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  BFH-Urteil vom 8.3.1994 (IX R 58/93) BStBl. 1994 II S. 571

1. Erläßt der Berichterstatter nach § 79 a Abs. 2 i. V. m. Abs. 4 FGO einen Gerichtsbescheid (§ 90 a FGO), der nicht unmißverständlich erkennen läßt, auf welcher verfahrensrechtlichen Grundlage der Richter entschieden hat, so ist dagegen nicht nur der Antrag auf mündliche Verhandlung nach § 79 a Abs. 2 Satz 2 FGO gegeben.

2. Gegen Gerichtsbescheide (§ 90 a FGO) ist unter den Voraussetzungen des § 116 FGO die Revision statthaft.

3. Das erkennende Gericht ist nicht vorschriftsmäßig besetzt (§ 116 FGO), wenn der Berichterstatter allein entscheidet, nachdem bereits vor dem Senat mündlich verhandelt worden ist.

FGO §§ 6, 79 a, 90 a, 103, 116 Nr. 1, 119 Nr. 1; GG Art. 19 Abs. 4.

Vorinstanz: Hessisches FG

Sachverhalt

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, welche Rechtsbehelfe gegen einen von dem Berichterstatter des Finanzgerichts (FG) erlassenen Gerichtsbescheid (§ 90 a der Finanzgerichtsordnung - FGO -) statthaft sind, wenn zuvor vor dem Senat mündlich verhandelt worden ist und der Gerichtsbescheid nicht zweifelsfrei erkennen läßt, auf welcher verfahrensrechtlichen Grundlage der Berichterstatter entschieden hat.

In der Streitsache fand eine mündliche Verhandlung vor dem zuständigen Senat des FG statt. Wie aus dem Sitzungsprotokoll hervorgeht, erklärte der Vorsitzende nach Erörterung der Streitsache die mündliche Verhandlung für geschlossen und verkündete den Beschluß, daß den Beteiligten eine Entscheidung zugestellt werde. Nachdem der Prozeßbevollmächtigte des heutigen Klägers und Revisionsklägers (Kläger) das Ableben der damaligen Klägerin (Rechtsvorgängerin des Klägers) mitgeteilt hatte, wies ihn der Vorsitzende unter dem 10. Dezember 1991 darauf hin, daß das Verfahren nicht unterbrochen sei und ihm das Urteil aufgrund der mündlichen Verhandlung zugestellt werde. Auf die Anfrage des Prozeßbevollmächtigten des Klägers vom 23. Juni 1992, wann mit der Zustellung des Urteils zu rechnen sei, kündigte der Vorsitzende die Zustellung für Anfang August 1992 an. Der Prozeßbevollmächtigte ersuchte in der Folgezeit noch mehrmals, zuletzt am 27. Januar 1993, um Zustellung der Entscheidung. Im März 1993 lehnte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers den Vorsitzenden Richter des Senats des FG wegen Befangenheit ab. Den Grund für die Besorgnis der Befangenheit sah er darin, daß nach der mündlichen Verhandlung vom 25. September 1991 das Urteil noch immer nicht zugestellt worden und er auf seine entsprechenden Anfragen ohne Antwort geblieben war. Darauf bestellte Richter am FG X, der als Beisitzer an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hatte, sich - als Vertreter des Senatsvorsitzenden - durch Verfügung vom 22. April 1993 selbst zum neuen Berichterstatter. Er wies sodann "als Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid" vom 29. April 1993 die Klage ab. Dem Gerichtsbescheid war ein Schreiben gleichen Datums beigefügt, mit dem der Richter mitteilte, daß er zum Berichterstatter bestellt worden sei. In der Rechtsmittelbelehrung des Gerichtsbescheids war darauf hingewiesen, daß jeder der Beteiligten mündliche Verhandlung beantragen könne. Werde der Antrag nicht rechtzeitig gestellt, wirke der Gerichtsbescheid als unanfechtbares Urteil.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Revision. Zugleich hat er zusätzlich Nichtzulassungsbeschwerde (IX B 85/93) eingelegt.

