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  BFH-Urteil vom 9.10.1992 (VI R 47/91) BStBl. 1993 II S. 169

1. Zuschüsse des Arbeitgebers zur Lebensversicherung eines Vorstandsmitglieds einer AG sind steuerpflichtiger und nicht nach § 3 Nr. 62 Satz 2 EStG von der Steuer befreiter Arbeitslohn.

2. Die Inanspruchnahme des Arbeitgebers als Haftungsschuldner nach § 42 d EStG ist in der Regel ermessensfehlerhaft, wenn die Steuer beim Arbeitnehmer deshalb nicht nachgefordert werden kann, weil seine Veranlagung zur Einkommensteuer bestandskräftig ist und die für eine Änderung des Steuerbescheides nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen (Änderung der Rechtsprechung im Urteil vom 26. Juli 1974 VI R 24/69, BFHE 113, 157, BStBl II 1974, 756).

EStG § 3 Nr. 62, § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 42 d; AO 1977 § 5, § 173 Abs. 1 Nr. 1, § 191 Abs. 1; FGO § 102.

Vorinstanz: FG Nürnberg

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine im Bankgeschäft tätige AG. Sie gewährt seit 1971 ihrem Vorstandsmitglied F zu dessen Lebensversicherung Zuschüsse in Höhe der jeweiligen höchsten Pflichtbeiträge des Arbeitgebers zur gesetzlichen Rentenversicherung der Angestellten. Sie bescheinigte diese Zuschüsse in den Lohnsteuerkarten der Streitjahre 1982 bis 1984 als Arbeitgeberanteile zur gesetzlichen Rentenversicherung und behielt insoweit keine Lohnsteuer ein. In den Prüfungsberichten über die bei der Klägerin für die Zeiträume bis einschließlich 1981 durchgeführten Lohnsteuer-Außenprüfungen wurde dieser Sachverhalt nicht aufgegriffen.

Im Anschluß an eine den Prüfungszeitraum Januar 1982 bis Januar 1985 betreffende und im März 1985 begonnene Lohnsteuer-Außenprüfung teilte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) dem für die Einkommensteuerveranlagung des Vorstandsmitglieds F zuständigen Wohnsitz-FA mit, daß F in den Jahren 1982 bis 1984 freiwillige und vom Arbeitgeber nicht der Lohnsteuer unterworfene Zukunftssicherungsleistungen erhalten habe. Das Wohnsitz-FA erfaßte die mitgeteilten Beträge in gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderten Einkommensteuerbescheiden als zusätzlichen Arbeitslohn des F. Auf dessen Einspruch hob es die Änderungsbescheide auf; es vertrat nach Überprüfung des Sachverhalts die Auffassung, die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 hätten nicht vorgelegen.

Das FA erließ daraufhin gegenüber der Klägerin einen Haftungsbescheid über Lohnsteuer für die Jahre 1982 bis 1984 in der Höhe, die nach seiner Ansicht bei Zahlung der Zuschüsse hätte einbehalten werden müssen. In den Lohnsteuer-Anmeldungen der Monate November und Dezember 1985 sowie Februar, Juni, August und Oktober 1986 meldete die Klägerin Lohnsteuer unter Berücksichtigung der Zuschüsse als steuerpflichtigen Arbeitslohn an. Ihre Einsprüche gegen den Haftungsbescheid und die Lohnsteuer-Anmeldungen hatten keinen Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unbegründet ab und führte aus:

Die Klägerin hafte gemäß § 42 d des Einkommensteuergesetzes (EStG) für die zu Unrecht nicht entrichtete Lohnsteuer. Die Zuschüsse zur Lebensversicherung seien Zukunftssicherungsleistungen, die nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG i. V. m. § 2 Abs. 3 Nr. 2 der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung (LStDV) steuerpflichtiger Arbeitslohn seien. Eine Steuerfreiheit nach § 3 Nr. 62 Satz 1 und 2 EStG habe nicht vorgelegen. Zwar seien Zuschüsse des Arbeitgebers zu Lebensversicherungsbeiträgen des Arbeitnehmers steuerfrei, wenn der Arbeitnehmer von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit worden sei. Kraft ausdrücklicher Regelung in § 2 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 1 a i. V. m. § 3 Abs. 1 a des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) habe F als Vorstandsmitglied einer AG aber überhaupt nicht der gesetzlichen Rentenversicherung unterlegen. Er könne folglich auch nicht von ihr befreit worden sein.

Die Zuschüsse seien auch nicht aus Gründen des Vertrauensschutzes bzw. unter Berücksichtigung von Treu und Glauben als steuerfreie Bezüge zu behandeln. Der Inanspruchnahme stehe ferner nicht entgegen, daß vorangegangene Lohnsteuer-Außenprüfungen zu keiner Beanstandung geführt hätten. Im Streitfall sei keine Zusage gegeben worden.

