3 Nr. 51 EStG) von 1.200 DM auf 2.400 DM ab 1990 zeigt, geht auch der Gesetzgeber davon aus, daß Angehörigen von Dienstleistungsberufen nicht unerhebliche Trinkgelder zugewendet werden.

b) Angesichts dessen entfällt die Verpflichtung des FG zur Schätzung von Trinkgeldern der Höhe nach (wie im Streitfall) oder auch nach Grund und Höhe (vgl. dazu Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 162 AO 1977 Tz. 2 a S. 42) nicht schon dann, wenn der betreffende Steuerpflichtige vorträgt, Trinkgeld lediglich in einer der Lebenserfahrung widersprechenden, unglaubhaft geringen Höhe oder überhaupt nicht erhalten zu haben. Allerdings muß das FG einem substantiierten Tatsachenvortrag nachgehen, demzufolge wegen der besonderen Verhältnisse des Einzelfalles ein ungewöhnlich niedriges Trinkgeldaufkommen vorliegt. Als Tatsacheninstanz hat das FG jedenfalls die Aufgabe, unter Berücksichtigung von Anhaltspunkten wie der Art und dem Preisniveau des Lokals, der Zahlungsfähigkeit des typischen Kundenkreises, einer etwaigen besonderen Tätigkeit des Steuerpflichtigen (z. B. Thekendienst) und sonstiger Gesichtspunkte zu einer angemessenen Schätzung der Trinkgeldeinnahmen zu gelangen. Daß die Finanzverwaltung über Trinkgeldzahlungen keine Erhebungen angestellt oder "Richtsätze" veröffentlicht hat, ist dabei unerheblich.

c) In der Rechtsprechung der FG wird nahezu einhellig anerkannt, daß sich die Trinkgelder eines Kellners in Anlehnung an den Kellnerumsatz schätzen lassen. Einen derartigen Erfahrungssatz bejahen das FG Köln (Urteil vom 30. August 1982 II 40/82 L, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1983, 277: mindestens 1 % des Umsatzes), das FG Baden-Württemberg (Urteil vom 11. Dezember 1986 X K 337/85, EFG 1987, 409: bei einem herausgehobenen Lokal 2,5 %) und das FG Düsseldorf (Urteil vom 21. September 1987 II 127/87 A (E), nicht veröffentlicht: bei einem Lokal gehobener Klasse untere Grenze der Wahrscheinlichkeit 1,5 %; Urteil vom 29. November 1988 3 K 501/87, EFG 1989, 272: 2 %). Trinkgeldschätzungen wurden auch vom Verwaltungsgericht Berlin (Urteil vom 18. Mai 1988 21 A 520.87, Zeitschrift für Mietrecht 1989, 196) bei der Ermittlung des Jahreseinkommens nach dem Wohngeldgesetz, vom Landgericht Rottweil (Urteil vom 18. Mai 1988 1 S 63/87, Der Amtsvormund 1989, 723) zum Zwecke der Bemessung des zivilrechtlichen Unterhaltsanspruchs und vom Oberlandesgericht München (Urteil vom 14. April 1983 4 U 813/82, Zeitschrift für Schadensrecht 1983, 229) bei der Bemessung des Verdienstausfalls im Schadensrecht vorgenommen.

d) Mit der Bejahung der Pflicht des FA zur Schätzung von Trinkgeldern setzt sich der Senat nicht - wie das FG meint - in Widerspruch zur Rechtsprechung des VIII. Senats des BFH (Urteil in BFHE 139, 350, BStBl II 1984, 88), wonach bei formell ordnungsmäßiger Buchführung das Unterschreiten des untersten Rohgewinnsatzes nur bei zusätzlichen Anhaltspunkten eine Schätzung rechtfertigt. Denn an einer Buchführung des Steuerpflichtigen, die gemäß § 158 AO 1977 die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit für sich hätte, fehlt es im Streitfall gerade.

3. Das FG wird nunmehr, erforderlichenfalls nach weiterer Aufklärung des Sachverhalts zur Gewinnung von tatsächlichen Anhaltspunkten, die Schätzung der von dem Kläger bezogenen Trinkgelder nachholen.