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  BFH-Urteil vom 2.12.1992 (II R 112/91) BStBl. 1993 II S. 194

Erläßt das FG ein Urteil im schriftlichen Verfahren, obwohl das FA einen Verzicht auf mündliche Verhandlung nicht erklärt hatte, so beinhaltet der darin liegende Verstoß gegen § 90 Abs. 2 FGO einen wesentlichen Verfahrensmangel i. S. der §§ 116 Abs. 1 Nr. 3, 119 Nr. 4 FGO, den auch der Kläger mit Erfolg rügen kann.

FGO § 90 Abs. 2, § 116 Abs. 1 Nr. 3, § 119 Nr. 4.

Vorinstanz: FG München

Sachverhalt

I.

Der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), Rechtsanwalt P, erhob im Namen des während des Revisionsverfahrens verstorbenen Ehemannes und Rechtsvorgängers der Klägerin Klage gegen den vom Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) erlassenen Erbschaftsteuerbescheid vom 10. August 1989.

Das Finanzgericht (FG) forderte Rechtsanwalt P mit Schreiben vom 9. April 1990 und 12. Juni 1990 vergeblich auf, die Prozeßvollmacht vorzulegen. Mit Verfügung vom 17. Juli 1990 setzte das FG Rechtsanwalt P gemäß Art. 3 § 1 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG) zur Vorlage der Vollmacht eine Frist mit ausschließender Wirkung bis zum 5. September 1990. Nachdem auch innerhalb dieser Frist eine Vollmachtsurkunde nicht vorgelegt wurde, wies das FG die Klage durch Vorbescheid vom 9. Oktober 1990 als unzulässig ab.

Am 2. November 1990 beantragte der Prozeßbevollmächtigte mündliche Verhandlung und legte die vom seinerzeitigen Kläger am 2. April 1990 unterzeichnete Vollmachtsurkunde vor. Er begehrte, für die Versäumung der Frist zur Vorlage der Vollmacht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Bereits im Schriftsatz vom 16. Juli 1990 hatte der Prozeßbevollmächtigte auf mündliche Verhandlung verzichtet. Das FA hatte zu keiner Zeit auf mündliche Verhandlung verzichtet.

Das FG wies die Klage ohne mündliche Verhandlung durch Urteil als unzulässig ab. Die Revision ließ es nicht zu. Es führte aus, nach Ablauf der gemäß Art. 3 § 1 VGFGEntlG gesetzten Frist könne die Vorlage der Vollmacht nicht mehr dazu führen, daß die Klage zulässig werde. Die vom Prozeßbevollmächtigten vorgetragenen Gründe rechtfertigten keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Mit der Revision rügt die Klägerin vornehmlich die Verletzung formellen Rechts. Sie beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Die (zulassungsfreie) Revision ist zulässig. Die Klägerin hat schlüssig Tatsachen vorgetragen, die - ihre Richtigkeit unterstellt - einen wesentlichen Verfahrensmangel i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO ergeben. Ein Verfahrensfehler im Sinne der genannten Vorschrift liegt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) u. a. auch dann vor, wenn - was die Klägerin substantiiert behauptet hat - das FG unter Verstoß gegen § 90 Abs. 1 und 2 FGO ein Urteil ohne mündliche Verhandlung erläßt (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 1. Oktober 1970 V R 115/67, BFHE 100, 432, BStBl II 1971, 113; vom 25. August 1982 I R 120/82, BFHE 136, 518, BStBl II 1983, 46, und vom 6. April 1990 III R 62/89, BFHE 160, 405, BStBl II 1990, 744).

2. Die Revision der Klägerin ist auch begründet. Zu Unrecht ist das FG davon ausgegangen, daß es das angefochtene Urteil ohne mündliche Verhandlung erlassen durfte.

a) Nach § 90 Abs. 1 FGO entscheidet das Gericht vorbehaltlich der Absätze 2 und 3 aufgrund mündlicher Verhandlung. Mit Einverständnis der Beteiligten kann es ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 90 Abs. 2 FGO).

b) Im Streitfall lagen die Voraussetzungen nach § 90 Abs. 2 FGO für den Erlaß eines Urteils ohne mündliche Verhandlung nicht vor. Abgesehen davon, daß der frühere, vor Erlaß des Vorbescheids erklärte Verzicht des seinerzeitigen Klägers auf mündliche Verhandlung durch dessen Antrag auf mündliche Verhandlung gegen den Vorbescheid hinfällig geworden war und daß der vom seinerzeitigen Kläger mit seinem Antrag auf mündliche Verhandlung gegen den Vorbescheid verbundene erneute Verzicht auf mündliche Verhandlung - weil mit der unzulässigen Bedingung verknüpft, daß das Gericht nicht ein Prozeßurteil, sondern ein Sachurteil erlasse - unwirksam war, durfte das FG schon deswegen kein Urteil ohne mündliche Verhandlung erlassen, weil das FA zu keiner Zeit auf mündliche Verhandlung verzichtet hatte. Solange nicht die Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 FGO erfüllt waren, d. h. alle Beteiligten (übereinstimmend) auf mündliche Verhandlung verzichtet hatten, konnte der seinerzeitige Kläger damit rechnen und darauf vertrauen, daß das FG ein Urteil nur aufgrund mündlicher Verhandlung erlassen werde.

c) Dieser Verstoß gegen § 90 Abs. 2 FGO beinhaltet einen wesentlichen Verfahrensmangel i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO (oben 1.). Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben, ohne daß geprüft zu werden braucht, ob es auf der Verletzung von Bundesrecht beruht (§ 119 Nr. 4 FGO). Die Sache muß zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen werden.