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  BFH-Urteil vom 14.7.1993 (X R 34/90) BStBl. 1994 II S. 77

1. Die Kompensationsregelung des § 177 AO 1977 enthält in Abs. 1 und Abs. 2 zwei selbständige Tatbestände. Liegen sowohl die Voraussetzungen des Abs. 1 als auch diejenigen des Abs. 2 vor, sind die oberen und die unteren Grenzen der Fehlerberichtigung unabhängig voneinander zu ermitteln.

2. Die Vorschrift des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 erfaßt auch die Fälle, in denen ein bestimmter Sachverhalt, der in einem Steuerbescheid (Folgebescheid) zu regeln ist, zunächst in einem Feststellungsbescheid (Grundlagenbescheid) berücksichtigt war und durch dessen Aufhebung oder Änderung aus der bis dahin bestehenden Bindungswirkung entlassen wird.

AO 1977 § 157, § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 177, § 182, § 351 Abs. 1; EGAO 1977 Art. 97 §§ 9 und 10.

Vorinstanz: FG Köln (EFG 1990, 342)

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger), Eheleute, die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden, sind an der X-GmbH & Co. KG in B beteiligt. Sie halten außerdem noch mehrere Beteiligungen an anderen Gesellschaften.

Mit Bescheid vom 4. Juli 1975 veranlagte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) die Kläger zur Einkommensteuer für 1973, u. a. unter Berücksichtigung folgender, in der Einkommensteuererklärung geltend gemachter Schuldzinsen:

 

1. Lebensversicherung F

3.729 DM

2. Lebensversicherung G

1.245.900 DM

 

------------------

 

1.249.629 DM.

Nicht berücksichtigt wurden weitere, vom Kläger im Jahr 1973 an die Lebensversicherung G gezahlte, aber nur für die Festsetzung der Einkommensteuervorauszahlungen für diesen Veranlagungszeitraum angegebene Schuldzinsen in Höhe von 991.200 DM.

Wegen anderer in der Einkommensteuererklärung, nicht aber im Bescheid angesetzter Sonderausgaben legten die Kläger Einspruch ein, der teilweise Erfolg hatte. Außerdem berücksichtigte das FA im Änderungsbescheid noch Verluste der Kläger aus deren Beteiligung an der Tankschiffahrtsgesellschaft "Y" und wertete die Mitteilung des Finanzamts A über den Verlustanteil des Klägers an der Z-KG aus.

Demgemäß wurde im Bescheid vom 9. September 1975 die Einkommensteuerschuld der Kläger für 1973 (auf der Grundlage eines zu versteuernden Einkommens von 1.080.673 DM) auf 550.156 DM festgesetzt. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.

Aufgrund einer Mitteilung des Finanzamts C, wonach der Kläger nicht als Mitunternehmer der S-KG anzusehen sei, änderte das FA die Einkommensteuerfestsetzung für 1973 gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) mit Bescheid vom 3. Februar 1977 abermals, indem es die aus dieser Beteiligung erklärten Verluste nicht mehr berücksichtigte (zu versteuern 1.183.733 DM; Einkommensteuerschuld 604.788 DM).

Hiergegen legten die Kläger am 10. Februar 1977 (mit Schreiben vom 8. Februar 1977) Einspruch ein.

Im Jahre 1976/1977 führte die Großbetriebsprüfungsstelle B bei der X-GmbH & Co. KG (KG) eine Betriebsprüfung durch, die auch das Jahr 1973 betraf. Aufgrund der dabei getroffenen Feststellungen änderten sich die Gewinnanteile der Kläger aus Gewerbebetrieb für 1973. Die Gewinnerhöhungen bei der KG beruhten u. a. darauf, daß der Prüfer einen 1973 angefallenen Zinsaufwand in Höhe von 423.919 DM für Kredite, die der Kläger 1972 im eigenen Namen aufgenommen und zum Erwerb kanadischer Wertpapiere verwendet hatte, nicht mehr als Betriebsausgaben der KG und auch nicht als Sonderbetriebsausgaben des Klägers anerkannte.

Das FA (als das für die KG zuständige Betriebs-FA) schloß sich den Feststellungen und rechtlichen Würdigungen des Prüfers an und erließ einen entsprechend geänderten Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung des Gewinns der KG, der nicht angefochten wurde.

