| Home | Index | EStG | Neuzugang | Impressum  
       

 

 

 

 

 

  BFH-Urteil vom 15.3.1995 (I R 56/93) BStBl. 1995 II S. 490

1. Der Ausdruck "Steuernachforderung" bezieht sich auf eine Steuerzahlungsschuld, der zumindest im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung die Eignung zukommt, noch fällig werden zu können.

2. Rechnet ein Steuerpflichtiger mit einer fälligen Steuererstattungsforderung gegenüber einer Steuerzahlungsschuld vor Festsetzung der ihr zugrundeliegenden Steuerschuld rechtswirksam auf, so entsteht keine Steuernachforderung mit der Folge, daß für eine Festsetzung von Zinsen die Grundlage fehlt.

AO 1977 § 233a.

Vorinstanz: FG München

Sachverhalt

I.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine GmbH, reichte erst am 4. April 1991 beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) ihre Körperschaftsteuererklärung 1989 ein. Auf Grund der Erklärung setzte das FA durch Körperschaftsteuerbescheid 1989 vom 22. November 1991 eine Körperschaftsteuerschuld in Höhe von 2.637.722 DM fest. Nach der Anrechnungsverfügung waren auf diese Steuerschuld 1.963.839 DM entrichtet. Den Restbetrag in Höhe von 673.883 DM stellte das FA einerseits zum 27. Dezember 1991 fällig, um ihn gleichzeitig noch zum 22. November 1991 mit der Abtretung einer gleich hohen Steuererstattung zu verrechnen.

Das FA erließ außerdem am 22. November 1991 einen Zinsbescheid gemäß § 233 a der Abgabenordnung (AO 1977) i.d.F. des Art. 15 Nr. 3 des Steuerreformgesetzes (StRG) 1990 vom 25. Juli 1988 (BGBl I 1988, 1093, BStBl I 1988, 224) und des Wohnungsbauförderungsgesetzes (WoBauFG) vom 22. Dezember 1989 (BGBl I 1989, 2408, BStBl I 1989, 505) über Zinsen in Höhe von 105.508 DM. Zur Berechnung der festgesetzten Zinsen ging es von einer Körperschaftsteuerschuld 1989 in Höhe von (abgerundet) 2.637.700 DM aus, die am 1. April 1991 noch nicht zum Soll gestellt war. Von dieser Steuerschuld berechnete es Zinsen für die Zeit vom 1. April bis 30. November 1991 (8 Monate x 0,5 v.H. von 2.637.700 DM = 105.508 DM).

Gegen den Zinsbescheid legte die Klägerin Einspruch ein. Sie machte geltend, mit der Körperschaftsteuererklärung 1989 eine Abtretungserklärung der U-GmbH über deren Steuererstattungsansprüche in Höhe von 3.327.970,62 DM gegenüber dem FA T eingereicht und gleichzeitig die Aufrechnung der Erstattungsansprüche gegen die Steuerschuld erklärt zu haben. Tatsächlich belief sich der abgetretene Steuererstattungsanspruch der U-GmbH auf 3.881.431 DM. Er wurde durch einen Steuerbescheid festgesetzt, den das FA T der U-GmbH am 18. Juli 1991 bekanntgab. Der Erstattungsanspruch wurde in Höhe eines Teilbetrages von 3.120.034 DM am 5. Juli 1991 und in Höhe des Restbetrages von 761.397 DM am 21. August 1991 fällig. Er wurde wie folgt auf die Körperschaftsteuerschuld 1989 der Klägerin umgebucht:

 

am 1. August 1991:

1.960.034 DM;

am 22. November 1991:

673.883 DM.

Die Klägerin war und ist der Auffassung, daß mit dem Zugang der Abtretungs- und Aufrechnungserklärung die eigene Körperschaftsteuerschuld 1989 rückwirkend zum

1. Januar 1991 erloschen sei, weshalb für den Erlaß eines Zinsbescheides kein Raum mehr sei.

Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg.

Die Klägerin stützt ihre vom Finanzgericht (FG) zugelassene Revision auf die Verletzung des § 233 a AO 1977.

