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  BFH-Beschluß vom 19.7.1993 (GrS 1/92) BStBl. 1993 II S. 894

Hält der Erwerber eines Gewerbebetriebs seine Zusage, den Veräußerer von der Haftung für alle vom Erwerber übernommenen Betriebsschulden freizustellen, nicht ein und wird der Veräußerer deshalb in einem späteren Veranlagungszeitraum aus einem als Sicherheit für diese Betriebsschulden bestellten Grundpfandrecht in Anspruch genommen, so liegt ein Ereignis mit steuerlicher Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Veräußerung vor.

EStG § 16 Abs. 1 und 2; AO 1977 § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2.

Anrufungsbeschluß vom 26. März 1991 VIII R 315/84 (BFHE 166, 7, BStBl II 1992, 472)

Sachverhalt

A. Anrufungsbeschluß des VIII. Senats

I. Vorgelegte Rechtsfrage

Der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat mit Beschluß vom 26. März 1991 VIII R 315/84 (BFHE 166, 7, BStBl II 1992, 472) dem Großen Senat des BFH gemäß § 11 der Finanzgerichtsordnung (FGO) folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:

Liegt ein Ereignis mit steuerlicher Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Veräußerung vor, wenn der Erwerber eines Betriebs seine Zusage, den Veräußerer von der Haftung für alle vom Erwerber übernommenen Betriebsschulden freizustellen, nicht einhalten kann, und der Veräußerer deshalb in einem späteren Veranlagungszeitraum aus einem als Sicherheit für eine Betriebsschuld bestellten Grundpfandrecht in Anspruch genommen wird?

II. Sachverhalt

1. Der während des Revisionsverfahrens verstorbene Kläger und Revisionskläger (Kläger) betrieb bis zum 30. Juni 1970 ein Einzelunternehmen. Dieses veräußerte er durch notariell beurkundeten Vertrag vom 7. Juli 1970 mit allen Aktiven und Passiven zum Preis von 150.000 DM. Der Kaufpreis war in Höhe von 15.000 DM bis spätestens 20. Juli 1970 zu entrichten. Der Restbetrag war in monatlichen Raten von 5.000 DM, beginnend ab April 1971, zu tilgen. Die jeweils geschuldete Restsumme war mit 7,5 v. H. zu verzinsen.

Der Betrieb des Klägers war im Zeitpunkt der Veräußerung überschuldet. Die vom Käufer übernommenen Verbindlichkeiten überstiegen die Buchwerte des aktiven Betriebsvermögens um den Betrag von rund 93.000 DM. Auf dem Privatgrundstück des Klägers waren zugunsten einer Sparkasse Grundschulden im Gesamtwert von 62.000 DM eingetragen. Diese Grundpfandrechte dienten der Sicherung eines betrieblichen Kredits, den die Sparkasse dem Kläger anläßlich der Betriebsveräußerung eingeräumt und den der Käufer übernommen hatte. Die Sparkasse entließ den Kläger zwar aus der persönlichen Schuldverpflichtung, die auf dem Grundstück des Klägers eingetragenen Grundschulden dienten aber weiterhin der Sparkasse zur Sicherung des betrieblichen Kredits. Der Käufer verpflichtete sich, den Kläger bis spätestens 31. Dezember 1973 auch von der dinglichen Belastung freizustellen.

In den Erläuterungen zur Veräußerungsbilanz auf den 30. Juni 1970 und in der Einkommensteuererklärung 1970 gab der Kläger den Gewinn aus der Betriebsveräußerung mit 241.298 DM an. Die Kaufpreisforderung hatte er dabei mit ihrem Nennwert berücksichtigt. Der Kläger beantragte, die Veranlagung vorläufig durchzuführen, da sich der Veräußerungsgewinn wegen der vereinbarten Ratenzahlungen und der fortbestehenden dinglichen Belastung für die Verbindlichkeiten des Käufers noch mindern könne.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) veranlagte den Kläger erklärungsgemäß. Auf dessen Einspruch erklärte er den Bescheid durch Verwaltungsakt vom 4. Juni 1973 nachträglich für vorläufig gemäß § 100 der Reichsabgabenordnung (AO).