Außerdem erließ das FA (als zuständiges Wohnsitz-FA der Kläger) am 6. März 1978 einen weiteren Änderungsbescheid für 1973, in dem es neben den Erhöhungen der Gewinnanteile bei der KG eine Mitteilung des Finanzamts L vom 1. August 1975 auswertete, nach der aus einer bisher nicht erfaßten Beteiligung an der T-KG auf den Kläger ein Verlustanteil von 109.349 DM entfiel. Außerdem kürzte das FA entsprechend einer Mitteilung der Steuerfahndungsstelle E die als Sonderausgaben angesetzten Schuldzinsen auf 427.648 DM (Lebensversicherung F 3.729 DM zuzüglich bisher bei der KG erfaßte Schuldzinsen laut Betriebsprüfung 423.919 DM). Bei dieser Kürzung schloß sich das FA der Auffassung der Steuerfahndungsstelle an, daß die 1973 an die Lebensversicherung G geleisteten Zins-Vorauszahlungen für 1974 in Höhe von 1.245.900 DM gemäß § 6 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG; § 42 AO 1977) vom Steuerabzug ausgeschlossen seien, weil sie im Hinblick auf den Fortfall des privaten Schuldzinsenabzugs ab 1974 geleistet worden seien.

Die Kläger legten Einspruch ein und begehrten folgenden zusätzlichen Schuldzinsenabzug:

 

- Für das Streitjahr gezahlt:

99.200 DM,

- für 1974 vorausgezahlt:

1.245.900 DM

 

------------------

 

2.237.100 DM.

Diesen und den noch ruhenden, gegen den Änderungsbescheid vom 3. Februar 1977 erhobenen Einspruch behandelte das FA als einheitliches Rechtsbehelfsverfahren.

Vor dessen Abschluß erhielt das FA vom FA D die Mitteilung, dieses habe es mit Bescheid vom 5. April 1978 abgelehnt, für die Tankschiffahrtsgesellschaft Y einheitliche und gesonderte Feststellungen durchzuführen, weil die beteiligten Kommanditisten, darunter der Kläger, nicht als Mitunternehmer anzusehen seien. Daraufhin erließ das FA am 27. November 1980 einen weiteren Änderungsbescheid.

In der Einspruchsentscheidung vom 25. März 1987 setzte das FA die Einkommensteuerschuld für 1973 auf 550.156 DM fest, d. h. in gleicher Höhe wie im unanfechtbar gewordenen Bescheid vom 9. September 1975. Zur Begründung führte es aus, materiell-rechtlich seien die Voraussetzungen für einen uneingeschränkten (auch die Vorausleistungen für 1974 umfassenden) Sonderausgabenabzug zwar gegeben. Dem stehe aber § 351 Abs. 1 AO 1977 entgegen. Andere Korrekturvorschriften griffen nicht ein, vor allem § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 deshalb nicht, weil die für das Streitjahr an die Lebensversicherung G gezahlten Schuldzinsen in Höhe von 991.200 DM bei Erlaß des bestandskräftig gewordenen Bescheides vom 9. September 1975 aus dem Verfahren zur Festsetzung der Einkommensteuervorauszahlungen für diesen Zeitraum bekannt gewesen seien.

Nach Ergehen der Einspruchsentscheidung, aber noch vor Erhebung der Klage, änderte das FA die Einkommensteuerfestsetzung 1973 am 6. April 1987 erneut, weil es übersehen hatte, daß hinsichtlich des Verlustanteils aus der Beteiligung an der T-KG in Höhe von 109.349 DM die Änderungsvoraussetzungen nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 vorgelegen hätten und insoweit die Möglichkeit der Berücksichtigung weiterer Schuldzinsen (nach § 177 AO 1977) bestanden habe. Den auch hiergegen eingelegten Einspruch wies das FA mit Entscheidung vom 12. Februar 1988 zurück. Es blieb bei seiner Auffassung, daß § 351 Abs. 1 AO 1977 einen weiteren Schuldzinsenabzug verbiete. Das gelte auch für die aus der Gewinnermittlung der KG ausgeschiedenen Schuldzinsen für Effektenkredite in Höhe von 423.919 DM. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 gelte insoweit nicht. Die verbindlichen Entscheidungen in Feststellungsbescheiden erstreckten sich nicht auf Sonderausgaben.

