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  BFH-Urteil vom 1.12.1994 (V R 116/92) BStBl. 1995 II S. 220

Umsätze aus dem Betrieb von Einrichtungen zur vorübergehenden Aufnahme pflegebedürftiger Personen (Kurzzeitpflege) waren bis zum 31. Dezember 1991 nicht gemäß § 4 Nr. 16 UStG 1980/1991 von der Umsatzsteuer befreit.

UStG 1980/1991 § 4 Nr. 16 (Fassung bis zum 31. Dezember 1991).

Vorinstanz: Hessisches FG

Sachverhalt

I.

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) betrieb in den Streitjahren (1985 und 1986) zwei Kurzzeitpflegeeinrichtungen, in denen hilfs- und pflegebedürftige Personen für die Dauer von höchstens drei Monaten aufgenommen wurden. Die Klägerin ist der Auffassung, sie habe Umsätze aus dem Betrieb eines Pflegeheims ausgeführt, die gemäß § 4 Nr. 16 Buchst. d des Umsatzsteuergesetzes (UStG 1980) steuerfrei seien. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) setzte demgegenüber (mit nach § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung - AO 1977 - geänderten Steuerbescheiden) die Umsatzsteuer unter Berücksichtigung von Vorsteuerbeträgen ohne Anwendung der Steuerbefreiungsvorschrift fest. Der Einspruch der Klägerin blieb erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit der Begründung statt, Einrichtungen der Kurzzeitpflege seien Pflegeheime i. S. des § 4 Nr. 16 Buchst. d UStG 1980. Das Heimgesetz (HeimG) vom 7. August 1974 (BGBl I 1974, 1873), auf das die entgegenstehende Auffassung in den Umsatzsteuer-Richtlinien (UStR) 1985 (Abschn. 99 Abs. 1) und im Schrifttum sich stütze, definiere den Begriff Pflegeheim nicht, sondern schränke in seinem § 1 Abs. 1 lediglich die Anwendung des Gesetzes auf solche Pflegeheime ein, die Pflegebedürftige "nicht nur vorübergehend aufnehmen und betreuen". Wie die Begriffe "Säuglingsheim, Erholungsheim, Ferienheim" zeigten, könnten auch Einrichtungen, die Personen nur vorübergehend aufnehmen, unter den Begriff "Heim" fallen. Die Steuerbefreiung des § 4 Nr. 16 UStG 1980 sei geschaffen worden, um die Versicherungsträger bzw. staatlichen Kassen, die letztlich die Kosten für die dort genannten Einrichtungen tragen müßten, von der Umsatzsteuer zu entlasten. Dieser Gesetzeszweck rechtfertige die Steuerbefreiung in gleicher Weise für Einrichtungen der Kurzzeitpflege. Eine Verweigerung der Steuerbefreiung sei eine unzulässige Ungleichbehandlung weitestgehend gleichliegender Tatbestände. Der historische Gesetzgeber des UStG 1980 habe die Kurzzeitpflegeeinrichtungen noch nicht berücksichtigen können, weil diese erst in jüngerer Zeit entstanden seien. Die Auslegung des Begriffs "Pflegeheim" müsse die geänderten Verhältnisse berücksichtigen, um dem Gesetzeszweck gerecht zu werden. Der Gesetzgeber des Jahres 1992, der durch das Steueränderungsgesetz (StÄndG) 1992 (Art. 12 Nr. 2 c) die Regelung des § 4 Nr. 16 in dessen Einleitung und im neu angefügten Buchst. e) mit Wirkung vom 1. Januar 1992 um die Steuerbefreiung für "Einrichtungen zur vorübergehenden Aufnahme pflegebedürftiger Personen" habe erweitern wollen, sei in Verkennung des Regelungsinhalts des § 4 Nr. 16 UStG 1980 davon ausgegangen, die Umsätze aus dem Betrieb von Einrichtungen der Kurzzeitpflege seien nicht bereits von der Umsatzsteuer befreit gewesen.

Hiergegen richtet sich die Revision des FA, mit der es beantragt, unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt Zurückweisung der Revision.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des FA ist begründet. Der erkennende Senat teilt nicht die Auffassung des FG über den Regelungsinhalt des § 4 Nr. 16 UStG 1980.

