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  BFH-Beschluß vom 18.5.1994 (I R 111/93) BStBl. 1995 II S. 24

Die Revision ist auch dann gemäß § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO innerhalb des an die Revisionsfrist anschließenden Monats zu begründen, wenn wegen Versäumnis der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt ist (Anschluß an BFH Urteil vom 7. Dezember 1971 VII R 108/69, BFHE 104, 184, BStBl II 1972, 224).

FGO § 120 Abs. 1, § 56.

Vorinstanz: Hessisches FG

Sachverhalt

I.

Der Senat gab der Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) mit Beschluß vom 30. Juni 1992 I B 46/92 statt. Der Beschluß wurde dem Bevollmächtigten des Klägers laut Postzustellungsurkunde vom 6. August 1992 zugestellt. Mit Schriftsatz vom 23. August 1993 legte der Kläger Revision ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bezüglich der Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision mit der Begründung, daß seinem Prozeßbevollmächtigten die Akte des Klägers am 7. August 1992 durch die stets zuverlässige Kanzleiangestellte Frau S vorgelegt worden sei und dieser in Anwesenheit von Frau S die Eintragung einer Vorfrist auf den 21. August 1992 zur Wiedervorlage der Akte und der Revisionsfrist auf den 7. September 1992 verfügt habe. Obgleich Frau S zur sofortigen Eintragung der Fristen in das Fristenbuch angewiesen worden sei, habe diese die Eintragung der Fristen versäumt. Erst ein Hinweis des Steuerberaters des Klägers habe das Geschehen aufgedeckt. Zur Glaubhaftmachung sind jeweils eine eidesstattliche Versicherung von Frau S und des Prozeßbevollmächtigten vorgelegt worden. Die Revision wurde nicht begründet.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unzulässig und daher gemäß § 126 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zu verwerfen.

Gemäß § 120 Abs. 1 FGO ist die Revision innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils oder nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Revision schriftlich einzulegen und spätestens innerhalb eines weiteren Monats zu begründen. Eine Revision, die nicht begründet wird, ist unzulässig (§ 124 Abs. 1 Satz 2 FGO). Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob dem Kläger antragsgemäß Wiedereinsetzung in die Revisionseinlegungsfrist gemäß § 56 FGO zu gewähren ist. Ein fristgerechtes Nachreichen der Revisionsbegründung nach Gewährung einer Wiedereinsetzung in die Revisionseinlegungsfrist ist im Streitfall ausgeschlossen.

1. Die Frage, wann die Revisionsbegründungsfrist zu laufen beginnt, wenn Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für die Revisionseinlegungsfrist beantragt wird, wurde von den obersten Bundesgerichten trotz teilweise identischen Wortlauts der jeweils einschlägigen prozessualen Vorschriften unterschiedlich beantwortet. So vertrat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) seit der Entscheidung des Großen Senats des BVerwG vom 30. November 1970 (BVerwG GrS 1.69, BVerwGE 36, 340; vgl. z. B. auch Beschluß des BVerwG vom 14. September 1989 5 C 17/89, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 310, § 139 VwGO Nr. 78) zu § 139 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i. d. F. vor dem Vierten VwGO-Änderungsgesetz vom 17. Dezember 1990 (BGBl I 1990, 2809) die Auffassung, daß der Lauf der Revisionsbegründungsfrist im Falle der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionseinlegungsfrist erst mit der Zustellung des die Wiedereinsetzung gewährenden Beschlusses beginne. Dieser Rechtsprechung haben sich im Ergebnis der Zweite Strafsenat des Bundesgerichtshofs - BGH - (vgl. Beschluß vom 8. Januar 1982 2 StR 751/80, BGHSt 30, 335; bestätigt mit Beschluß vom 25. Oktober 1989 2 StR 459/89, BGH-Rechtsprechung, StPO, § 345 Abs. 1 Fristbeginn 3), das Bundessozialgericht - BSG - (Entscheidungen vom 20. Oktober 1977 1 BA 55/77, Monatsschrift für Deutsches Recht 1978, 171; vom 10. Mai 1978 7 BAr 18/78, SozR 1500, § 67 Nr. 13 unter "Fortführung" der Entscheidung des BSG vom 29. Oktober 1958 11/8 RV 1301/56, BSGE 8, 207) und das Bundesarbeitsgericht - BAG - (Entscheidung vom 19. September 1983 5 AzN 446/83, BAGE 43, 297) für den Fall eines vorangegangenen Prozeßkostenhilfeverfahrens angeschlossen. Auch der III. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat in einem nichtveröffentlichten Beschluß vom 21. Januar 1972 III R 118/71 die Rechtsprechung des Großen Senats des BVerwG übernommen. Demgegenüber vertrat der VII. Senat des BFH in ausdrücklicher Abweichung zur Rechtsprechung des BVerwG die Auffassung, daß die Revision auch dann innerhalb des an die Revisionsfrist anschließenden weiteren Monats zu begründen sei, wenn wegen Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt ist (BFH-Urteil vom 7. Dezember 1971 VII R 108/69, BFHE 104, 184, BStBl II 1972, 224). Dem hat sich der II. Senat des BFH angeschlossen (vgl. Urteil vom 27. Oktober 1982 II R 70/81, nicht veröffentlicht - n. v. -). Der IV. Senat des BFH hat es bislang stets ausdrücklich offengelassen, ob er sich der Entscheidung des VII. Senats des BFH anschließen werde (vgl. Beschluß vom 4. November 1983 IV R 237/82, n. v.; Urteil vom 14. April 1976 IV R 43-45/75, BFHE 119, 208, BStBl II 1976, 624). Die Rechtsprechung der Zivilsenate des BGH, wonach die Begründungsfrist mit der Einlegung von Berufung bzw. Revision zu laufen beginnt, kann hier außer Betracht bleiben, weil sie sich insoweit auf einen von § 120 Abs. 1 FGO eindeutig abweichenden und klaren Gesetzeswortlaut stützt (vgl. § 519 Abs. 2, § 554 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung).

