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  BFH-Beschluß vom 24.1.1995 (VII B 142/94) BStBl. 1995 II S. 227

Zur Frage, ob der Ablauf der Festsetzungsfrist für den Erlaß eines neuen Haftungsbescheides gehemmt wird, wenn das FA "in Anlehnung" an ein in anderer Sache zwischen den Beteiligten ergangenes Urteil den 1. Haftungsbescheid selbst aufhebt.

AO 1977 §§ 124 Abs. 2, 130 Abs. 1, 171 Abs. 3, 174 Abs. 4, 191 Abs. 3.

Vorinstanz: FG Köln

Sachverhalt

I.

Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) war neben dem Geschäftsführer W alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer einer GmbH. In der Zeit, in der W erkrankt war, nahm der Antragsteller alleine die Geschäfte der GmbH wahr. Der Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen der GmbH wurde im April 1987 mangels Masse abgewiesen. Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) nahm beide Geschäftsführer wegen Umsatzsteuern und nicht abgeführter Lohnsteuern als Haftende in Anspruch, hob aber die Haftungsbescheide gegen W wegen dessen krankheitsbedingter Abwesenheit im Haftungszeitraum später wieder auf.

Mit Haftungsbescheid vom ... Juli 1987 i. d. F. der Einspruchsentscheidung vom ... Januar 1991 nahm das FA den Antragsteller für die rückständigen Umsatzsteuervorauszahlungen 6, 8, 10-12/86, die rückständige Umsatzsteuerabschlußzahlung für 1985 zuzüglich Säumniszuschlägen in Anspruch, nachdem es ihn im Einspruchsverfahren mehrfach vergeblich aufgefordert hatte, die gleichmäßige Befriedigung aller Gläubiger einschließlich des Fiskus nachzuweisen.

Mit Bescheid vom ... September 1987 wurde der Antragsteller auch für rückständige Lohnsteuern der GmbH in Anspruch genommen. In dem Klageverfahren gegen den Lohnsteuerhaftungsbescheid hat das Finanzgericht (FG) diesen nach § 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) im wesentlichen mit der Begründung aufgehoben, das FA habe von dem ihm eingeräumten Auswahlermessen im Hinblick auf die mögliche Inanspruchnahme auch des Geschäftsführers W nicht ausreichend erkennbar Gebrauch gemacht. Aufgrund der Umstände des Falles sei an ein gleichrangiges Verschulden beider Geschäftsführer zu denken, welches sich auch in der Höhe der Inanspruchnahme des Antragstellers niederschlagen könne. Entsprechende Erwägungen erübrigten sich jedenfalls nicht alleine deshalb, weil aus Gründen des Vertrauensschutzes gegenüber dem Geschäftsführer W, wegen der Rücknahme des zunächst auch gegen ihn erlassenen Haftungsbescheides, sich möglicherweise nach § 130 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) dessen erneute Haftungsinanspruchnahme verbiete.

Nach Bekanntwerden dieses Urteils nahm der Antragsteller in der im Klageverfahren beim FG anhängigen Umsatzsteuerhaftungssache auf die Gründe dieses Urteils Bezug. Der für die Umsatzsteuerhaftungssache zuständige Berichterstatter des FG wies das FA darauf hin, daß die gleichen Erwägungen wie die in dem in der Lohnsteuerhaftungssache ergangenen Urteil enthaltenen auch zur Aufhebung des Umsatzsteuerhaftungsbescheides führen könnten. Daraufhin hob das FA von sich aus mit Bescheid vom ... Juli 1993 "in Anlehnung an" das Urteil in der Lohnsteuerhaftungssache den Umsatzsteuerhaftungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung auf und erklärte den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt. Dem schloß sich der Antragsteller an.

Das FA erließ am ... Dezember 1993 einen neuen Umsatzsteuerhaftungsbescheid. Darin beschränkte es in Ausübung seines Ermessens wegen des gleichrangigen Verschuldens beider Geschäftsführer die Inanspruchnahme des Antragstellers auf 50 % der Rückstände. In den Umsatzsteuerhaftungsbescheid nahm das FA erstmals auch die Umsatzsteuerabschlußzahlung für 1986, fällig am ... Februar 1988, mit auf.