1. Gemäß § 4 Nr. 16 UStG 1980 sind die mit dem Betrieb von Pflegeheimen verbundenen Umsätze unter bestimmten Voraussetzungen von der Umsatzsteuer befreit. Die von der Klägerin betriebenen Einrichtungen der Kurzzeitpflege sind keine Pflegeheime i. S. des § 4 Nr. 16 UStG 1980. Für die entsprechende Auslegung des Begriffs Pflegeheim sind folgende Gesichtspunkte maßgeblich.

a) § 4 Nr. 16 UStG 1967/1973 befreite die mit dem Betrieb von Altersheimen verbundenen Umsätze. Unter dem Begriff Altersheim wurde eine Einrichtung verstanden, in der alte Menschen ständig wohnen. In § 4 Nr. 16 UStG 1980 wurde der Ausdruck Altersheim durch den (moderneren) Ausdruck Altenheim ersetzt und die Befreiung auf die Umsätze aus dem Betrieb von Altenwohnheimen und Pflegeheimen erstreckt. Die Gleichsetzung der erwähnten drei Begriffe in der Befreiungsvorschrift spricht dafür, daß die Begriffsinhalte unter wesentlichen Aspekten gleich sind. Für die Begriffe Altenheim und Altenwohnheim ist das ständige Wohnen von alten Menschen kennzeichnend.

b) Die Gleichsetzung der Begriffe Altenheim und Pflegeheim kann sich auf die Begründung des Entwurfs der Bundesregierung zum späteren UStG 1980 (BTDrucks 8/1779, S. 34, zu § 4 Nr. 16) berufen. Danach sollte die Steuerbefreiung zusätzlich zu den in Altenheimen lebenden, wirtschaftlich hilfsbedürftigen Menschen ebenfalls den pflegebedürftigen (alten) Menschen zugute kommen. Auch der Bundesrat ging in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf (a. a. O., S. 57) davon aus, daß die Vorschrift der Begünstigung von Personen diene, "die in .... Altenheimen, Altenwohnheimen, Altenpflegeheimen .... untergebracht sind".

c) Ferner ist darauf hinzuweisen, daß allgemeinsprachlich die Begriffe Altersheim bzw. Altenheim für Einrichtungen verwendet werden, in denen pflegebedürftige Menschen "leben" (vgl. Brockhaus, Enzyklopädie, 19. Aufl., 1986, Stichwort "Altenheime", und Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 9. Aufl., 1971, Stichwort "Altersheim"). Darunter ist nach den Ausführungen in den zitierten Lexika zu verstehen, daß die dort lebenden Menschen keinen anderweitigen eigenen Hausstand unterhalten; in diesem Sinne kann auch der Begriff "Pflegeheim" verstanden werden.

d) Die Aufzählung der Tatbestandsmerkmale "Altenheime, Altenwohnheime und Pflegeheime" durch § 4 Nr. 16 UStG 1980 entspricht dem Wortlaut in § 1 Abs. 1 HeimG.

aa) Enthält ein Steuergesetz Begriffe, die auch in anderen Rechtsgebieten Verwendung finden, besteht weder eine Vermutung für ein identisches noch eine solche für ein abweichendes Begriffsverständnis (vgl. zum Verhältnis steuerrechtlicher und zivilrechtlicher Begriffe: Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 27. Dezember 1991 2 BvR 72/90, BStBl II 1992, 212, unter 1. a, cc, mit Berufung auf Ruppe in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, Einf. Einkommensteuer Anm. 457). Dies trifft auch für unterschiedliche Rechtsgebiete innerhalb des öffentlichen Rechts zu. Es kann demnach nicht generell davon ausgegangen werden, daß vom Steuergesetzgeber verwendete Begriffe mit dem gleichen Inhalt zu verstehen sind, wie sie für einen anderen öffentlich-rechtlichen Sachbereich gelten. Sofern jedoch der Steuergesetzgeber erkennbar eine in vorhandenen Gesetzen verwendete Gesetzessprache in einem - jüngeren - Gesetz übernimmt, spricht dies dafür, daß die Begriffe den Sinn haben sollten, der ihnen schon bisher beigemessen worden ist (vgl. Tipke/Lang, Steuerrecht, 14. Aufl., S. 134, § 5 Rz. 63).

bb) Die gleichlautende Aufzählung der Worte "Altenheime, Altenwohnheime, Pflegeheime" in § 4 Nr. 16 UStG 1980 und § 1 Abs. 1 HeimG läßt darauf schließen, daß mit dem Steuergesetz an die verwaltungsrechtliche Regelung terminologisch angeknüpft worden ist. Hieraus ergibt sich für die Auslegung des Begriffs "Pflegeheime" in § 4 Nr. 16 UStG 1980, daß dieser keine Kurzzeitpflegeeinrichtungen umfaßt, sondern auf solche Einrichtungen beschränkt ist, die Pflegebedürftige nicht nur vorübergehend aufnehmen. Zwar definiert das HeimG, an dessen § 1 Abs. 1 das UStG 1980 in § 4 Nr. 16 anknüpft, nicht den Begriff Pflegeheim. In der genannten Vorschrift des HeimG werden jedoch Altenheime, Altenwohnheime und Pflegeheime gleichgesetzt mit "ähnlichen Einrichtungen, die alte Menschen sowie pflegebedürftige und behinderte Volljährige nicht nur vorübergehend aufnehmen und betreuen". Dieser eingeschränkte Anwendungsbereich des § 1 Abs. 1 HeimG liegt den nachfolgenden Vorschriften des HeimG zugrunde, so daß Einrichtungen der Kurzzeitpflege keine Pflegeheime i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 HeimG sind (vgl. Kunz/Ruf/Wiedemann, Heimgesetz, 6. Aufl., § 4 b Rdnr. 2).

