| Home | Index | EStG | Neuzugang | Impressum  
       

 

 

 

 

 

  BFH-Urteil vom 27.4.1994 (XI R 41/93) BStBl. 1994 II S. 653

Zahlungen an einen von der Arbeit freigestellten Arbeitnehmer, die aufgrund eines arbeitsgerichtlichen Vergleichs bis zum vereinbarten Ende des Arbeitsverhältnisses geleistet werden, sind keine Abfindungen.

EStG § 3 Nr. 9.

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg

Sachverhalt

I.

Der 1989 verstorbene Ehemann (E) der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) war seit dem 1. Januar 1969 bei der Fa. B als Buchhalter angestellt. Er erlitt 1978 einen Herzinfarkt und war bis zum 30. November 1978 krank. Am 16. Dezember 1982 erlitt E einen zweiten Herzinfarkt. Nach einer weiteren Erkrankung meldete sich E am 2. Mai 1984 wieder zur Arbeitsaufnahme. B hingegen hielt E weiterhin für arbeitsunfähig, verwehrte ihm die Arbeitsaufnahme und verweigerte jegliche Lohnzahlung. Vor dem Landesarbeitsgericht einigten sich E und B am 13. Februar 1986 durch Vergleich, daß das Arbeitsverhältnis zum 31. Dezember 1987 aufgelöst wird. E wurde bis zu diesem Zeitpunkt unter Fortzahlung der Bezüge freigestellt.

Die Klägerin begehrte die Anwendung des § 3 Nr. 9 des Einkommensteuergesetzes (EStG) mit der Begründung, daß die Fortzahlung des Lohnes lediglich eine Modifizierung der Abfindung darstelle. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) behandelte die Zahlungen als laufenden Arbeitslohn während eines bestehenden Dienstverhältnisses. Der Einspruch blieb erfolglos. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Die vereinbarten Zahlungen seien Arbeitslohn aufgrund eines bestehenden Arbeitsverhältnisses gewesen. Dagegen werde eine Abfindung als Ausgleich für den Verlust des Arbeitsplatzes gewährt. Auch bei einer sog. Freistellung sei der arbeitsrechtlich vereinbarte Auflösungszeitpunkt maßgeblich.

Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung des § 3 Nr. 9 EStG. In den bisher vom Bundesfinanzhof (BFH) entschiedenen Fällen sei regelmäßig auf das vereinbarte Ende des Arbeitsverhältnisses abgestellt worden. Vergütungen für die Zeit bis zur formellen Auflösung des Arbeitsverhältnisses seien von der Steuerbefreiung ausgenommen. Diese (formale) Gesetzesauslegung, die allein auf das formelle Ende des Arbeitsverhältnisses abstelle, werde nicht allen Fällen gerecht (vgl. Urteil des FG Bremen vom 20. Februar 1981 I 111/79, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1981, 391). Die sehr lange Fortzahlung der Bezüge sei nur unter dem Gesichtspunkt verständlich, daß sie wegen der Auflösung des Dienstverhältnisses gezahlt worden sei, und zwar als Ausgleich für den Verlust des Arbeitsplatzes, aber nicht als Zahlung eines erdienten Anspruchs. Das Dienstverhältnis sei hier mit dem Abschluß des Vergleichs tatsächlich beendet worden, so daß für die Auslegung des § 3 Nr. 9 EStG auf diesen Tag abgestellt werden könne.

Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils einen Freibetrag nach § 3 Nr. 9 EStG in Höhe von 30.000 DM zu berücksichtigen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Bei der Auslegung des § 3 Nr. 9 EStG sei auf das formelle, d. h. das bürgerlich-rechtliche oder arbeitsrechtliche Ende des Dienstverhältnisses abzustellen. Dienstverhältnis i. S. des § 3 Nr. 9 EStG sei die vertragliche Rechtsbeziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Wenn § 3 Nr. 9 EStG vom Bestehen des Dienstverhältnisses spreche, werde mit dieser Wortwahl auf die Dauer der Rechtsbeziehungen abgestellt (Peusquens, Betriebs-Berater - BB - 1980, 296). Soweit die Klägerin vorbringe, daß das Dienstverhältnis mit Abschluß des arbeitsgerichtlichen Vergleichs faktisch beendet gewesen sei, könne dem nicht gefolgt werden. Die Rechtsbeziehungen zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer seien noch nicht beendet gewesen. Das Dienstverhältnis habe rechtlich in einer Vielzahl von Rechten und Pflichten fortbestanden; es sei lediglich eine der Hauptpflichten (Arbeitsleistung des Arbeitnehmers) entfallen. Hätte das Dienstverhältnis bereits zum Zeitpunkt des Vergleichs beendet werden sollen, hätte dies problemlos vereinbart werden können. Das Urteil des FG Bremen in EFG 1981, 391 verkenne, daß der Wegfall der Arbeitspflicht durchaus auch im Rahmen eines Dienstverhältnisses bei Fortbestand einer Vielzahl anderer Rechte und Pflichten möglich sei.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Die Voraussetzungen des § 3 Nr. 9 EStG liegen nicht vor.

1. Gemäß § 3 Nr. 9 Satz 1 EStG sind Abfindungen wegen einer vom Arbeitgeber veranlaßten oder gerichtlich ausgesprochenen Auflösung des Dienstverhältnisses bis zu einem Betrag von 24.000 DM steuerfrei. Nach Satz 2 beträgt der Höchstbetrag 30.000 DM, wenn der Arbeitnehmer das 50. Lebensjahr vollendet und das Dienstverhältnis mindestens 15 Jahre bestanden hat.

