| Home | Index | EStG | Neuzugang | Impressum  
       

 

 

 

 

 

  BFH-Urteil vom 5.5.1994 (VI R 32/94) BStBl. 1994 II S. 662

§ 90 a Abs. 2 Nr. 2, 2. Halbsatz FGO betrifft auch den Fall, daß ein Beteiligter unterschiedliche Rechtsbehelfe gegen einen Gerichtsbescheid des FG einlegt.

FGO § 90 a Abs. 2 Nr. 2.

Vorinstanz: FG Rheinland-Pfalz

Sachverhalt

Mit Schriftsatz vom 22. November 1993 erhoben die Prozeßbevollmächtigten des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) Klage, ohne eine schriftliche Prozeßvollmacht beizufügen. Da innerhalb einer vom Senatsvorsitzenden des Finanzgerichts (FG) gemäß § 62 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gesetzten Ausschlußfrist keine Vollmacht nachgereicht wurde, wies das FG mit Gerichtsbescheid vom 3. Januar 1994 die Klage als unzulässig ab. In der Rechtsmittelbelehrung des Gerichtsbescheids heißt es u. a.:

"Wird sowohl von der Nichtzulassungsbeschwerde als auch vom Antrag auf mündliche Verhandlung Gebrauch gemacht, findet mündliche Verhandlung statt."

Der Kläger beantragte mit Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 17. Januar 1994 mündliche Verhandlung und legte zugleich Nichtzulassungsbeschwerde ein; außerdem beantragte er - unter Beifügung einer Prozeßvollmacht - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der versäumten Ausschlußfrist. Das FG half der Beschwerde nicht ab und legte sie dem Bundesfinanzhof (BFH) vor. Die Geschäftsstelle des BFH gab das Verfahren an das FG zurück, da gemäß § 90 a Abs. 2 Nr. 2, 2. Halbsatz FGO mündliche Verhandlung stattfinde, wenn sowohl Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt als auch Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt werde.

Das FG erließ am 21. Februar 1994 einen weiteren Gerichtsbescheid, mit dem es feststellte, daß der Gerichtsbescheid vom 3. Januar 1994 nicht infolge eines wirksamen Antrags auf mündliche Verhandlung als nicht ergangen gelte und über ihn mündlich verhandelt werden müsse. Zur Begründung führte es u. a. aus:

Bestünden Zweifel, ob die Instanz beendet sei, so sei darüber bejahendenfalls durch Feststellungsurteil zu erkennen. Im Streitfall habe der Gerichtsbescheid vom 3. Januar 1994 die Instanz beendet und sei mit der Nichtzulassungsbeschwerde angefochten. Mithin könne nicht mündlich verhandelt werden. § 90 a Abs. 2 Nr. 2, 2. Halbsatz FGO könne als Konfliktsnorm nur für den Fall zum Zuge kommen, daß mehrere Beteiligte unterschiedliche Rechtsbehelfe (Nichtzulassungsbeschwerde, Antrag auf mündliche Verhandlung) eingelegt hätten. Dies folge auch zwingend aus dem 1. Halbsatz der Vorschrift, der nur die Alternative der Nichtzulassungsbeschwerde oder des Antrags auf mündliche Verhandlung zulasse. Die Norm könne nicht angewendet werden, wenn - wie im Streitfall - nur ein Beteiligter Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und mündliche Verhandlung beantragt habe (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 90 a Anm. 17). In diesem Falle habe der Grundsatz zu gelten, daß der zuerst genannte Rechtsbehelf - hier Nichtzulassungsbeschwerde - den nachbenannten ausschließe. Ein anderes Ergebnis sei auch nicht durch Auslegung zu gewinnen, da die vorliegenden Rechtsbehelfe von Rechtsanwälten eingelegt worden seien, die grundsätzlich am Wortlaut und der Reihenfolge ihrer Anträge festzuhalten seien.

Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt der Kläger sinngemäß die Verletzung des Prozeßrechts. Er trägt vor, das FG hätte die mündliche Verhandlung eröffnen und über den Wiedereinsetzungsantrag entscheiden müssen. Es könne nicht rechtens sein, daß über den Wiedereinsetzungsantrag überhaupt nicht mehr entschieden werde.

Der Kläger beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung aufzuheben.

Daneben hat der Kläger Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt und gleichzeitig beantragt, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand betreffend die Vorlage der Prozeßvollmacht zu gewähren. Insoweit bezieht er sich auf sein bisheriges Vorbringen, wonach die Fristversäumnis auf einem Versehen der ansonsten zuverlässigen Bürovorsteherin seiner Prozeßbevollmächtigten beruhe.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Das FG hat zu Unrecht festgestellt, daß der Gerichtsbescheid vom 3. Januar 1994 die Instanz beendet habe, weil der Kläger keinen wirksamen Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt habe.