Nachdem über einen anderen seiner Betriebe im März 1973 das Vergleichsverfahren eröffnet worden war, zahlte der Käufer die noch ausstehenden Kaufpreisraten von 10.000 DM nicht mehr; auch die auf den Kaufpreis entfallende Mehrwertsteuer von 34.295,23 DM entrichtete er nicht. Darüber hinaus nahm die Sparkasse den Kläger im Jahre 1975 aus den Grundschulden mit 62.000 DM zuzüglich Zinsen für den Zeitraum der Jahre 1971 bis 1974 von 24.800 DM in Anspruch.

Der Kläger beantragte daraufhin beim FA, die Einkommensteuerveranlagung 1970 zu ändern und den Veräußerungsgewinn um 137.590 DM niedriger festzusetzen.

Das FA entsprach diesem Antrag durch geänderten (endgültigen) Bescheid vom 2. Januar 1976 nur teilweise; es minderte den Veräußerungsgewinn um 50.790 DM. Die Zahlungen des Klägers aufgrund der dinglichen Belastungen berücksichtigte es dabei nicht, weil dieser Vorgang sich steuerlich allenfalls erst im Jahr der Inanspruchnahme auswirken könne.

Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg. Die Gesamtrechtsnachfolgerin des verstorbenen Klägers, die Revisionsklägerin, rügt mit der Revision Verletzung des § 16 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Sie begehrt weiterhin eine zusätzliche Minderung des Veräußerungsgewinns um 86.800 DM.

2. Der VIII. Senat des BFH ist der Ansicht, das Urteil des Finanzgerichts (FG) sei aufzuheben und der Klage sei insoweit stattzugeben, als die Revisionsklägerin Herabsetzung des Veräußerungsgewinns um den zur Tilgung der Grundschuld gezahlten Betrag von 62.000 DM begehrt. Er meint die spätere Inanspruchnahme des Betriebsveräußerers aus einer Grundschuld, die dieser zur Sicherung einer vom Betriebserwerber übernommenen betrieblichen Verbindlichkeit bestellt hatte, führe zu einer (rückwirkenden) Minderung des Veräußerungsgewinns. Der Einkommensteuerbescheid für das Jahr der Veräußerung sei in einem solchen Fall auch dann zu berichtigen, wenn die Tatsachen, die zu der späteren Inanspruchnahme aus der Grundschuld geführt haben, erst nach der Übertragung des wirtschaftlichen Eigentums am Betrieb eingetreten sind. Ein bereits bestandskräftiger Steuerbescheid sei gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu ändern.

Die Zinsaufwendungen ständen dagegen nicht in wirtschaftlichem Zusammenhang mit der Betriebsveräußerung, sondern seien durch die Überlassung von Kapital zur Nutzung in den Folgejahren veranlaßt. Sie seien daher bei der Ermittlung des Veräußerungsgewinns nicht zu berücksichtigen.

III. Begründung der Vorlage

1. Der VIII. Senat hat den Großen Senat vorrangig wegen Divergenz (§ 11 Abs. 3 FGO) angerufen. Er weiche mit der von ihm vertretenen Rechtsansicht von Entscheidungen des I. Senats des BFH (Urteile vom 30. November 1977 I R 27/75, BFHE 124, 56, BStBl II 1978, 149, und vom 28. Februar 1990 I R 205/85, BFHE 159, 523, BStBl II 1990, 537) und des IV. Senats des BFH (Urteile vom 26. Mai 1981 IV R 47/78, BFHE 134, 15, BStBl II 1981, 795, und vom 12. Juli 1990 IV R 37/89, BFHE 162, 30, BStBl II 1991, 64) ab.

Der Vorsitzende des I. Senats hat auf Anfrage dem vorlegenden Senat gemäß § 11 Abs. 3 FGO mitgeteilt, der I. Senat halte an seiner bisherigen Rechtsauffassung fest.