e) Es kann ferner nicht angenommen werden, der Begriff Pflegeheim in § 4 Nr. 16 UStG 1980 habe einen Bedeutungswandel dadurch erfahren, daß erst in jüngerer Zeit Einrichtungen zur Kurzzeitpflege entstanden sind und daß der Gesetzgeber diese nicht zu berücksichtigen vermocht habe. Eine solche Entwicklung könnte nur dann die Gesetzesauslegung prägen, wenn unzweifelhaft davon auszugehen wäre, der Gesetzgeber würde die spätere Entwicklung, falls er sie bereits beim Erlaß des Gesetzes hätte voraussehen können, im Gesetzestext entsprechend berücksichtigt haben (hier: durch Aufnahme in die Befreiungsvorschriften), und wenn die Unzulänglichkeit des bisherigen Gesetzesverständnisses "evident" geworden wäre (vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 350). Davon kann aber bereits deshalb nicht die Rede sein, weil Kurzzeitpflegeeinrichtungen sich in einem wesentlichen Punkt von Altenheimen, Altenwohnheimen und Pflegeheimen unterscheiden; denn anders als letztere sind erstere nicht genehmigungspflichtig und unterliegen nicht der Überwachung nach dem HeimG.

f) Schließlich spricht gegen die Auslegung durch das FG, daß der Gesetzgeber mit dem StÄndG 1992 die Befreiung von Umsätzen aus dem Betrieb von Einrichtungen der Kurzzeitpflege und Einrichtungen zur ambulanten Pflege in § 4 Nr. 16 UStG 1980/1991 eingefügt hat, und daß er durch Art. 40 Abs. 2 StÄndG 1992 diese Änderung ausdrücklich rückwirkend hat in Kraft treten lassen, allerdings nicht früher als zum 1. Januar 1992. Nach dem Verständnis des Gesetzgebers des Jahres 1992 waren mithin die Umsätze aus dem Betrieb von Kurzzeitpflegeeinrichtungen nicht bereits gemäß § 4 Nr. 16 UStG 1980/1991 von der Umsatzsteuer befreit.

Die Annahme des FG, der Gesetzgeber habe den Regelungsinhalt der eben zitierten Vorschrift verkannt und der Änderung des § 4 Nr. 16 UStG 1980/1991 sei lediglich deklaratorische Wirkung beizumessen, ist nach den vorstehenden Ausführungen sowie mangels zureichender sonstiger, die Annahme tragender Gründe nicht gerechtfertigt.

g) Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Annahme der Steuerpflicht im vorliegenden Fall für Einrichtungen der Kurzzeitpflege greifen nicht durch. Die Ausführungen des IV. Senats des Bundesfinanzhofs im Urteil vom 8. September 1994 IV R 85/93 (BStBl II 1995, 67) zur Verweigerung der Gewerbesteuerbefreiung gemäß § 3 Nr. 20 Buchst. c des Gewerbesteuergesetzes für ambulante Pflegedienste gelten bezüglich der Nichtanwendung des § 4 Nr. 16 UStG 1980 auf Kurzzeitpflegeeinrichtungen entsprechend. Der erkennende Senat nimmt auf diese Entscheidung Bezug.

Da das FG von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen ist, war sein Urteil aufzuheben.

2. Die Sache ist entscheidungsreif. Die Klage war abzuweisen. Die Klägerin kann die Steuerbefreiung gemäß § 4 Nr. 16 UStG 1980 nicht beanspruchen, da ihre Kurzzeitpflegeeinrichtungen keine Pflegeheime im Sinne dieser Vorschrift sind.

Steuerbefreiung der Umsätze der Klägerin gemäß § 4 Nr. 12 Buchst. a UStG 1980 kommt nicht in Betracht. Sofern die Klägerin überhaupt Wohnraum vermietet haben sollte, würde es sich nur um kurzfristige Vermietung handeln, die gemäß § 4 Nr. 12 Satz 2 UStG 1980 von der Steuerbefreiung ausgenommen ist.