Während des Revisionsverfahrens hat das FA am 3. Juni 1994 einen gemäß § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a i.V.m. § 163 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 geänderten Zinsbescheid erlassen und die Zinsen auf 56045 DM herabgesetzt. Bei der geänderten Zinsberechnung geht das FA von Tz. 6.2.1 des Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 4. Juli 1990 IV A 5 - S 0460 a - 16/90 (BStBl I 1990, 304) und von Tz. 10.2 des BMF-Schreibens vom 8. Juli 1993 IV A 5 - S 0460 a - 24/93 (BStBl I 1993, 527) aus und erhebt nur die in der Zeit vom 1. April bis 31. Juli 1991 entstandenen Zinsen. Die Klägerin hat den geänderten Bescheid mit Schriftsatz vom 30. Juni 1994 (Eingang beim Bundesfinanzhof

- BFH -: 6. Juli 1994) in das Revisionsverfahren übergeleitet.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG München vom 2. März 1993 7 K 2475/92 und die Zinsbescheide vom 22. November 1991 und vom 3. Juni 1994 aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Das BMF ist dem Revisionsverfahren beigetreten. Es hat sich mit Schriftsätzen vom 27. Mai 1994 und 24. Februar 1995 geäußert, ohne einen Antrag zu stellen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, der Zinsbescheide vom 22. November 1991 und 3. Juni 1994 und der Einspruchsentscheidung vom 9. Juli 1992 (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Nach § 233 a Abs. 1 Satz 1 AO 1977 i.d.F. des StRG 1990 sind Nachzahlungszinsen auf Steuern ab dem Veranlagungszeitraum 1989 zu erheben, wenn die Festsetzung einer Steuer (hier: der Körperschaftsteuer 1989) zu einer Steuernachforderung führt. Wegen weiterer Einzelheiten verweist die Vorschrift auf § 233 a Abs. 2 bis 5 AO 1977.

2. In § 233 a Abs. 2 bis 5 AO 1977 wird der Begriff "Steuernachforderung" nicht definiert. Es spricht lediglich die Gegenüberstellung der Ausdrücke "Steuernachforderung" und "Steuererstattung" in § 233 a Abs. 1 Satz 1 AO 1977 dafür, daß die Steuernachforderung das Gegenteil einer Steuererstattung ist. Der in dem Begriff "Steuernachforderung" verwendete Wortteil "Forderung" deutet darauf hin, daß der Ausdruck auf eine Leistungsbeziehung abstellt, auf Grund derer das FA berechtigt ist, von dem Steuerschuldner eine Steuer "nachzufordern". Für diese Auslegung spricht ferner § 233 a Abs. 2 Satz 3 AO 1977 in der vor Inkrafttreten des Art. 26 Nr. 27 Buchst. a des Gesetzes zur Bekämpfung des Mißbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts (StMBG) vom 21. Dezember 1993 (BGBl I 1993, 2310, BStBl I 1994, 50) geltenden Fassung. Danach endet der Zinslauf mit der Fälligkeit der Steuernachforderung. Folglich muß sich der Ausdruck auf eine Steuerzahlungsschuld beziehen, der zumindest im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung die Eignung zukommt, noch fällig werden zu können. Zwar ist § 233 a Abs. 2 Satz 3 AO 1977 durch Art. 26 Nr. 27 Buchst. a StMBG geändert worden. Die geänderte Fassung ist jedoch erst auf Zinsen anzuwenden, die nach dem 31. Dezember 1993 festgesetzt wurden (Art. 27 Nr. 1 Buchst. g StMBG). Diese Voraussetzung ist im Streitfall unbeschadet der Tatsache nicht erfüllt, daß das FA am 3. Juni 1994 einen geänderten Zinsbescheid erlassen hat. Hierbei handelt es sich um eine Billigkeitsentscheidung, die auf § 163 Abs. 1 AO 1977 gestützt wurde und sich wegen der Zweispurigkeit des Festsetzungs- und Erlaßverfahrens auf die Rechtmäßigkeit der Festsetzung von Zinsen nicht auswirkt (vgl. BFH-Entscheidung vom 12. Januar 1989 IV R 87/87, BFHE 155, 487, BStBl II 1990, 261 m.w.N.).