Die Inanspruchnahme der Klägerin sei auch nicht ermessensfehlerhaft. Ein entschuldbarer Rechtsirrtum der Klägerin habe nicht vorgelegen. Die Haftung der Klägerin sei schließlich nicht deshalb unbillig, weil die Lohnsteuer beim Arbeitnehmer wegen der bestandskräftigen Veranlagungen und der fehlenden Berichtigungsvoraussetzungen nicht nachgefordert werden könne. Die Grundsätze des Urteils des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 26. Juli 1974 VI R 24/69 (BFHE 113, 157, BStBl II 1974, 756), wonach der Inanspruchnahme des Arbeitgebers als Haftungsschuldner nicht entgegenstehe, daß der Einkommensteuerbescheid des Arbeitnehmers nicht mehr gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) geändert werden könne, seien auch im Streitfall anwendbar.

Mit ihrer Revision wendet sich die Klägerin gegen die Auffassung des FG, sie hafte für die nicht abgeführte Lohnsteuer nach § 42 d EStG auch dann, wenn die zuwenig einbehaltene Lohnsteuer beim Arbeitnehmer wegen bestandskräftiger Veranlagung zur Einkommensteuer und fehlender Berichtigungsvoraussetzung nicht nachgefordert werden könne. Sie führt aus: Das FG habe sich auf das Urteil in BFHE 113, 157, BStBl II 1974, 756 gestützt. Dieses Urteil werde in der Literatur in Frage gestellt (vgl. Schmidt/Drenseck, Einkommensteuergesetz, 11. Aufl., § 42 d Anm. 5 d). In dem Urteil vom 13. Januar 1989 VI R 153/85 (BFHE 156, 99, BStBl II 1989, 447) habe der BFH offengelassen, ob er an der in BFHE 113, 157, BStBl II 1974, 756 vertretenen Rechtsansicht festhalte. In dem Urteil vom 10. Oktober 1986 VI R 178/83 (BFHE 148, 257, BStBl II 1987, 186) habe der BFH die Richtigkeit der Auffassung des FG Rheinland-Pfalz, daß bei bestandskräftiger Festsetzung der Einkommensteuer des Arbeitnehmers die Inanspruchnahme des Arbeitgebers ausgeschlossen sei, dahingestellt sein lassen.

Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung und den Lohnsteuerhaftungsbescheid sowie die Lohnsteuer-Anmeldungen und die Einspruchsentscheidung aufzuheben, hilfsweise, das FA zu verpflichten, sie unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verbescheiden.

Das FA beantragt sinngemäß, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist teilweise begründet. Das FG hat die Klage gegen die Lohnsteuer-Anmeldungen zu Recht, diejenige gegen den Haftungsbescheid zu Unrecht abgewiesen.

1. Das FG hat zutreffend entschieden, daß die streitigen Steuerbescheide in Form der Lohnsteuer-Anmeldungen (§ 168 Satz 1, § 164 Abs. 3 Satz 2 AO 1977) rechtmäßig sind.

a) Die Zuschüsse der Klägerin zur Lebensversicherung ihres Vorstandsmitglieds F gehörten zu dessen Arbeitslohn i. S. des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG. Die Klägerin hatte von diesem Arbeitslohn die Lohnsteuer für Rechnung des F einzubehalten (§ 38 Abs. 3 Satz 1 EStG) und anzumelden (§ 41 a EStG).

Die Zuschüsse waren nicht gemäß § 3 Nr. 62 EStG von der Einkommensteuer befreit. Sie wurden nicht aufgrund gesetzlicher Verpflichtung geleistet (§ 3 Nr. 62 Satz 1 EStG). Es liegt auch nicht der in § 3 Nr. 62 Satz 2 EStG geregelte Fall vor, daß Zuschüsse zu den Aufwendungen eines von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreiten Arbeitnehmers für eine Lebensversicherung gezahlt worden sind. Denn F war nicht ein von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreiter Arbeitnehmer. Er gehörte vielmehr kraft ausdrücklicher gesetzlicher Regelung in § 3 Abs. 1 Nr. 1 a AVG als Vorstandsmitglied einer AG überhaupt nicht zu dem versicherungspflichtigen Personenkreis. Daß Zuschüsse an Personen, die kraft Gesetzes in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungsfrei sind, nicht nach § 3 Nr. 62 Satz 2 EStG steuerfrei sind, ist zutreffend in Abschn. 11 Abs. 3 Satz 3 der Lohnsteuer-Richtlinien (LStR) 1984 festgestellt worden.