Unter Auflösung des Dienstverhältnisses ist die nach bürgerlichem (Arbeits-)Recht wirksame Auflösung zu verstehen (BFH-Urteil vom 13. Oktober 1978 VI R 91/77, BFHE 126, 399, BStBl II 1979, 155; Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, 20. Aufl., § 3 Nr. 9 EStG Anm. 13; ferner Peusquens, BB 1980, 296).

Die Beteiligten haben es damit - bis an die Grenze des Gestaltungsmißbrauchs - in der Hand, durch vertragliche Vereinbarung zu bestimmen, in welchem Umfang sie steuerfreie Abfindungen an die Stelle von steuerpflichtigen Lohnansprüchen treten lassen wollen (BFH-Urteile in BFHE 126, 399, BStBl II 1979, 155 - unter 3. -, und vom 10. Oktober 1986 VI R 178/83, BFHE 148, 257, BStBl II 1987, 186). Auch die BFH-Urteile vom 11. Januar 1980 VI R 165/77 (BFHE 129, 479, BStBl II 1980, 205) und vom 24. April 1991 XI R 9/87 (BFHE 164, 279, BStBl II 1991, 723) gehen von der Maßgeblichkeit der vereinbarten Auflösung aus. Daher ist eine Verlängerung des Arbeitsverhältnisses, wie sie im Streitfall durch die Freistellung von der Arbeitspflicht vereinbart worden ist, steuerrechtlich ebenso zu beachten wie der umgekehrte Fall, in dem das Dienstverhältnis wegen einer höheren Abfindung vorzeitig aufgelöst wird.

2. Im Streitfall sind die fortgezahlten Bezüge nicht als Abfindungen wegen einer Auflösung des Dienstverhältnisses zu beurteilen.

a) Entgegen der Auffassung der Klägerin ist das Arbeitsverhältnis nicht mit Abschluß des Vergleichs beendet worden. Nach dem Inhalt des Vergleichs wurde das Arbeitsverhältnis erst zum 31. Dezember 1987 aufgelöst. Der Senat sieht keine Möglichkeit, sich über den von den Beteiligten ausgehandelten Auflösungstermin hinwegzusetzen und auf den Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses abzustellen. Maßgeblich ist der von den Beteiligten vereinbarte Zeitpunkt.

b) Die Freistellung von der Arbeitspflicht führt zu keiner anderen Beurteilung. Zwar entfällt damit eine der Hauptpflichten des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsvertrag. Der grundsätzliche Bestand des Arbeitsverhältnisses wird durch die Freistellung jedoch nicht berührt; entsprechende vertragliche Regelungen (mit und ohne Lohnfortzahlung) sind jederzeit möglich (vgl. Schaub in Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch - MünchKomm -, 2. Aufl., 1988, § 615 Rdnr. 66; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 7. Aufl., 1992, § 95 III, § 110 III; Bauer, Arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge, 3. Aufl., 1993, Rdnrn. 413 f., 491 f.; Peusquens, BB 1980, 296). Wie das FG zu Recht ausgeführt hat, beseitigt die Freistellung lediglich die Arbeitspflicht und den Anspruch des Arbeitnehmers, Beschäftigung verlangen zu können (Winderlich, BB 1991, 271 m. w. N.). Eine Vielzahl von Rechten und Pflichten bleibt jedoch bestehen, z. B. das Recht des Arbeitnehmers auf Lohnfortzahlung, auf Sozialleistungen, auf Zahlung einer Tantieme (Bauer, a. a. O., Rdnrn. 491 f.). Zahlungen, die bei Freistellung von der Arbeit geleistet werden, sind daher keine Abfindungen wegen der Auflösung des Dienstverhältnisses, sondern Leistungen in Erfüllung des (modifizierten) Dienstverhältnisses. Nicht gefolgt werden kann infolgedessen der Auffassung des FG Bremen (Urteil vom 20. Februar 1981 I 111/79, EFG 1981, 391), daß ein Vertrag, in dem ein Arbeitnehmer von der Arbeitsleistung freigestellt sei, kein Dienstverhältnis sei. Ob der auf dieses Urteil nach Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) ergangene BFH-Beschluß vom 6. November 1981 III B 25/81 über die Nichtzulassung der vom FA begehrten Revision als Divergenzentscheidung i. S. des § 11 Abs. 3 FGO anzusehen ist, kann dahingestellt bleiben, da die Zuständigkeit für die Auslegung des § 3 Nr. 9 EStG nunmehr allein beim erkennenden Senat liegt (vgl. den Geschäftsverteilungsplan 1994, Teil A, XI. Senat, Nr. 1 Buchst. c).

c) Auch der Zweck des § 3 Nr. 9 EStG rechtfertigt es nicht, bereits bei der Freistellung von der Arbeitspflicht von einer Auflösung des Dienstverhältnisses auszugehen. § 3 Nr. 9 EStG enthält eine sozialpolitisch bedingte Steuerbefreiung für Abfindungen, die wegen einer vom Arbeitgeber veranlaßten Auflösung des Dienstverhältnisses gezahlt werden. Durch die Gewährung der Steuerfreiheit sollen soziale Härten vermieden werden; die einem Steuerpflichtigen für den Verlust des Arbeitsplatzes gewährte Abfindung soll nicht durch die ansonsten eintretende steuerliche Belastung teilweise wieder rückgängig gemacht werden (vgl. von Beckerath in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, § 3 Rdnrn. A 368, A 777 ff.). Im Fall der Arbeitsfreistellung liegt diese Konstellation (noch) nicht vor. Die typischerweise mit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses verbundenen Härten treten wegen des Fortbestandes des Arbeitsverhältnisses, insbesondere des Fortbestandes der Lohnzahlungspflicht, gerade nicht ein.