Diese durch die unterschiedliche Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte eingetretene Rechtsunsicherheit hat den erkennenden Senat bislang veranlaßt, bei Wiedereinsetzung in die Revisionseinlegungsfrist Wiedereinsetzung in die Revisionsbegründungsfrist zu gewähren (vgl. BFH-Urteil vom 23. Februar 1983 I R 128/82, BFH/NV 1987, 246). Eine Wiedereinsetzung in die Revisionsbegründungsfrist scheidet im Streitfall allerdings aus, weil der Kläger keine Wiedereinsetzung in die Revisionsbegründungsfrist beantragt und auch die versäumte Rechtshandlung (Revisionsbegründung) nicht innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist gemäß § 56 Abs. 2 Satz 3 FGO nachgeholt hat und die Jahresfrist nach § 56 Abs. 3 FGO verstrichen ist.

2. Mittlerweile hat sich das BVerwG im Grundsatz der Rechtsprechung des VII. Senats des BFH angeschlossen. Diese Änderung der Rechtsprechung ist verursacht durch das Vierte VwGO-Änderungsgesetz (vgl. hierzu auch BTDrucks 9/1851 zu § 156 Entwurf VwPO; BTDrucks 11/7030, S. 34), wonach nunmehr gemäß § 139 Abs. 1 VwGO die Revision innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils oder des Beschlusses über die Zulassung der Revision zu begründen ist. An diesen Wortlaut anknüpfend vertritt nunmehr das BVerwG die Auffassung, daß die Revisionsbegründungsfrist auch dann zwei Monate nach Zustellung des Urteils oder des die Revision zulassenden Beschlusses endet, wenn der Revisionskläger Wiedereinsetzung in die Revisionseinlegungsfrist beantragt hat (vgl. BVerwG-Beschluß vom 2. März 1992 9 B 256/91, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1992, 2780; BVerwG-Beschluß vom 20. April 1993 9 B 235/93, n. v.; vgl. auch BVerwG-Urteil vom 20. August 1993 8 C 14/93, n. v.; Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 9. Aufl., § 139 Rdnr. 6; Redeker/v. Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 11. Aufl., § 139 Rdnr. 7). Dies entspricht der Rechtsprechung des BAG zur vergleichbaren Regelung für die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde (vgl. BAG-Beschluß vom 26. Juli 1988 1 ABN 16/88, BAGE 59, 174 m. w. N.). Etwas anderes soll nach der Rechtsprechung des BVerwG und des BAG nur noch dann gelten, wenn dem Antrag auf Wiedereinsetzung ein selbständiges Verfahren (Prozeßkostenhilfeverfahren) vorangegangen ist (vgl. BVerwG-Beschluß vom 18. März 1992 5 B 29/92, NJW 1992, 2307; BVerwG-Beschluß vom 2. April 1992 5 C 24/91, Buchholz, a. a. O., 310, § 139 VwGO Nr. 84; BAG in BAGE 43, 297).

3. Unter Berücksichtigung der mittlerweile eingetretenen Änderung der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, die im Ergebnis der Rechtsprechung des VII. Senats des BFH entspricht, hält es der Senat für nicht vertretbar, die bisherige - veröffentlichte - Rechtsprechung des BFH aufzugeben und die überholte Rechtsprechung des BVerwG zu übernehmen. Dabei ist zu beachten, daß Grundlage für die neue Rechtssituation in der VwGO (ähnlich § 164 des Sozialgerichtsgesetzes) der Entwurf einer Verwaltungsprozeßordnung ist, die im Grundsatz für sämtliche Verwaltungsgerichte ein einheitliches Prozeßrecht schaffen soll (vgl. § 156 des Entwurfs einer Verwaltungsprozeßordnung, BTDrucks 9/1851). Es ist daher voraussichtlich eine entsprechende sprachliche Anpassung des § 120 Abs. 1 FGO an die Rechtsprechung des VII. Senats des BFH zu erwarten. Der Senat hält es für nicht mehr vertretbar, für eine voraussichtliche Übergangszeit die ältere Rechtsprechung des BVerwG zu übernehmen. Hinzu kommt, daß der Große Senat des BFH (vgl. Beschluß vom 1. Dezember 1986 GrS 1/85, BFHE 148, 414, BStBl II 1987, 264) den Grundgedanken des Großen Senats des BVerwG (BVerwGE 36, 340, 345), wonach es unzumutbar sei, eine Revisionsbegründung zu fordern, bevor über die Wiedereinsetzung entschieden ist, nicht teilt.

Einer Vorlage an den Großen Senat des BFH bedarf es nicht, da der III. Senat mitgeteilt hat, daß er an seiner Auffassung nicht festhält (§ 11 Abs. 3 Satz 1 FGO).

Eine Abweichung i. S. des § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Juni 1968 (BGBl I 1968, 661) zur Rechtsprechung des Zweiten Strafsenats des BGH liegt schon deswegen nicht vor, weil der Wortlaut des § 345 Abs. 1 Satz 1 der Strafprozeßordnung von dem des § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO abweicht.