Die Klage hatte Erfolg (das unter dem Aktenzeichen .... anhängige, durch die Einspruchsentscheidung vom 25. März 1987 ausgelöste Klageverfahren ist gemäß § 74 der Finanzgerichtsordnung - FGO - bis zum Eintritt der Bestandskraft des Einkommensteuerbescheides vom 6. April 1987 ausgesetzt). - Das Finanzgericht (FG) stellte sich in seinem in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1990, 342 veröffentlichten Urteil auf den Standpunkt, auch hinsichtlich der für die kanadischen Wertpapiere aufgewendeten Schuldzinsen von 423.919 DM ergebe sich gegenüber dem bestandskräftigen Bescheid vom 9. September 1975 eine Änderungsbefugnis - nämlich aus § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 -.

Es errechnete die Bemessungsgrundlage wie folgt:

 

Bestandskräftig festgesetztes zu

 

versteuerndes Einkommen

1.080.673 DM

- Verlust T-KG

109.349 DM

- Schuldzinsen kanadische Wertpapiere

423.919 DM

 

-------------------

zu versteuerndes Einkommen hieraus:

547.405 DM

und setzte die Einkommensteuerschuld für das Streitjahr (in Abänderung des Einkommensteuerbescheids vom 6. April 1987) auf 267.517 DM fest.

Mit der Revision macht das FA Verletzung des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 geltend. Es ist weiterhin der Meinung, die Bindungswirkung des die KG betreffenden Feststellungsbescheids habe sich nicht auf die Abziehbarkeit der Darlehenszinsen von 423.919 DM erstreckt.

Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG hat den angefochtenen Bescheid zu Recht in dem von den Klägern (zuletzt) begehrten Umfang geändert.

1. Verjährung, die einer solchen Änderung hätte entgegenstehen können (vgl. z. B. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 22. Februar 1991 III R 35/87, BFHE 164, 198, BStBl II 1991, 717), war noch nicht eingetreten. Dies steht für die verschiedenen unstreitigen Folgeänderungen (s. dazu auch unter 2.) außer Frage und ergibt sich hinsichtlich des allein noch streitigen Teils der Steuerschuld (Schuldzinsenabzug für die kanadischen Wertpapiere) trotz insoweit fehlender ausdrücklicher Tatsachenfeststellungen aus dem im FG-Urteil festgehaltenen Geschehensablauf.

Die Verjährung, die sich, anders als die Korrektur, nach altem Recht richtete (vgl. § 415 Abs. 1 AO 1977 sowie Art. 97 § 10 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO 1977 - vom 14. Dezember 1976, BGBl. I 1976, 3341, BStBl I 1976, 694 einerseits und Art. 97 § 9 EGAO 1977 andererseits; BFH-Urteile vom 7. November 1990 X R 143/88, BFHE 163, 329, BStBl II 1991, 325; in BFHE 164, 198, BStBl II 1991, 717, sowie vom 18. Dezember 1991 X R 38/90, BFHE 167, 1, BStBl II 1992, 504), war auf fünf Jahre bemessen (§ 144 Abs. 1 Satz 1 der Reichsabgabenordnung - AO -). Sie hatte mit Ablauf des Kalenderjahres begonnen, in dem die Steuererklärung der Kläger beim FA eingegangen war (§ 145 Abs. 2 Nr. 1 AO). Dieses Datum ist aus dem erstinstanzlichen Urteil nicht ersichtlich. Das ist jedoch unschädlich: Denn selbst wenn die Erklärung zum frühestmöglichen Zeitpunkt - im Verlauf des Jahres 1974 - beim FA abgegeben worden sein sollte, wäre mit der den Verjährungsablauf nach § 146 a Abs. 3 AO hemmenden Betriebsprüfung im Jahre 1976 noch rechtzeitig begonnen worden. Deren Hemmungswirkung aber dauert hinsichtlich des streitbefangenen Sachverhaltskomplexes noch immer an, weil insoweit zwar der daraufhin gegenüber der KG ergangene Feststellungsbescheid unanfechtbar geworden ist, nicht aber der (im Umfang der Auswertung) ebenfalls aufgrund dieser Betriebsprüfung ergangene Einkommensteuerbescheid vom 6. März 1978 (vgl. dazu BFH-Urteil vom 10. August 1989 III R 5/87, BFHE 158, 109, BStBl II 1990, 38). Gleiches gilt für die diesen Einkommensteuerbescheid abändernden weiteren Bescheide zum streitigen Veranlagungszeitraum, bis hin zu demjenigen vom 6. April 1987, der Gegenstand dieses Verfahrens ist (vgl. § 365 Abs. 3 AO 1977 und zur Rechtslage vor dem 1. Januar 1987: BFH-Urteil vom 16. Oktober 1979 VII R 53/77, BFHE 129, 235, BStBl II 1980, 165; zum Verhältnis solcher Bescheide zueinander: BFH-Entscheidungen vom 25. Oktober 1972 GrS 1/72, BFHE 108, 1, 5, BStBl II 1973, 231, und vom 4. Februar 1976 I R 203/73, BFHE 119, 168, BStBl II 1976, 551).