Der Vorsitzende des IV. Senats hat zur Anfrage des VIII. Senats erklärt, der IV. Senat stimme einer Abweichung von den Entscheidungen in BFHE 134, 15, BStBl II 1981, 795 und in BFHE 162, 30, BStBl II 1991, 64 nicht zu. Bei Zahlungen, wie sie im Streitfall zu beurteilen seien, handele es sich um nachträgliche Betriebsausgaben i. S. des § 24 Nr. 2 EStG, die im Jahr der Zahlung zu negativen Einkünften aus Gewerbebetrieb führten.

2. Der vorlegende Senat hat die Anrufung zusätzlich mit der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage (§ 11 Abs. 4 FGO) begründet.

IV. Stellungnahme der Beteiligten

1. Die Revisionsklägerin stimmt den Rechtsausführungen des VIII. Senats im Vorlagebeschluß vollinhaltlich zu.

2. Der Bundesminister der Finanzen (BMF) ist dem Verfahren nach Anrufung des Großen Senats gemäß § 122 FGO beigetreten. Seiner Ansicht nach ist die Grundschuldverbindlichkeit nicht dem Betriebsvermögen zuzuordnen. In dem dem Vorlagebeschluß zugrunde liegenden Fall seien die Verbindlichkeiten - im Unterschied zur Sach- und Rechtslage im Urteil vom 11. Dezember 1980 I R 61/79 (BFHE 133, 25, BStBl II 1981, 461) - nach der Beendigung des Betriebs nicht beim bisherigen Betriebsinhaber verblieben, sondern von dem Erwerber übernommen worden. Das Grundpfandrecht hafte nicht für eine eigene, sondern für eine fremde Schuld. Die nachträgliche Inanspruchnahme aus der Grundschuld erweise sich damit als ein Vorgang der einkommensteuerlich irrelevanten Privatsphäre.

Im übrigen könne ein Steuerbescheid gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 nur geändert werden, wenn das spätere Ereignis steuerliche Wirkung für die Vergangenheit habe. Daran fehle es aber, wenn - wie hier - die wirtschaftlichen Folgen des betreffenden Rechtsgeschäfts nicht rückgängig gemacht würden oder nicht rückgängig gemacht werden könnten.

Entscheidungsgründe

B. Entscheidungen des Großen Senats

zu den Verfahrensfragen

I. Zulässigkeit der Vorlage

1. Der Große Senat teilt die Ansicht des vorlegenden Senats, daß die Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung i. S. des § 11 Abs. 4 FGO ist. Die bisherige Rechtsprechung des BFH zu der Frage, in welchem Umfang spätere Ereignisse, die die Höhe des Veräußerungsgewinns betreffen, auf den Zeitpunkt der Veräußerung zurückwirken, wird im Schrifttum zunehmend kritisch gewürdigt. Da die aufgeworfene Rechtsfrage erhebliche Bedeutung für eine Vielzahl von Veräußerungsvorgängen hat, besteht ein allgemeines Interesse an einer Klärung der Rechtslage durch den Großen Senat.

2. Damit kann unerörtert bleiben, ob die in der Vorlage vertretene Rechtsansicht von der anderer Senate des BFH abweicht. Zudem hat die Divergenzanrufung aufgrund der Neuregelung des § 11 Abs. 5 FGO, wonach sämtliche Senate des BFH Vertreter in den Großen Senat entsenden, keine Bedeutung mehr für die Zusammensetzung dieses Spruchkörpers.

II. Entscheidung ohne mündliche Verhandlung

Gemäß § 11 Abs. 7 Satz 2 FGO kann der Große Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Im vorliegenden Verfahren ist eine Förderung der Entscheidung des Großen Senats durch eine mündliche Verhandlung nicht zu erwarten. Die zu entscheidende Rechtsfrage und die unterschiedlichen Auffassungen, die dazu vertreten werden, sind im Vorlagebeschluß eingehend dargelegt. Die Beteiligten hatten Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen.

C. Entscheidung der vorgelegten Rechtsfrage

I. Bisheriger Meinungsstand zur Rechtsfrage

Der erkennende Senat hat den bisherigen Meinungsstand zur Rechtsfrage in Rechtsprechung, Schrifttum und Finanzverwaltung in seinem Beschluß vom 19. Juli 1993 im Parallelverfahren GrS 2/92 (BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897) unter Abschnitt C. I. dargelegt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit auf diesen Beschluß verwiesen.