3. Der Senat sieht keine Möglichkeit, den "Unterschiedsbetrag" i.S. des § 233 a Abs. 3 AO 1977 als Oberbegriff für Steuernachforderungen einerseits und Steuererstattungen andererseits zu verstehen. Gegen eine solche Auslegung spricht die Verwendung verschiedener Begriffe ohne jeden Bezug zueinander innerhalb einer Vorschrift durch den Gesetzgeber. Diese Gesetzestechnik begründet die Vermutung, daß mit den unterschiedlichen Begriffen auch unterschiedliche Inhalte verbunden sein sollen. Der Gesetzgeber hätte ohne weiteres § 233 a Abs. 1 AO 1977 dahin formulieren können, daß eine Verzinsung immer dann durchzuführen ist, wenn sich als Ergebnis der Anrechnung gemäß § 233a Abs. 3 AO 1977 ein Unterschiedsbetrag im Sinne der Vorschrift ergibt. Wenn er diesen relativ einfachen Weg nicht wählte, muß angenommen werden, daß die Ausdrücke Steuernachforderungen und Steuererstattungen einerseits und Unterschiedsbetrag andererseits verschiedene Inhalte haben. Dies wird durch § 233 a Abs. 2 Satz 3 AO 1977 bestätigt. Danach endet die Verzinsung mit der Fälligkeit der Steuernachforderung oder Steuererstattung. Der Unterschiedsbetrag i.S. des § 233 a Abs. 3 AO 1977 besagt aber nichts darüber, ob ein Steueranspruch fällig werden kann. Dies kann, muß aber nicht so sein. In den Unterschiedsbetrag gehen nämlich nur die in § 233 a Abs. 3 Satz 1 AO 1977 genannten Leistungen und nicht z.B. vor der Steuerfestsetzung freiwillig geleistete Zahlungen ein, die jedoch auf die Steuerzahlungsschuld die gleiche Erfüllungswirkung wie festgesetzte Vorauszahlungen haben.

4. Der Senat geht mit dem BMF davon aus, daß eine vor Festsetzung der Steuerschuld auf diese geleistete Zahlung der Steuerfestsetzung nicht entgegensteht. Er läßt offen, ob eine entsprechende Zahlung in der Zeit bis zur Steuerfestsetzung eine solche ohne rechtlichen Grund ist oder ob sie schon im Zahlungszeitpunkt auf den mit Ablauf des Veranlagungszeitraums entstehenden Steueranspruch erfüllend wirkt und damit zum Erlöschen des Anspruchs i.S. des § 47 AO 1977 führt. Die AO 1977 schließt freiwillige Zahlungen auf eine noch nicht festgesetzte Steuerschuld nicht aus. Die Regelung des § 36 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ist nicht in dem Sinne eine abschließende, daß sie die Anrechnung freiwilliger Leistungen auf die Steuerschuld verbieten würde. Zwar mögen die FÄ nicht verpflichtet sein, freiwillige Leistungen auf die Steuerschuld vor deren Festsetzung anzunehmen. Wenn sie sie dennoch annehmen, sind sie auch zur Anrechnung auf den Zeitpunkt der Steuerfestsetzung verpflichtet. Dies gilt sowohl für die als Folge einer Steuerfestsetzung regelmäßig zu erlassende Anrechnungsverfügung als auch für einen evtl. Abrechnungsbescheid i.S. des § 218 Abs. 2 AO 1977. Das FA hätte deshalb schon in der Anrechnungsverfügung vom 22. November 1991 zum Körperschaftsteuerbescheid 1989 die festgesetzte Steuerschuld insgesamt als getilgt behandeln müssen. Dazu kann dahinstehen, ob die von der Klägerin am 4. April 1991 erklärte Aufrechnung mangels Fälligkeit der Forderung, mit der aufgerechnet werden sollte, unwirksam war. Dem FA lag jedenfalls seit dem 4. April 1991 die Abtretung der Steuererstattungsforderung der U-GmbH zugunsten der Klägerin vor. Zusätzlich hatte die Klägerin um Verrechnung dieser Erstattungsforderung mit der festzusetzenden Steuerschuld gebeten. Wenn das FA bei dieser Sachlage die Erstattungsforderung mit den Steuerschulden verrechnete, so ist hierin entweder eine Aufrechnung durch das FA oder doch zumindest die Annahme des Angebotes auf Abschluß eines Aufrechnungsvertrages zu sehen. Die vollzogene Verrechnung löst so oder so die Rechtsfolgen des § 226 AO 1977 i.V.m. § 389 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) aus. Entsprechend ging der Steueranspruch bei Fälligkeit der Erstattungsforderung und gleichzeitiger Entstehung der Steuerzahlungsschuld unter. Diese Rechtsfolge vollzog sich mit Erlaß des Steuerbescheides vom 21. November 1991 und schließt die Entstehung einer Steuernachforderung aus.