2. Die in diesem Stadium des Verfahrens noch immer unberücksichtigten, in ihrer materiellen Berechtigung inzwischen unstreitigen Schuldzinsenabzüge können (wegen des Eintritts der Bestandskraft) die Steuerfestsetzung für das Streitjahr nur mehr auf zweifache Weise beeinflussen:

-"aktiv", soweit ein Korrekturtatbestand dies rechtfertigt,

-"passiv", im Wege der Kompensation gegenüber einer Änderung zum Nachteil der Kläger (§ 177 Abs. 1 AO 1977).

Zutreffend hat das FG in diesem Zusammenhang außerdem darauf hingewiesen, daß die verschiedenen Änderungen, die der Einkommensteuerbescheid vom 9. September 1975 erfahren hat, jeweils nur insoweit angegriffen werden dürfen, als die Änderung reicht (§ 351 Abs. 1 AO 1977 bzw. § 42 FGO i. V. m. § 351 Abs. 1 AO 1977). Was schließlich die Anwendung des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 angeht, folgt eine weitere Einschränkung daraus, daß die Änderungen der verschiedenen Grundlagenbescheide in diesem Verfahren dem Grunde wie der Höhe nach (auch hinsichtlich der Verjährung) als rechtmäßig hinzunehmen sind (§ 351 Abs. 2 AO 1977 bzw. § 42 FGO i. V. m. § 351 Abs. 2 AO 1977).

3. Unschädlich, weil (wegen der Bindung an das Revisionsbegehren einerseits und des Verbots der Schlechterstellung andererseits) ohne Einfluß auf die revisionsrechtliche Prüfung, ist der Umstand, daß das FG seiner Urteilsfindung durchweg die von den verschiedenen Änderungen betroffenen Bemessungsgrundlagen und nicht - wie dies nach der Struktur des Steuerbescheids (§ 157 AO 1977) und der Systematik der Änderungsvorschriften (§§ 172 ff. AO 1977) erforderlich gewesen wäre - deren jeweilige Auswirkung auf die Steuerfestsetzung zugrunde gelegt hat.

4. Mit Recht hat das FG hinsichtlich der nachträglich geltend gemachten, an die Lebensversicherung G gezahlten Schuldzinsen eine Korrekturmöglichkeit verneint und ihnen Bedeutung nur im Rahmen des § 177 AO 1977 beigemessen.

a) Die einzige hier denkbare Änderungsregelung des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 greift - wie das FA zutreffend ausgeführt hat - im Streitfall deshalb nicht ein, weil der Schuldzinsenabzug dem FA bei Erlaß des Bescheides vom 9. September 1975 bekannt war, bzw., wenn man nachträgliches Bekanntwerden annimmt, deshalb nicht, weil den Klägern insoweit grobes Verschulden anzulasten ist (vgl. BFH-Urteile vom 12. Mai 1989 III R 200/85, BFHE 157, 22, BStBl II 1989, 920, und vom 9. August 1991 III R 24/87, BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65; zur Zurechnung evtl. Drittverschuldens: BFH-Urteile vom 7. November 1990 X R 143/88, BFHE 163, 329, BStBl II 1991, 325, und vom 28. August 1992 VI R 93/89, BFH/NV 1993, 147, 149).