Es ist auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß die für Vorstandsmitglieder von AG gezahlten Zuschüsse des Arbeitgebers zu Renten- und Krankenversicherungen nicht als steuerfrei nach § 3 Nr. 62 EStG anerkannt werden. Für die Ungleichbehandlung von Vorstandsmitgliedern einerseits und sonstigen leitenden Angestellten andererseits gibt es einleuchtende Gründe (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 25. Juni 1992 1 BvR 514/88, Wertpapier-Mitteilungen - WM - 1992, 1512).

b) Sonstige Gründe, die die Klägerin dazu berechtigt hätten, im Streitfall abweichend von der gesetzlichen Regelung von der Einbehaltung und Anmeldung der Lohnsteuer abzusehen, liegen nicht vor. Da der Arbeitgeber bei der Einbehaltung und Anmeldung der Lohnsteuer nicht für eigene, sondern nur für Rechnung des Arbeitnehmers tätig ist (§ 38 Abs. 3 Satz 1 EStG), könnten allenfalls in der Person des Arbeitnehmers liegende Umstände ein Abweichen von der Gesetzeslage rechtfertigen. Der Arbeitgeber dürfte jedoch nicht eigenverantwortlich entscheiden, ob ihm im konkreten Einzelfall in der Person des Arbeitnehmers liegende Umstände ein Abweichen von den gesetzlichen Vorschriften erlauben. Vielmehr müßte er auf jeden Fall vor einer beabsichtigten Abweichung eine Anrufungsauskunft (§ 42 e EStG) des für ihn zuständigen Betriebsstätten-FA einholen, um danach entsprechend dem Ergebnis der Auskunft zu verfahren. Im Streitfall ist eine derartige Auskunft nicht eingeholt und erteilt worden.

c) Die Klägerin war daher dem Grunde nach zur Anmeldung und Abführung der Lohnsteuer verpflichtet. Über die Rechtmäßigkeit der Höhe der angemeldeten Beträge besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.

2. Der auf § 42 d EStG gestützte Haftungsbescheid über die Lohnsteuer der Jahre 1982 bis 1984 verletzt die Klägerin in ihren Rechten und ist deshalb aufzuheben. Der Senat ist entgegen der Meinung des FG der Ansicht, daß das FA bei Erlaß des Haftungsbescheides das ihm durch § 191 Abs. 1 AO 1977 eingeräumte Ermessen (§ 5 AO 1977, § 102 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) nicht entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausgeübt hat.

a) Das FG hat - wie sich aus den die Lohnsteuer-Anmeldungen betreffenden Ausführungen unter 1 ergibt - rechtsfehlerfrei entschieden, die streitigen Zuschüsse seien Arbeitslohn und die Klägerin habe deshalb insoweit Lohnsteuer einzubehalten und abzuführen gehabt. Da die Klägerin dies unstreitig nicht getan hat, sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 42 d Abs. 1 Nr. 1 EStG erfüllt.

Der Senat kann offenlassen, ob die Klägerin ihre Verpflichtung zur Einbehaltung und Abführung der Lohnsteuer schuldhaft verletzt hat oder ob sie sich auf einen entschuldbaren Rechtsirrtum berufen kann. Denn die Inanspruchnahme der Klägerin ist unabhängig davon ermessensfehlerhaft, ob ihr objektiv fehlerhaftes Vorgehen subjektiv vorwerfbar war.

b) Gemäß § 42 d Abs. 3 Satz 1 EStG sind der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer als Schuldner der Lohnsteuer (§ 38 Abs. 2 Satz 1 EStG) Gesamtschuldner. Das FA hat das ihm gemäß § 42 d Abs. 3 Satz 2 EStG zustehende Auswahlermessen, welchen der Gesamtschuldner es in Anspruch nehmen will, zunächst fehlerfrei dahin ausgeübt, daß es versucht hat, die zu Unrecht nicht einbehaltene Lohnsteuer vom Arbeitnehmer, dem Vorstandsmitglied F, zu erhalten. Nachdem das für F zuständige Wohnsitz-FA mitgeteilt hatte, die Lohnsteuer sei von F wegen der Bestandskraft der Steuerbescheide und des Fehlens der Voraussetzungen für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nicht mehr zu erhalten, war die auf diesem Kenntnisstand getroffene Entschließung des FA, die Klägerin in Anspruch zu nehmen, ermessensfehlerhaft.

