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  BFH-Urteil vom 13.7.1994 (XI R 21/93) BStBl. 1994 II S. 885

Die Festsetzungsfrist (Feststellungsfrist) gemäß § 239 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 beginnt in den Fällen des Satzes 2 Nr. 3 bei Mittäterschaft nicht, bevor alle eingeleiteten Strafverfahren rechtskräftig abgeschlossen worden sind.

AO 1977 §§ 171 Abs. 10, 181 Abs. 1, 182, 239 Abs. 1.

Vorinstanz: FG Rheinland-Pfalz

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war als Treugeber-Kommanditist an der 1975 gegründeten .... (KG) beteiligt. Bei der KG kam es zu Unregelmäßigkeiten. Einer der beiden Hauptverantwortlichen wurde u. a. wegen Steuerhinterziehung durch rechtskräftiges Urteil vom 5. Juli 1982 verurteilt. Das Verfahren gegen den anderen Hauptverantwortlichen K wurde wegen dessen Flucht ins Ausland zunächst vorläufig und durch Beschluß vom 23. November 1992 wegen Eintritts der Verfolgungsverjährung endgültig eingestellt.

Aufgrund der Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft und der Außenprüfung erließ das Betriebsstättenfinanzamt (B-FA) am 15. Juni 1983 geänderte Feststellungsbescheide für die Zeiträume 1975 bis 1977. Die Bescheide wurden bestandskräftig. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) erließ unter dem 14. September 1983 entsprechend geänderte Einkommensteuerbescheide, die ebenfalls bestandskräftig wurden. Mit Bescheid vom 15. November 1983 setzte das FA gegen den Kläger und dessen Ehefrau Hinterziehungszinsen fest. Während des anschließenden Einspruchsverfahrens stellte das B-FA die hinterziehungsbefangenen Verlustkürzungen einheitlich und gesondert fest (Bescheide vom 15. Oktober 1987 und vom 14. April 1989). Der letztgenannte Bescheid wurde durch Bescheid vom 11. Mai 1989 um den Zusatz ergänzt: "Dieser Bescheid ergeht an Sie als Empfangsbevollmächtigte mit Wirkung für und gegen alle Feststellungsbeteiligten." Mit Datum vom 9. Februar 1990 hob das FA den Zinsbescheid auf und erließ einen neuen Bescheid allein gegen den Kläger über insgesamt .... DM (Bescheid vom 5. April 1990). Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte aus:

1. Die Festsetzungsfrist des § 239 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) sei nicht abgelaufen gewesen, da die Frist gemäß Satz 2 Nr. 3 erst begonnen habe, nachdem das Strafverfahren gegen den mutmaßlichen Mittäter K durch Beschluß vom 23. November 1992 endgültig eingestellt worden sei. "Ein eingeleitetes Strafverfahren" sei erst dann endgültig abgeschlossen, wenn das Strafverfahren gegen sämtliche Mittäter beendet worden sei.

2. Dies gelte auch, wenn - wie im Streitfall - die Grundlagen für die Festsetzung der Hinterziehungszinsen einheitlich und gesondert festgestellt worden seien. Das Gericht brauche nicht zu entscheiden, ob die Fristen des § 171 Abs. 10 bzw. des § 174 Abs. 4 AO 1977 eingehalten worden seien.

3. Der Zinsbescheid sei auf der Grundlage eines wirksamen Feststellungsbescheides ergangen.

4. Die Höhe der Zinsfestsetzung sei nicht zu beanstanden. Eine Verwirkung des Zinsanspruchs sei nicht eingetreten.

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung materiellen Rechts und trägt vor:

1. Auch für Grundlagenbescheide über Hinterziehungszinsen gelte die einjährige Frist des § 239 Abs. 1 AO 1977.

2. Die Frist beginne, wenn bereits ein eingeleitetes Strafverfahren rechtskräftig abgeschlossen sei. Da es für die Festsetzung von Hinterziehungszinsen ausreiche, daß von einem Täter Steuerhinterziehung begangen worden sei, sei kein Grund ersichtlich, daß das FA für die Festsetzung der Hinterziehungszinsen die Verurteilung sämtlicher Mittäter abwarten müsse. Dementsprechend habe das FA auch bereits 1983 einen Zinsbescheid erlassen. Die Beteiligten seien sich mit dem B-FA über das Vorliegen und den Umfang einer Steuerhinterziehung einig gewesen; der Ausgang des Strafverfahrens gegen einen weiteren Mittäter habe auf die Höhe der Hinterziehungszinsen keinen Einfluß mehr haben können. Es sei kein Grund erkennbar, warum das Fehlverhalten eines Mittäters zu Lasten aller anderen Beteiligten gehen solle. In der tatsächlichen Verständigung, die zur Änderung des Feststellungsbescheides geführt habe, habe das B-FA keine Vorbehalte erklärt. Vielmehr seien die Beteiligten von einer endgültigen und abschließenden Regelung ausgegangen.