b) Nach § 177 Abs. 1 AO 1977 sind, wenn die Voraussetzungen für die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids zuungunsten des Steuerpflichtigen vorliegen, soweit die Änderung reicht, zugunsten und zuungunsten des Steuerpflichtigen solche Rechtsfehler zu berichtigen, die nicht Anlaß der Aufhebung oder Änderung sind. - Nach § 177 Abs. 2 AO 1977 gilt das gleiche für den Fall einer Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen.

aa) Diese in § 177 Abs. 1 AO 1977 einerseits und § 177 Abs. 2 AO 1977 andererseits enthaltene Kompensationsvorschrift regelt voneinander unabhängige Tatbestände. Liegen sowohl die Voraussetzungen für Änderungen zugunsten des Steuerpflichtigen als auch solche für Korrekturen zu dessen Ungunsten vor, sind die oberen und unteren Grenzen der Fehlerberichtigung jeweils getrennt voneinander zu ermitteln (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung u. a., 14. Aufl., § 177 AO 1977 Tz. 4; Woerner/Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 8. Aufl., 1988 S. 156 - jeweils m. w. N. -).

bb) Die Nichtberücksichtigung der im Streitjahr an die Lebensversicherung G gezahlten Schuldzinsen ist ein Rechtsfehler im Sinne dieser Regelung. Es gilt ein weiter Fehlerbegriff. Auf ein Verschulden kommt es insoweit ebensowenig an wie darauf, daß der Steueranspruch möglicherweise insoweit verjährt sein könnte (Urteil in BFHE 167, 1, BStBl II 1992, 504, m. w. N.).

Daß die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für den Schuldzinsenabzug erfüllt sind, hat das FG zutreffend angenommen. Auch das FA hat dies inzwischen anerkannt und seine anfänglichen Einwände gegen einen Teil des Schuldzinsenabzugs (die Vorausleistungen für 1974) fallengelassen.

cc) Auf den Streitfall bezogen bedeutet dies zunächst, daß die verschiedenen Erhöhungen, die sich gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 im Gesamtbetrag von 453.643 DM für die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuerschuld 1973 nachträglich ergeben haben (279.327 DM hinsichtlich der Gewinnanteile "X"; 103.060 DM für die Beteiligung "S"; 71.256 DM für die Beteiligung "Y"), nach § 177 Abs. 1 AO 1977 zunächst mit den Rechtsfehlern zuungunsten der Kläger, d. h. den nicht berücksichtigten Schuldzinsen für die Lebensversicherung G, zu verrechnen sind, hierdurch aufgezehrt werden und auch für eine etwaige Saldierung nicht mehr in Betracht kommen.

5. Beizupflichten ist dem FG auch darin, daß sich aus der Nichtberücksichtigung der Schuldzinsen in Höhe von 423.919 DM für die Anschaffung der kanadischen Wertpapiere in dem KG-Grundlagenbescheid eine weitere Durchbrechung der Bestandskraft des Einkommensteuerbescheids vom 9. September 1975 ergibt.

a) Zwar sind insoweit nicht die Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 AO 1977 (i. V. m. § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) erfüllt, weil dieser Sachverhalt dem FA (als Wohnsitz-FA) bei Erlaß des Bescheids vom 9. September 1975 nicht bekannt war und als Gegenstand einer fehlerhaften Zuordnung im Sinne dieser Korrekturregelung ausscheidet.

b) Rechtsgrundlage für die insoweit vorzunehmende Änderung ist dagegen § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977. Danach ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid, dem Bindungswirkung für den Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird.