1. Entscheidet das Gericht über die Klage gemäß § 90 a Abs. 1 FGO durch Gerichtsbescheid, ohne die Revision zuzulassen, können die Beteiligten nach ihrer Wahl entweder Nichtzulassungsbeschwerde einlegen oder mündliche Verhandlung beantragen (§ 90 a Abs. 2 Nr. 2, 1. Halbsatz FGO). Wird von beiden Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht, findet mündliche Verhandlung statt (§ 90 a Abs. 2 Nr. 2, 2. Halbsatz FGO).

a) Die Vorinstanz ist zutreffend davon ausgegangen, daß die beiden Rechtsbehelfe einem Beteiligten nur alternativ zur Verfügung stehen. Sie schließen sich gegenseitig aus, da sie verschiedene Verfahrensabschnitte eröffnen. Deshalb wird - auch zu den entsprechenden Vorschriften in anderen Prozeßordnungen - überwiegend die Auffassung vertreten, der Vorrang des Antrags auf mündliche Verhandlung gelte nur für den Fall, daß mehrere Beteiligte unterschiedliche Rechtsbehelfe gegen einen Gerichtsbescheid einlegen (vgl. Gräber/Koch, a. a. O., Anm. 17; Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 9. Aufl., § 84 Anm. 35; Redeker/von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 11. Aufl., § 84 Anm. 14; s. auch bereits Begründung zu § 120 Abs. 2 Satz 2 des Entwurfs einer Verwaltungsprozeßordnung, herausgegeben vom Bundesminister der Justiz 1978, S. 290).

b) Wendet sich ein Beteiligter sowohl mit dem Antrag auf mündliche Verhandlung als auch mit der Nichtzulassungsbeschwerde gegen einen Gerichtsbescheid, so ist angesichts der einander widersprechenden Prozeßhandlungen der wirkliche Wille des Beteiligten nach den allgemeinen Auslegungsregeln (§§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) zu erforschen (vgl. Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, Vor § 33 Anm. 14 ff.). Dabei kann nicht schematisch der im Schriftsatz zuerst genannte Rechtsbehelf als der tatsächlich gewollte angesehen werden. Ein Rechtsgrundsatz, daß der zuerst genannte den nachbenannten Rechtsbehelf ausschließe, besteht entgegen der Auffassung des FG nicht.

c) Falls die Auslegung der widersprüchlichen Prozeßerklärungen eines Beteiligten nach §§ 133, 157 BGB nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führt, ist ein Rückgriff auf die in § 90 a Abs. 2 Nr. 2, 2. Halbsatz FGO zum Ausdruck gekommene Wertentscheidung des Gesetzes erforderlich. Der Wortlaut dieser Vorschrift umfaßt sowohl die Fallgestaltung, daß Rechtsbehelfe von verschiedenen Verfahrensbeteiligten eingelegt werden, als auch den Sachverhalt, daß nur ein Beteiligter zugleich mündliche Verhandlung beantragt und Nichtzulassungsbeschwerde einlegt. Im Streitfall hat das FG unter Berücksichtigung der vorherrschenden Literaturmeinung eine Reduktion des Gesetzeswortlauts auf die Rechtsbehelfe mehrerer Beteiligter vorgenommen. Diese Auslegung berücksichtigt jedoch nicht genügend die Bedeutung der mündlichen Verhandlung im finanzgerichtlichen Verfahren. Die mündliche Verhandlung unter Beteiligung von ehrenamtlichen Richtern ist ein Kernstück des Rechts des Bürgers auf gerichtlichen Schutz gegenüber rechtswidrigen Handlungen der Verwaltung (vgl. Kopp, Neue Juristische Wochenschrift 1991, 521, 523). Dieser Rechtsschutz wäre nicht ausreichend gewährleistet, wenn prozessuale Erklärungen gegenüber einem Gerichtsbescheid, die sich zwar inhaltlich widersprechen, aber vom Gesetzeswortlaut noch umfaßt werden, den Kläger von der mündlichen Verhandlung ausschließen würden. Die Vorschrift des § 90 a Abs. 2 Nr. 2, 2. Halbsatz FGO ist daher über ihren unmittelbaren Anwendungsbereich - unterschiedliche Rechtsbehelfe mehrerer Beteiligter - hinaus auch als Auslegungsregel für den Fall heranzuziehen, daß derselbe Beteiligte sowohl mündliche Verhandlung beantragt als auch Nichtzulassungsbeschwerde einlegt (vgl. Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, Kommentar, 5. Aufl., § 105 Anm. 17). Im Zweifel ist mithin zu berücksichtigen, daß die mündliche Verhandlung nach dem Gesetz Vorrang hat.

2. Nach diesen Grundsätzen durfte das FG im Streitfall nicht zu dem Ergebnis gelangen, daß der Gerichtsbescheid vom 3. Januar 1994 mangels wirksamen Antrags auf mündliche Verhandlung die Instanz beendet habe. Der Senat kann offenlassen, ob das FG von seinem Rechtsstandpunkt aus gehalten war, entsprechend der dem Vorsitzenden obliegenden Fürsorge- und Hinweispflicht (§ 76 Abs. 2 FGO) auf eine eindeutige Äußerung der Prozeßbevollmächtigten des Klägers hinzuwirken. Denn nach den vorstehenden Ausführungen mußte das FG für das weitere Verfahren von einem Antrag des Klägers auf mündliche Verhandlung ausgehen.

3. Die Vorentscheidung war demgemäß aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Es war festzustellen, daß der Gerichtsbescheid vom 3. Januar 1994 gemäß § 90 a Abs. 3 FGO als nicht ergangen gilt. Die weitergehenden Anträge des Klägers sind dadurch gegenstandslos.

4. Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen, da mit der vorliegenden Revisionsentscheidung kein selbständiges Verfahren beendet wird (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, § 143 Anm. 2).