Er meint, diese Rechtsbehelfe würden durch § 79 a Abs. 2 Satz 2 FGO im Streitfall nicht ausgeschlossen, weil die Verfahrensweise des FG greifbar gesetzwidrig und willkürlich sei (unter Hinweis auf Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1993, 135). Es ergebe keinen Sinn, den Kläger allein auf den Antrag auf mündliche Verhandlung zu verweisen, nachdem bereits eine mündliche Verhandlung vor dem Senat stattgefunden habe.

Er stützt die Revision auf § 116 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 5 FGO. Der gesetzliche Richter sei der Senat in der Besetzung der mündlichen Verhandlung gewesen. Dieser habe nach der mündlichen Verhandlung nur noch ein Urteil, aber keinen Gerichtsbescheid erlassen können. Durch Bestellung eines neuen Berichterstatters nach der mündlichen Verhandlung sei die Besetzung der Richterbank manipuliert worden. Es sei auch nicht erkennbar gewesen, wer den Berichterstatter bzw. Einzelrichter bestellt habe. Außerdem sei nach der mündlichen Verhandlung das Urteil nicht innerhalb von fünf Monaten zur Geschäftsstelle gelangt.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist zulässig und begründet. Nach § 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO ist die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

1. Die Revision ist zulässig.

a) Ihre Statthaftigkeit scheitert nicht an § 79 a Abs. 2 Satz 2 FGO. Denn die Vorentscheidung läßt nicht zweifelsfrei erkennen, daß es sich um eine Entscheidung des bestellten Berichterstatters nach § 79 a Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Abs. 4 FGO handelt.

aa) Nach § 79 a Abs. 2 Satz 1 FGO kann der Vorsitzende ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden. Nach Satz 2 der Vorschrift ist dagegen nur der Antrag auf mündliche Verhandlung gegeben. Nach Abs. 4 entscheidet anstelle des Vorsitzenden der Berichterstatter, wenn ein solcher bestellt ist.

Gegen Gerichtsbescheide, die durch den Vorsitzenden oder den bestellten Berichterstatter nach dieser Vorschrift erlassen worden sind, ist ausschließlich der Antrag auf mündliche Verhandlung gegeben. Revision oder Nichtzulassungsbeschwerde sind nicht statthaft (Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 3. November 1993 II R 77/93, BFHE 172, 319, BStBl II 1994, 118). Dieser Ausschluß der allgemein nach der FGO gegen gerichtliche Entscheidungen vorgesehenen Rechtsmittel gilt mit Rücksicht auf das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes - GG -) allerdings nur dann, wenn die Prozeßbeteiligten - wie im Fall des vorgenannten BFH-Urteils - der Entscheidung eindeutig entnehmen können, daß es sich um einen Anwendungsfall der Regelung des § 79 a Abs. 2 i. V. m. Abs. 4 FGO handelt. Sind die verfahrensrechtlichen Grundlagen eines einzelrichterlichen Gerichtsbescheids hingegen unklar, so kann eine dagegen eingelegte Revision nicht mit der Begründung als unzulässig verworfen werden, es sei lediglich Antrag auf mündliche Verhandlung statthaft. Ebenso wie den Beteiligten kein Nachteil entstehen darf, wenn das FG eine der Art nach falsche Entscheidung (z. B. Urteil statt Beschluß) getroffen hat (Grundsatz der Meistbegünstigung; BFH-Urteile vom 12. August 1981 I B 72/80, BFHE 134, 216, 218, BStBl II 1982, 128; vom 13. Juli 1989 IV B 44/88, BFH/NV 1990, 247), darf der Rechtsschutz auch nicht dadurch verkürzt werden, daß aus der Entscheidung selbst nicht eindeutig zu erkennen ist, auf welcher verfahrensrechtlichen Grundlage der Berichterstatter allein entschieden hat. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Beteiligten im Einzelfall insoweit Zweifel hatten, sondern darauf, ob die Gerichtsentscheidung insoweit objektiv unklar war (vgl. BFH-Urteil vom 12. Februar 1987 V R 116/86, BFHE 149, 120, 121, BStBl II 1987, 438).