Es entspricht der Bedeutung dieser Regelung im Rahmen der Aufgabenverteilung zwischen Grundlagen- und Folgebescheid, ihren Anwendungsbereich in Fällen der hier streitigen Art nicht auf die negative Aussage des ändernden Grundlagenbescheids zu beschränken, die sich hier in ihrem unmittelbar bindenden Gehalt tatsächlich in der Bekundung erschöpft, daß die streitigen Zinsen nicht (Sonder-)Betriebsausgaben sind. Der Anwendungsbereich der Vorschrift ist vielmehr auch auf die Fälle zu erstrecken, in denen ein zur Tatbestandsverwirklichung i. S. der § 3 Abs. 1 StAnpG, § 38 AO 1977 gehörender Sachverhalt (Sachverhaltskomplex), der zunächst in einem Grundlagenbescheid geregelt war, durch dessen Aufhebung oder Änderung aus dessen Regelungsbereich ausgegliedert und damit aus der Bindungswirkung entlassen wird (im Ergebnis ebenso BFH-Urteile vom 11. April 1990 I R 82/86, BFH/NV 1991, 143, 144, m. w. N., für den anders gefaßten § 218 Abs. 4 AO, und vom 25. Juni 1991 IX R 57/88, BFHE 164, 502, BStBl II 1991, 821; zur redaktionellen Bedeutung der Gesetzesänderung: BFH-Urteile vom 4. Juli 1989 VIII R 217/84, BFHE 157, 427, 430, BStBl II 1989, 792, 793, und in BFH/NV 1991, 143, sowie im übrigen auch BFH-Urteil vom 30. Oktober 1986 IV R 175/84, BFHE 148, 119, BStBl II 1987, 89).

Der Senat schließt sich den Argumenten des I. Senats (in BFH/NV 1991, 143) und des IX. Senats (in BFHE 164, 502, BStBl II 1991, 821) an und leitet außerdem dieses Gesetzesverständnis vor allem aus der Erwägung her, daß anders nicht sicherzustellen ist, daß möglichst jeder materiell-rechtlich relevante Sachverhalt gemäß dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung einer Einzelfallregelung i. S. des § 118 Satz 1 AO 1977 zugeführt wird: Denn nach den anderen in solchen Fällen in Betracht kommenden Korrekturregelungen kann sonst nicht ausgeschlossen werden, daß ein solcher Sachverhalt nur deshalb ungeregelt bleibt, weil er fälschlicherweise zunächst dem Regelungsbereich eines Feststellungsbescheids zugeordnet wurde und die nach Entdeckung dieses Fehlers erforderliche Erfassung im (inzwischen bestandskräftigen) Einkommensteuerbescheid am Eintritt der Verjährung, an einengenden Tatbestandsvoraussetzungen wie z. B. dem Verschulden des Steuerschuldners (§ 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977) oder am Fehlen eines der verschiedenen Tatbestandsmerkmale des § 174 Abs. 3 oder Abs. 4 AO 1977 scheitert, ohne daß dies im zuvor bestehenden Abhängigkeitsverhältnis zwischen Grundlagen- und Folgebescheid seine Rechtfertigung fände. Die für das Verhältnis solcher Steuerverwaltungsakte angeordnete Bindungswirkung nämlich gilt uneingeschränkt auch in den Fällen, in denen - wie im Streitfall - ein Sachverhalt zu Unrecht durch Grundlagenbescheid geregelt wird (BFH-Urteile vom 21. Juni 1989 X R 14/88, BFHE 157, 382, BStBl II 1989, 881; vom 31. Oktober 1991 X R 126/90, BFH/NV 1992, 363, m. w. N.).

Die Voraussetzungen des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 waren hier bezüglich des Schuldzinsenabzugs in Höhe von 423.919 DM erfüllt: Der Sachverhalt war insoweit einer Regelung durch das FA im Einkommensteuerbescheid zunächst entzogen (§§ 179 ff., 182 Abs. 1 Satz 1, 351 Abs. 2 AO 1977). Er bedurfte jedoch nach dem damals geltenden materiellen Recht einer Einzelfallregelung i. S. der §§ 118, 155 ff. AO 1977. Unabhängig davon, daß die Schuldzinsen dem privaten Bereich zuzuordnen waren, waren sie nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes in der bis 1973 geltenden Fassung von Amts wegen als Sonderausgaben zu berücksichtigen. Dies änderte sich erst durch das Steueränderungsgesetz 1973 (BGBl. I 1973, 676, BStBl I 1973, 545; dazu Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, 20. Aufl., § 10 EStG Anm. 3).