Der Kläger beantragt, die Vorentscheidungen aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen, und macht geltend:

1. Es habe bis zum Ergehen des Zinsbescheides an dem rechtskräftigen Abschluß des Strafverfahrens gefehlt. Die Auffassung des Klägers, daß es ausreiche, wenn ein Strafverfahren rechtskräftig eingestellt worden sei, könne nicht geteilt werden; "ein" sei nicht als Zahlwort zu verstehen.

2. Auch greife die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 10 AO 1977 ein. Der Zinsbescheid sei binnen Jahresfrist ergangen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Die Frage, ob und in welchem Umfang Steuernachforderungen gegen die Gesellschafter der KG auf Hinterziehungshandlungen beruhen, ist zu Recht im Verfahren der gesonderten und einheitlichen Feststellung geklärt worden (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 19. April 1989 X R 3/86, BFHE 156, 383, BStBl II 1989, 596). In diesen Fällen, in denen der Zinsbescheid als Folgebescheid ergeht, endet die Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 10 AO 1977 nicht vor Ablauf eines Jahres nach Bekanntgabe des Grundlagenbescheides (dazu vgl. BFH-Urteil vom 12. August 1987 II R 202/84, BFHE 150, 319, BStBl II 1988, 318; Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 171 AO 1977 Rz. 101; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 171 AO 1977, Tz. 29). Diese Frist hat das FA eingehalten: Der Zinsbescheid datiert vom 5. April 1990; der Grundlagenbescheid, der durch Bescheid vom 11. Mai 1989 ergänzt wurde, trägt das Datum vom 14. April 1989.

2. Im Streitfall war die Feststellungsfrist für den Grundlagenbescheid ebenfalls noch nicht abgelaufen.

a) Die Feststellungsfrist für die Bescheide über die Grundlagen für die Festsetzung von Hinterziehungszinsen betrug gemäß § 239 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ein Jahr (vgl. BFH-Urteil in BFHE 150, 319, BStBl II 1988, 318). Im Hinblick auf die Dauer der Verjährungsfrist macht es keinen Unterschied, ob zunächst die Grundlagen des Zinsanspruchs festgestellt werden oder ob der Zinsanspruch unmittelbar durch Zinsbescheid festgesetzt wird.

b) Der Beginn der Feststellungsfrist ist dementsprechend gemäß § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO 1977 zu beurteilen. Danach beginnt die Frist nicht vor Ablauf des Kalenderjahres, in dem ein eingeleitetes Strafverfahren rechtskräftig abgeschlossen worden ist. Mit dem FG ist der Senat der Auffassung, daß bei mehreren Strafverfahren, die - wie im Streitfall - gegen Mitbeschuldigte (Mittäter) gerichtet sind, auf das zuletzt abgeschlossene Verfahren abzustellen ist. Der Zweck dieser Regelung besteht darin, dem FA zu ermöglichen, zunächst die einzelnen (durchaus auch unterschiedlichen) strafrechtlichen Ermittlungsergebnisse abzuwarten (vgl. Begründung zu § 222 des Entwurfs einer Abgabenordnung, BTDrucks VI/1982, S. 172/173). Mag auch schon aufgrund der strafrechtlichen Ermittlungsergebnisse gegen einen Beschuldigten der Zinsanspruch hinreichend sicher beurteilt werden können, so ist es dem FA entgegen der Auffassung des Klägers doch unbenommen, die strafrechtlichen Ergebnisse insgesamt abzuwarten. Das FA weist zu Recht darauf hin, daß allein diese Auslegung die sichere Festlegung des Fristbeginns ermöglicht.

Angesichts der generellen Natur der gesetzlichen Regelung kommt es daher auch nicht entscheidend darauf an, daß - wie der Kläger meint - möglicherweise bereits im Jahr 1982 das Vorliegen eines Zinsanspruchs hätte abschließend beurteilt werden können. Dies wird besonders in den Fällen deutlich, in denen anders als im Streitfall einzelne Verfahren zunächst eingestellt und andere Mittäter erst später verurteilt werden. In diesen Fällen würde bei Zugrundelegung der klägerischen Auffassung die Feststellungsfrist möglicherweise bereits mit der Einstellung des ersten Verfahrens beginnen, ohne daß hinreichende Feststellungen zur Hinterziehung getroffen wurden und ohne daß sicher ist, ob das eingestellte Verfahren wiederaufgenommen wird.

3. Die Feststellungsbescheide über die Grundlagen für die Festsetzung von Hinterziehungszinsen waren wirksam und entfalteten Bindungswirkung (dazu vgl. im einzelnen BFH-Urteil vom 16. März 1993 XI R 42/90, BFH/NV 1994, 75). Die Bescheide sind, soweit der Kläger betroffen ist, ordnungsgemäß adressiert und bekanntgegeben worden. Das FA war berechtigt, den fehlenden Hinweis auf die Reichweite der Bekanntgabe (vgl. § 183 Abs. 1 Satz 5 AO 1977) in einem Ergänzungsbescheid (vgl. § 179 Abs. 3 AO 1977) nachzuholen. Nichtigkeitsgründe haben die Beteiligten nicht vorgetragen; solche Gründe sind auch im übrigen nicht ersichtlich.