Über den Einspruch gegen den neuen Umsatzsteuerhaftungsbescheid hat das FA noch nicht entschieden. Den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des neuen Umsatzsteuerhaftungsbescheides hat das FA abgewiesen. Das FG hat die Vollziehung des Umsatzsteuerhaftungsbescheides nur insoweit ausgesetzt, als er sich auf die rückständige Umsatzsteuerabschlußzahlung 1986 bezog.

Das FG führte u. a. aus, ernstliche Zweifel ergäben sich wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist nur hinsichtlich der Inanspruchnahme des Antragstellers für die Abschlußzahlung 1986. Für die Rückstände, die bereits Gegenstand des 1. Haftungsbescheids waren, sei dagegen die Festsetzungsfrist für die Haftung nach summarischer Prüfung nicht abgelaufen gewesen. Insoweit greife die Ablaufhemmung des § 191 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 171 Abs. 3 AO 1977 ein. § 171 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 sei seinem Wortlaut nach zwar nicht unmittelbar anwendbar. Das FG halte jedoch bei der gebotenen summarischen Prüfung im Hinblick auf die besonderen Umstände des Streitfalles eine entsprechende Anwendung für geboten. Dieses Ergebnis werde auch durch die Heranziehung von § 174 Abs. 4 Satz 3 AO 1977 gestützt, der von der Verweisung auf die Regeln über die Festsetzungsfrist in § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 mit erfaßt werde.

Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde. Er macht u. a. geltend, die in § 171 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 geregelte Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist sei im Streitfall nicht eingetreten. Das FA habe trotz der ihm möglichen Änderung des 1. Umsatzsteuerhaftungsbescheides diesen uneingeschränkt aufgehoben. In der Aufhebungsverfügung sei kein Hinweis enthalten, daß ein weiterer Haftungsbescheid in Anwendung der Grundsätze aus dem Urteil in der Lohnsteuerhaftungssache erfolgen werde. Die Ablaufhemmung sei mit der uneingeschränkten Aufhebung des 1. Haftungsbescheides mit Wirkung ex tunc weggefallen. Das FA habe durch die uneingeschränkte Rücknahme des 1. Haftungsbescheides auf die Wirkungen der Ablaufhemmung verzichtet.

Der Antragsteller beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung insoweit, als dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nicht stattgegeben wurde, die Vollziehung des Umsatzsteuerhaftungsbescheides vom ... Dezember 1993 auszusetzen.

Das FA hält die Beschwerde für unbegründet.

Entscheidungsgründe

II.

Die Beschwerde ist begründet. Es bestehen nicht nur ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides, soweit das FA den Antragsteller darin für die rückständige Abschlußzahlung 1986 in Anspruch genommen hat, sondern auch, soweit das FA den Antragsteller wegen der bereits mit dem 1. Haftungsbescheid geltend gemachten Rückstände erneut in Haftung genommen hat.

1. a) Ernstliche Zweifel, die zu einer Aussetzung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO führen, sind dann gegeben, wenn bei überschlägiger Prüfung des angefochtenen Haftungsbescheides im Aussetzungsverfahren neben den für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Umstände zutage treten, die eine Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen bewirken (vgl. u. a. Bundesfinanzhof - BFH -, Urteil vom 17. Mai 1978 I R 50/77, BFHE 125, 423, BStBl II 1978, 579, und Beschluß vom 20. Juli 1990 III B 144/89, BFH/NV 1990, 774 m. w. N.). Solche Zweifel bestehen im Streitfall auch gegen die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides, soweit das FA dadurch den Antragsteller für Rückstände in Anspruch genommen hat, die es bereits in seinem 1. Haftungsbescheid gegen den Antragsteller geltend gemacht hatte. Bei der gebotenen summarischen Prüfung hält es der Senat für sehr wahrscheinlich, daß der neue Haftungsbescheid wegen Ablaufs der vierjährigen Festsetzungsfrist nach § 191 Abs. 3 Satz 2 AO 1977 auch insoweit nicht mehr ergehen durfte.

