| Home | Index | EStG | Neuzugang | Impressum  
       

 

 

 

 

 

  BFH-Urteil vom 20.10.1994 (V R 84/92) BStBl. 1995 II S. 233

1. Die Korrektur von Steuerfestsetzungen, bei denen entstandene Vorsteuerbeträge mangels Kenntnis des FA nicht berücksichtigt wurden, richtet sich nach den allgemeinen Änderungsvorschriften der Abgabenordnung.

2. Soweit im Einzelfall eine Änderung der Steuerfestsetzung nach diesen Änderungsvorschriften nicht möglich ist, können die Vorsteuerbeträge nicht in den Folgejahren in analoger Anwendung des § 15 a UStG 1980 berücksichtigt werden.

UStG 1980 § 15 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 15 a, § 16 Abs. 2 Satz 1; AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2.

Vorinstanz: Schleswig-Holsteinisches FG

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Grundstücksmakler. Im November 1984 begann er mit der Errichtung eines Mehrfamilienhauses, bestehend aus drei Eigentumswohnungen, die er vermieten wollte. Anfang November 1985 verkaufte er eine dieser Wohnungen unter gesondertem Ausweis der Umsatzsteuer zur gewerblichen Nutzung durch den Erwerber.

Weder in der Umsatzsteuererklärung für 1984 vom 11. Dezember 1985, noch in der Umsatzsteuererklärung für 1985 vom 2. Juli 1986 gab der Kläger Vorsteuerbeträge oder Umsätze aus der Errichtung und dem Verkauf dieser Wohnung an. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) führte die Umsatzsteuerveranlagungen erklärungsgemäß durch. Erst nachdem die Steuerfestsetzungen bereits bestandskräftig geworden waren, teilte der Kläger dem FA den Verkauf der Eigentumswohnung mit, verzichtete auf die Steuerbefreiung für den Verkauf und beantragte die nachträgliche Berücksichtigung der hierauf entfallenden Umsätze und Vorsteuerbeträge.

Das FA lehnte eine Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung für 1984 ab. Die Festsetzung für 1985 änderte es insoweit, als es die Umsätze um den Veräußerungserlös erhöhte und die 1985 angefallenen Vorsteuerbeträge berücksichtigte. Im Einspruchsverfahren änderte das FA die Steuerfestsetzung 1985 hinsichtlich der Höhe der abzugsfähigen Vorsteuerbeträge geringfügig. Eine Änderung der Steuerfestsetzung für 1984 und eine Berücksichtigung der 1984 angefallenen Vorsteuerbeträge bei der Steuerfestsetzung für 1985 lehnte es weiterhin ab.

Die hiergegen - beschränkt auf den Umsatzsteuerbescheid für 1985 - erhobene Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) setzte die Umsatzsteuer 1985 unter Berücksichtigung von 9/10 der Vorsteuerbeträge aus dem Jahre 1984 fest. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus, das FA habe die auf die verkaufte Eigentumswohnung entfallenden Vorsteuerbeträge aus dem Jahre 1984 durch Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung 1984 ändern müssen. Da die Ablehnung des Änderungsantrags jedoch in Bestandskraft erwachsen sei, ergäben sich keine Bedenken, in entsprechender Anwendung der Grundsätze des § 15 a des Umsatzsteuergesetzes (UStG 1980) im Streitjahr 1985 eine Vorsteuerkorrektur für 1984 vorzunehmen.

Dagegen wendet sich das FA mit seiner Revision. Es rügt Verletzung materiellen Rechts, insbesondere des § 15 a UStG 1980. Es ist der Ansicht, diese Vorschrift enthalte nicht deshalb eine planwidrige Lücke, weil sie keine Regelung für den Fall treffe, daß der Vorsteuerabzug im Entstehungsjahr fehlerhaft beurteilt worden sei. Steuerfestsetzungen mit Fehlbeurteilungen seien vielmehr unter den Voraussetzungen der Änderungsvorschriften der Abgabenordnung (AO 1977) korrigierbar.

Das FA beantragt, die Klage unter Aufhebung der Vorentscheidung abzuweisen.

Der Kläger ist der Revision entgegengetreten.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des FA ist begründet.

Die Vorentscheidung ist aufzuheben und die Klage abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Das FG hat rechtsirrtümlich angenommen, ein Teil der 1984 angefallenen Vorsteuerbeträge sei im Rahmen der Umsatzsteuerfestsetzung für 1985 steuermindernd zu berücksichtigen. Diese Vorsteuerbeträge durften nur bei der Steuerfestsetzung für das Jahr der Entstehung des betreffenden Anspruchs (in vollem Umfang) abgezogen werden.