Unklarheiten über die verfahrensrechtlichen Grundlagen der Entscheidung können nach der ab 1. Januar 1993 geltenden Fassung der FGO insbesondere deshalb zu einer Verkürzung des Rechtsschutzes führen, weil nunmehr drei verschiedene Arten einzelrichterlicher Gerichtsbescheide eingeführt worden sind, für die unterschiedliche Voraussetzungen gelten und gegen die zum Teil unterschiedliche Rechtsbehelfe statthaft sind: Zum einen der Gerichtsbescheid (§ 90 a FGO) eines Senatsmitglieds, dem der Senat den Rechtsstreit - wenn dieser keine besonderen Schwierigkeiten und keine grundsätzliche Bedeutung aufweist - zur Entscheidung übertragen hat (§ 6 Abs. 1 FGO), zum anderen der Gerichtsbescheid des im Einverständnis der Beteiligten entscheidenden Vorsitzenden oder Berichterstatters (§ 79 a Abs. 3 i. V. m. Abs. 4 FGO) und schließlich der an keine zusätzlichen Voraussetzungen gebundene Gerichtsbescheid des Vorsitzenden oder des Berichterstatters nach § 79 a Abs. 2 i. V. m. Abs. 4 FGO. Gegen die vom Einzelrichter i. S. des § 6 FGO erlassenen Gerichtsbescheide sind die allgemein für Gerichtsbescheide des Senats vorgesehenen Rechtsbehelfe gegeben, d. h. entweder Revision oder aber Nichtzulassungsbeschwerde/Antrag auf mündliche Verhandlung (§ 90 a Abs. 2 FGO). Dagegen kann der Gerichtsbescheid nach § 79 a Abs. 2 i. V. m. Abs. 4 FGO nur mit dem Antrag auf mündliche Verhandlung angegriffen werden. Welche Rechtsbehelfe gegen im Einverständnis der Beteiligten erlassene Gerichtsbescheide nach § 79 a Abs. 3 i. V. m. Abs. 4 FGO statthaft sind, ist höchstrichterlich noch nicht geklärt (zum Meinungsstand s. BFH in BFHE 172, 319, BStBl II 1994, 118, sowie Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., 1993, Anm. 21 zu § 79 a). Schließlich ist auch die Begriffswahl in den genannten Vorschriften nicht einheitlich. § 6 Abs. 1 FGO eröffnet die Übertragung des Rechtsstreits auf ein "Mitglied" des Senats (zur Frage der Auswahl s. Gräber/Koch, a. a. O., Anm. 15 zu § 6 m. w. N.). Dagegen spricht § 79 a FGO vom Vorsitzenden (Abs. 2 und 3) und - vorrangig - vom bestellten Berichterstatter (Abs. 4; dazu Gräber/Koch, a. a. O., Anm. 4 zu § 79 a). Der Begriff des "Einzelrichters" findet sich in § 6 FGO, nicht aber in § 79 a FGO. § 5 Abs. 4 FGO, der die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter an Entscheidungen des "Einzelrichters" ermöglicht, soll aber auch für die Fälle des § 79 a FGO gelten (BTDrucks 12/3676, S. 20).