b) Die Festsetzungsfrist beträgt für Haftungsbescheide nach § 191 Abs. 3 Satz 2 AO 1977 grundsätzlich vier Jahre, beginnend mit Ablauf des Kalenderjahres, in das die Entstehung des Haftungsanspruchs fällt (§ 191 Abs. 3 Satz 3 AO 1977). Da die geltend gemachten Steuerrückstände nach den in den vorliegenden Akten des FA enthaltenen Aufzeichnungen im einzelnen 1985, 1986, 1987 und 1988 fällig geworden sind, kann davon ausgegangen werden, daß die normale Festsetzungsfrist für die mit dem neuen Haftungsbescheid geltend gemachten Rückstände spätestens mit Ablauf des Jahres 1992 für alle Forderungen abgelaufen war.

c) Allerdings sind gemäß § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 auch auf den Erlaß des Haftungsbescheides die Vorschriften über die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3 AO 1977 entsprechend anzuwenden (BFH, Urteil vom 23. März 1993 VII R 38/92, BFHE 171, 10, BStBl II 1993, 581, BFH/NV 1994, 71). Danach läuft die Festsetzungsfrist eines angefochtenen Haftungsbescheides erst dann ab, wenn über den Rechtsbehelf unanfechtbar entschieden worden ist (§ 171 Abs. 3 Satz 1 und 2 AO 1977).

Mit der Rücknahme des 1. Haftungsbescheides im Klageverfahren ist dieser Haftungsbescheid unanfechtbar i. S. des § 171 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 geworden. Dem steht - anders als das FG meint - nicht entgegen, daß das FA den Haftungsbescheid unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das zuvor in einer gleichgelagerten Rechtsfrage zwischen denselben Beteiligten ergangene Urteil des FG zurückgenommen hat. Auch der Umstand, daß sich der Antragsteller zuvor auf dieses Urteil berufen und der Berichterstatter des FG in der Sache das FA auf die Auswirkungen dieses Urteils für den anhängigen Rechtsstreit über den 1. Haftungsbescheid hingewiesen hatte, ändert nichts daran, daß der zurückgenommene Haftungsbescheid unanfechtbar geworden ist. Denn durch die Aufhebung eines angefochtenen Bescheides tritt seine Unanfechtbarkeit unabhängig von den Gründen ein, die Anlaß zur Aufhebung des Bescheides waren (vgl. BFH, Urteile vom 16. Mai 1990 X R 147/87, BFHE 161, 398, BStBl II 1990, 942, und vom 6. Mai 1994 VI R 47/93, BFHE 174, 363, BStBl II 1994, 715). Aus der Bezugnahme auf das Urteil in der Lohnsteuerhaftungssache in dem Rücknahmebescheid vermag der Senat auch nicht zu entnehmen, daß der 1. Haftungsbescheid nur mit der Maßgabe aufgehoben werden sollte, daß sich das FA den Erlaß eines neuen Haftungsbescheids vorbehielt.

Zwar läuft dann, wenn das FG einen Haftungsbescheid wegen fehlender Ermessensausübung aufgehoben hat, die Festsetzungsfrist für den Haftungsanspruch gemäß § 171 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 nicht ab, bevor der neue Haftungsbescheid, mit dem das FA seine Ermessensausübung nach Ergehen der gerichtlichen Entscheidung nachgeholt hat, unanfechtbar geworden ist (BFH/NV 1994, 71). § 171 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 verlängert die Ablaufhemmung aber ausdrücklich nur für den Fall der gerichtlichen Kassation gemäß § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO, nicht aber für den Fall, daß das FA seinen Bescheid aufgrund eigener besserer Erkenntnis selbst aufhebt.