1. Zur Vermeidung des Verlusts des Anspruchs auf den Vorsteuerabzug sind die gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 UStG 1980 "in den Besteuerungszeitraum fallenden, nach § 15 abziehbaren Vorsteuerbeträge" mit Wirkung für diesen Veranlagungszeitraum abzusetzen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 25. November 1976 V R 98/71, BFHE 121, 550, BStBl II 1977, 448 unter 2. d). Dieser Anspruch entsteht - unabhängig vom Zeitpunkt der Verwendung der bezogenen Leistung - in entsprechender Anwendung von § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a UStG 1980 (vgl. BFH-Urteil vom 9. September 1993 V R 42/91, BFHE 173, 231, BStBl II 1994, 269) bereits in dem Veranlagungszeitraum, in dem die materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen i. S. des § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG 1980 insgesamt vorliegen (vgl. BFH-Urteile in BFHE 121, 550, BStBl II 1977, 448, a. a. O.; vom 26. April 1979 V R 46/72, BFHE 128, 110, BStBl II 1979, 530 unter 2., und vom 30. November 1989 V R 85/84, BFHE 159, 272, BStBl II 1990, 345).

2. Soweit die Steuerfestsetzung nach § 15 Abs. 1 UStG 1980 abziehbare Vorsteuerbeträge nicht enthält, ist sie - worauf das FA zutreffend hinweist - nur unter den Voraussetzungen einer Änderungsvorschrift der AO 1977 korrigierbar. Die Änderung erfolgt für diese Steuerfestsetzung rückwirkend und führt zur Berücksichtigung der gesamten abziehbaren Vorsteuerbeträge. Die Bestandskraft der fehlerhaften Steuerfestsetzungen wird hierbei (innerhalb der Festsetzungsfrist) durchbrochen (vgl. BFH-Urteil vom 27. Juni 1991 V R 106/86, BFHE 165, 304, BStBl II 1991, 860 unter II. 1.).

Dies gilt auch im Streitfall, für den in erster Linie § 173 AO 1977 maßgebend war. Dem FA waren im Zeitpunkt der Veranlagung die mit den bereits zuvor angefallenen Vorsteuerbeträgen zusammenhängenden Tatsachen und Beweismittel aufgrund der Herstellung der Eigentumswohnungen nicht bekannt. Für eine Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung 1984 unter Berücksichtigung dieser Vorsteuerbeträge kam es daher auf die Verwirklichung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 an.

Soweit im Einzelfall die Voraussetzungen für eine Änderung der Steuerfestsetzung nach dieser Vorschrift nicht vorliegen oder eine Änderung deshalb nicht mehr möglich ist, weil der Steuerpflichtige - wie im Streitfall - sein Änderungsbegehren nicht weiterverfolgt hat, kommt ein anteiliger Vorsteuerabzug nicht aufgrund einer analogen Anwendung des § 15 a UStG 1980 in den Folgejahren in Betracht. Insoweit fehlt es an einer planwidrigen Gesetzeslücke in den Änderungsvorschriften der AO 1977 und in den Regelungen über den Vorsteuerabzug und seine Berichtigung (§§ 15, 15 a UStG 1980), die Voraussetzung für jede Analogie ist (vgl. zu den entsprechenden Voraussetzungen BFH-Urteil vom 9. August 1989 X R 30/86, BFHE 158, 45, BStBl II 1989, 891 unter 2. a, m. w. N.).

Die Regelungen in §§ 15 und 15 a UStG 1980 greifen insoweit lückenlos ineinander. Da der Streitfall nicht in den Anwendungsbereich dieser Vorschriften fällt, sondern ausschließlich die Änderungsvorschriften der AO 1977 betrifft, können die Folgen des Versäumnisses des Klägers bei der Verfolgung seines Änderungsbegehrens nicht über eine entsprechende Anwendung der Grundsätze des § 15 a UStG 1980 ausgeräumt werden.

Aus der neueren Rechtsprechung des Senats zu § 15 a UStG 1980 (vgl. Urteile vom 16. Dezember 1993 V R 65/92, BFHE 173, 270, BStBl II 1994, 485, und vom 27. Januar 1994 V R 31/91, BFHE 173, 463, BStBl II 1994, 488) ergibt sich nichts anderes. Diese Entscheidungen beziehen sich ausschließlich auf eine fehlerhafte Beurteilung der für den Vorsteuerabzug maßgebenden Verwendungsumsätze. Im Streitfall blieben die Vorsteuerbeträge 1984 nicht unberücksichtigt, weil die Verwendung der Eigentumswohnung fehlerhaft beurteilt wurde, sondern ausschließlich deshalb, weil die vorsteuerbelasteten Eingangsumsätze dem FA bei der Veranlagung nicht bekannt waren und weil der Kläger sein Änderungsbegehren nicht weiterverfolgt hat.