aa) Der Senat hat durch Urteil in BFHE 113, 157, BStBl II 1974, 756 entschieden, es sei nicht ermessensmißbräuchlich, den Arbeitgeber als Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen, wenn die Lohnsteuer von den Arbeitnehmern deshalb nicht nachgefordert werden könne, weil die Veranlagungen bestandskräftig seien. Wirke ein rechtskräftiges Urteil nur für oder gegen denjenigen Gesamtschuldner, der es erstritten habe (§ 425 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -), so könne für den bestandskräftigen Steuerbescheid nichts anderes gelten. Der Fall der bestandskräftigen Veranlagung sei auch nicht demjenigen gleichzustellen, daß die Pflichtverletzung nicht im Zusammenhang mit der Abführung, sondern mit der Einbehaltung der Lohnsteuer stehe, und daß den Arbeitgeber dabei nur ein geringes Verschulden treffe (BFH-Urteil vom 21. Januar 1972 VI R 187/68, BFHE 104, 294, BStBl II 1972, 364).

bb) Diese Rechtsprechung des Senats ist nicht nur auf Zustimmung, sondern auch auf Kritik gestoßen (vgl. Schmidt/Drenseck, a. a. O., § 42 d Anm. 5 d, und Trzaskalik in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, § 42 d Anm. D 3, Fußnote 3, jeweils mit umfassenden Nachweisen zum Meinungsstand). Nach nochmaliger Überprüfung hält der Senat an der im Urteil in BFHE 113, 157, BStBl II 1974, 756 vertretenen Auffassung aufgrund folgender Überlegungen nicht mehr fest:

Die Finanzbehörde hat gemäß § 5 AO 1977 das ihr eingeräumte Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Der Umstand, daß der Gesetzgeber die Inanspruchnahme des Arbeitgebers nach § 42 d EStG nicht als zwingend bestimmt, sondern in das Ermessen der Behörde gestellt hat, bedeutet, daß die Behörde eine den Zielvorgaben des Gesetzes entsprechende Entscheidung treffen muß, die im Hinblick auf die individuellen Verhältnisse billig beziehungsweise gerecht sein soll (vgl. Starck, Das Verwaltungsermessen und dessen gerichtliche Kontrolle, Festschrift für Sendler, S. 167, 170 f.).

Der Zweck der Haftung des Arbeitgebers nach § 42 d EStG liegt in der Sicherung der ordnungsgemäßen Besteuerung (BVerfG-Urteil vom 17. Februar 1977 1 BvR 33/76, BVerfGE 44, 103, 104). Danach ist die Inanspruchnahme des Arbeitgebers nach einer bestandskräftigen Veranlagung des Arbeitnehmers in der Regel unbedenklich in Fällen, in denen die Steuer gegenüber dem Arbeitnehmer zutreffend festgesetzt worden, aber nicht vollstreckbar ist.

Unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit kann es jedoch nicht Zweck des § 42 d EStG sein, daß sich die Finanzbehörden wegen solcher Nachteile beim Arbeitgeber schadlos halten, die sie durch Rechtsanwendungsfehler bei der Festsetzung der endgültigen Steuerschuld selbst herbeigeführt haben (ebenso Trzaskalik in Kirchhof/Söhn, a. a. O., § 42 d Anm. D 4). Es wäre unverhältnismäßig und unbillig, den Arbeitgeber für die Folgen des gleichen, im Lohnsteuerabzugsverfahren als einem Vorauszahlungsverfahren begangenen Rechtsanwendungsfehlers haften zu lassen, den die Finanzbehörde selbst sogar in einem endgültigen Steuerfestsetzungsverfahren mit der Folge begangen hat, daß die Steuer vom Steuerschuldner nicht mehr erlangt werden kann. Es erscheint nicht legitim, die durch § 42 d EStG zu gewährleistende ordnungsmäßige Besteuerung selbst dann noch der Risikosphäre des Arbeitgebers zuzuweisen, wenn eine Finanzbehörde bei der endgültigen Steuerfestsetzung dem gleichen Rechtsirrtum unterlegen ist wie der Arbeitgeber im Lohnsteuerabzugsverfahren. Bis zur Durchführung der Veranlagung war allein die fehlerhaft unterlassene Anmeldung und Abführung der Lohnsteuer ursächlich dafür, daß ein nach dem Gesetz geschuldeter Betrag nicht auf dem Konto des Steuergläubigers eingegangen war. Diese Ursache des Defizits auf dem Konto des Steuergläubigers wirkt mit Eintritt der Bestandskraft des Einkommensteuerbescheides aber nicht mehr fort, weil nunmehr die fehlerhafte Rechtsanwendung durch eine Finanzbehörde zu einer zu niedrigen Steuerfestsetzung geführt hat. Es ist weder als billig noch als gerecht anzusehen, daß der Steuergläubiger einen Schaden, der dann nicht eingetreten wäre, wenn eine Finanzbehörde nicht den gleichen Rechtsfehler wie der Arbeitgeber begangen hätte, auf den Arbeitgeber verlagert.

3. Die Vorentscheidung ist unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung des Senats von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen und deshalb aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Der ermessensfehlerhaft erlassene Haftungsbescheid ist rechtswidrig und deshalb aufzuheben (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).