Diese Regelung läßt sich wegen ihres eindeutigen Wortlauts nicht auf die im Streitfall erfolgte Rücknahme des Haftungsbescheids durch das FA ausdehnen. Gerade bei Fristenregelungen ist es erforderlich, daß diese an gesetzlich möglichst eindeutig geregelte Tatbestände anknüpfen, die einer erweiternden Auslegung grundsätzlich nicht zugänglich sind.

Die Erfüllung der in § 171 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 genannten Voraussetzung ist ferner nicht nur ein formales Erfordernis für die weitere Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist. Aus der Art der in § 171 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 genannten gerichtlichen Entscheidungen ergibt sich vielmehr, daß die Sache mit der gerichtlichen Entscheidung noch nicht endgültig erledigt ist, sondern die Verwaltungsentscheidung in der Erwartung aufgehoben wird, daß das FA in der Sache neu entscheidet. Einer solchen gerichtlichen Entscheidung entspricht die im Streitfall erfolgte Rücknahme des 1. Haftungsbescheids auch inhaltlich nicht. Obwohl das FA in seiner Rücknahmeentscheidung auf das in einer gleichgelagerten Rechtsfrage zwischen den Parteien ergangene Urteil Bezug genommen hat, ändert dies nichts daran, daß die Rücknahme ihrem Inhalt nach endgültig war. Der Antragsteller brauchte anders als im Falle der in § 171 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 genannten gerichtlichen Entscheidungen nicht mit einer weiteren Verwaltungsentscheidung zu rechnen.

Auch aus § 174 Abs. 4 AO 1977 läßt sich in bezug auf den Erlaß eines Haftungsbescheids keine Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist entnehmen (vgl. BFH in BFHE 174, 363, BStBl II 1994, 715). Die Voraussetzungen des § 174 Abs. 4 AO 1977 liegen nicht vor, weil der Haftungsbescheid kein Steuerbescheid i. S. von § 155 AO 1977 oder ein diesem gleichstehender Bescheid ist. Zwar gelten gemäß § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 die Vorschriften über die Festsetzungsfrist für den Erlaß von Haftungsbescheiden entsprechend. § 174 Abs. 4 AO 1977 regelt in seinen Sätzen 1 und 2 jedoch die Durchbrechung der Bestandskraft, also die Zulässigkeit der Änderung von Steuerbescheiden; erst in Satz 3 des § 174 Abs. 4 AO 1977 wird die Verjährung geregelt. Für die Änderung von Haftungsbescheiden gelten aber nach der AO 1977 - anders als nach § 97 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung (AO) - nicht die für Steuerbescheide geltenden Vorschriften, sondern die für Verwaltungsakte getroffenen Regelungen der §§ 130 ff. AO 1977. Deshalb sind die Korrekturvorschriften der §§ 172 ff. AO 1977 auf Haftungsbescheide nicht anwendbar (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., Vor § 172 AO 1977 Tz. 6, § 191 AO 1977 Tz. 25). Aus diesem Grunde wird auch der besonders für die Änderung von Steuerbescheiden geregelte Ablauf der Festsetzungsfrist nicht durch die Verweisung in § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 erfaßt.

d) Es ist kein zwingender Grund dafür ersichtlich, § 171 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 über seinen Wortlaut hinaus auf den Streitfall entsprechend anzuwenden. Das gilt auch für die Frage nach einer praktikablen Rechtsanwendung. Das FA hätte die durch die Rücknahme des Haftungsbescheides eingetretene Unanfechtbarkeit vermeiden können, wenn es den 1. Haftungsbescheid - statt ihn zurückzunehmen - so geändert hätte, daß er im Ergebnis dem neu erlassenen Haftungsbescheid entsprach (Teilrücknahme gemäß § 124 Abs. 2, § 130 Abs. 1 AO 1977). Da in diesem Fall der Haftungsbescheid noch innerhalb der durch die Anfechtung in ihrem Ablauf nach § 191 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 171 Abs. 3 Satz 2 AO 1977 gehemmten Festsetzungsfrist geändert worden wäre, hätte der Ablauf der Festsetzungsfrist der Änderung des Haftungsbescheides nicht entgegengestanden.