II. Rechtsansicht des Großen Senats

Der Große Senat ist der Ansicht, daß ein Ereignis mit steuerlicher Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Veräußerung vorliegt, wenn der Erwerber eines Betriebs seine Zusage, den Veräußerer von der Haftung für alle vom Erwerber übernommenen Betriebsschulden freizustellen, nicht einhalten kann, und der Veräußerer deshalb in einem späteren Veranlagungszeitraum aus einem als Sicherheit für eine Betriebsschuld bestellten Grundpfandrecht in Anspruch genommen wird.

1. Gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis). Hierzu rechnen auch nach der Übertragung des wirtschaftlichen Eigentums am veräußerten Betrieb eintretende Umstände, die sich auf die Höhe des Veräußerungserlöses auswirken, und zwar - entgegen der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung - auch dann, wenn die zwischen den Vertragsparteien getroffenen Vereinbarungen von Anfang an eindeutig und klar sind.

Dazu hat der Große Senat in der Parallelsache GrS 2/92 die Ansicht vertreten, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 setzte nicht nur voraus, daß das spätere Ereignis den für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhalt anders gestalte. Die Änderung müsse sich darüber hinaus steuerrechtlich in der Weise auswirken, daß nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist. Ob diese Voraussetzung vorliege, entscheide sich nach dem einschlägigen materiellen Recht. Wegen der Begründung im einzelnen verweist der Große Senat auch insoweit auf den Beschluß in der Sache GrS 2/92 (Abschnitt C. II. 1.).

2. Maßgebende Vorschrift ist im Vorlagefall § 16 Abs. 1, 2 EStG. Nach dessen Abs. 1 Satz 1 gehören zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb auch Gewinne, die bei der Veräußerung des ganzen Gewerbebetriebs oder eines Teilbetriebs erzielt werden. Veräußerungsgewinn ist der Betrag, um den der Veräußerungspreis nach Abzug der Veräußerungskosten den Wert des Betriebsvermögens übersteigt, der für den Zeitpunkt der Veräußerung zu ermitteln ist.

Der Große Senat legt diese Regelung dahin aus, daß nachträgliche Änderungen des Veräußerungspreises steuerrechtlich auf den Zeitpunkt der Veräußerung zurückwirken. Wegen der Einzelheiten wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf Abschnitt C. II. des Beschlusses in dem Verfahren GrS 2/92 verwiesen. Die gleichen Grundsätze gelten auch hinsichtlich der für die Ermittlung des Veräußerungsgewinns maßgeblichen Höhe des Betriebsvermögens. Ergibt sich aufgrund von Umständen, die nach der Veräußerung neu hinzutreten, daß der der Besteuerung zugrunde gelegte Wert des Betriebsvermögens zu hoch oder zu niedrig ist, so ist demnach dieser Wert mit Wirkung auf den Zeitpunkt der Veräußerung entsprechend zu korrigieren.

Nach diesen Grundsätzen liegt ein rückwirkendes Ereignis i. S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG vor, wenn der Veräußerer nachträglich von den Gläubigern für Verbindlichkeiten des veräußerten Betriebs in Anspruch genommen wird und sich dadurch der tatsächlich erzielte Veräußerungsgewinn entsprechend endgültig mindert. Dabei ist nicht entscheidend, ob bereits im Zeitpunkt der Veräußerung ernsthaft mit einer späteren Inanspruchnahme durch einen Gläubiger - hier: aus dem Grundpfandrecht - zu rechnen war.

3. Der Große Senat entscheidet danach die vorgelegte Rechtsfrage wie folgt:

Hält der Erwerber eines Gewerbebetriebs seine Zusage, den Veräußerer von der Haftung für alle vom Erwerber übernommenen Betriebsschulden freizustellen, nicht ein und wird der Veräußerer deshalb in einem späteren Veranlagungszeitraum aus einem als Sicherheit für diese Betriebsschulden bestellten Grundpfandrecht in Anspruch genommen, so liegt ein Ereignis mit steuerlicher Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Veräußerung vor.