Mit Rücksicht auf die Kompliziertheit der beschriebenen Regelungen, die es den Beteiligten erschwert, die Voraussetzungen einzelrichterlicher Gerichtsbescheide zu überprüfen und die jeweils statthaften Rechtsbehelfe zu erkennen, erfordert es die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, daß die einzelrichterlichen Entscheidungen i. S. des § 79 a FGO unmißverständlich - am deutlichsten durch Anführung der einschlägigen Vorschrift im Rubrum - erkennen lassen, auf welcher verfahrensrechtlichen Grundlage der Richter entschieden hat. Dazu reicht es nicht aus, den Gerichtsbescheid im Rubrum lediglich als Entscheidung durch den "Einzelrichter" zu kennzeichnen. Auch die Rechtsmittelbelehrung des Gerichtsbescheids vermag für sich allein eine im übrigen bestehende Unklarheit über die verfahrensrechtlichen Grundlagen der Entscheidung nicht zu beseitigen. Ebensowenig wie die Rechtsmittelbelehrung einen darin unzutreffend genannten Rechtsbehelf eröffnet (BFH-Urteil vom 8. Januar 1991 III R 196/90, BFH/NV 1991, 547), bestimmt sie die verfahrensrechtlichen Grundlagen einer einzelrichterlichen Entscheidung. Vielmehr ist die Rechtsmittelbelehrung anhand der Entscheidung selbst zu überprüfen; eine unrichtige Belehrung setzt die Rechtsmittelfrist nicht in Lauf (§ 55 FGO).

bb) Nach diesen Maßstäben ist die Revision nicht nach § 79 a Abs. 2 Satz 2 FGO unstatthaft, weil im Streitfall der angefochtene Gerichtsbescheid hinsichtlich seiner verfahrensrechtlichen Grundlagen unklar war. Das Rubrum läßt nur erkennen, daß Richter am FG X den Gerichtsbescheid "als Einzelrichter" erlassen hat. Auch die Entscheidungsgründe enthalten dazu keinen weiteren Hinweis. Das zeitgleich mit dem Gerichtsbescheid an den Kläger versandte Schreiben des Berichterstatters vermag die Unklarheit ebenfalls nicht zu beseitigen. Maßgebend ist der Inhalt der Entscheidung selbst. Deshalb bedarf es auch keiner Entscheidung, ob die Rechtsmittelbelehrung zutreffend war.

b) Die Revision erfüllt auch die Anforderungen einer zulassungsfreien Revision nach § 116 Abs. 1 i. V. m. § 90 a Abs. 2 FGO. Der Kläger hat die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts als wesentlichen Verfahrensmangel i. S. von § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO schlüssig gerügt.

2. Die Revision ist auch begründet. Die angefochtene Entscheidung ist aufzuheben, weil das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war (§ 119 Nr. 1 FGO). Das FG hat die angefochtene Entscheidung durch Richter am FG X als Einzelrichter erlassen, obwohl in derselben Sache eine mündliche Verhandlung vor dem gesamten Senat stattgefunden hatte. Nach Schluß der mündlichen Verhandlung war gesetzlicher Richter allein der gesamte Senat (vgl. § 103 FGO). An seiner Stelle durfte nicht der Einzelrichter entscheiden. § 6 Abs. 2 FGO schließt die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter nach der mündlichen Verhandlung ausdrücklich aus. § 79 a Abs. 2 und 4 FGO sehen zur Entlastung des Senats zunächst einen Gerichtsbescheid ohne mündliche Verhandlung vor, damit nicht sogleich der Senat mit der Sache befaßt wird (BTDrucks 12/1061, S. 16 f.). Diese Regelung gestattet es dem Vorsitzenden oder Berichterstatter aber nicht, nach einer mündlichen Verhandlung vor dem Senat dessen Entscheidungskompetenz an sich zu ziehen. Anstelle einer Sachentscheidung hätte der Senat des FG allenfalls in der Besetzung der mündlichen Verhandlung die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beschließen können (§ 93 Abs. 3 Satz 2 FGO).

3. Entgegen der Auffassung des FA ist es unerheblich, ob die angefochtene Entscheidung materiell-rechtlich zutreffend ist. Da ein absoluter Revisionsgrund i. S. von § 119 Nr. 1 FGO gegeben ist, ist das angefochtene Urteil in jedem Falle als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen. Die Sache ist danach entsprechend dem Antrag der Revision an das FG zurückzuverweisen.