5. Der Senat hat bei seiner Entscheidung bedacht, daß der Gesetzgeber die Erhebung von Zinsen nach dem Sollprinzip ausgestalten wollte. Auch hätte es dieser Absicht entsprochen, wenn die Verzinsung nicht an Steuernachforderungen bzw. an Steuererstattungen, sondern an das Entstehen eines Unterschiedsbetrages i.S. des § 233 a Abs. 3 AO 1977 angeknüpft hätte. Schließlich ist nicht zu verkennen, daß sich als Folge der nunmehr getroffenen Entscheidung Unbilligkeiten ergeben, wenn sich trotz freiwilliger Leistungen auf die noch nicht festgesetzte Steuerschuld eine nur geringfügige Steuernachforderung ergibt. Dem steht jedoch entgegen, daß - wie das BMF vorgetragen hat - die Koalitionsfraktionen im Finanzausschuß des Deutschen Bundestages davon ausgegangen sind, daß die Finanzverwaltung für die Steuerpflichtigen eine Möglichkeit im Verwaltungswege eröffnen werde, unabhängig vom Zeitpunkt der steuerlichen Veranlagung, die sich aus der Steuererklärung etwa ergebenden Nachforderungen an die Finanzkasse leisten zu können, um Nachforderungszinsen zu vermeiden (vgl. BTDrucks 11/2529). Dazu sind in der Folgezeit die BMF-Schreiben vom 4. Juli 1990 IVA 5 - S 0460 a - 16/90 (BStBl I 1990, 304) und vom 8. Juli 1993 IV A 5 - S 0460 a - 24/93 (BStBl I 1993, 527) ergangen. Durch diese Regelungen wird das System der Verzinsung nach dem Sollprinzip unterlaufen und in Frage gestellt. Es ist inkonsequent, daß der Gesetzgeber ein solches Prinzip aufstellt und gleichzeitig der Finanzverwaltung nahelegt, davon abweichend zu verfahren. Dies gilt zumal dann, wenn die o.g. BMF-Schreiben - wie der Streitfall zeigt - von der Praxis nicht beachtet werden und von den FG wegen der Zweispurigkeit von Festsetzungs- und Erlaßverfahren im Festsetzungsverfahren nicht beachtet werden dürfen. Es ist die Sache des Gesetzgebers, die Regelung in das Gesetz einfließen zu lassen, die er für billig hält. In diesem Zusammenhang weist der Senat darauf hin, daß der Eingangssatz zu § 233 a Abs. 1 AO 1977 ebenfalls irreführend formuliert ist. Es führt nicht schon die Steuerfestsetzung zu einer Steuernachforderung oder Steuererstattung. Diese sind vielmehr erst das Ergebnis der Anrechnung bestimmter Leistungen auf die festgesetzte Steuerschuld.

6. Mit seiner Entscheidung weicht der Senat nicht von den BFH-Beschlüssen vom 9. Mai 1994 VI B 97/93 (BFHE 174, 214, BStBl II 1994, 556) und vom 27. September 1994 VIII B 21/94 (BFHE 175, 516) ab. Der Beschluß in BFHE 174, 214, BStBl II 1994, 556 betrifft eine Steuerzahlung, die nach Festsetzung der Steuer und vor Fälligkeit des Steuerzahlungsanspruchs geleistet wurde. In einem solchen Fall ist auch nach der vom erkennenden Senat vertretenen Auffassung eine Steuernachforderung entstanden. Der Beschluß in BFHE 175, 516 betrifft nur eine Aussetzung der Vollziehung. Er äußert sich nur zu dem Vorliegen ernstlicher Zweifel, ohne jedoch Rechtsfragen abschließend zu beurteilen.

7. Kommt aber der von der Klägerin erklärten und vom FA angenommenen Aufrechnung Erfüllungswirkung zumindest auf den Zeitpunkt des Erlasses des Körperschaftsteuerbescheides 1989 zu, so "führte dieser nicht zu einer Steuernachforderung" i.S. des § 233 a Abs. 1 AO 1977. Damit ist der Festsetzung von Zinsen die Grundlage entzogen.

8. Die Vorentscheidung entspricht nicht den hier wiedergegebenen Rechtsgrundsätzen. Sie kann deshalb keinen Bestand haben und war aufzuheben. Die Sache ist entscheidungsreif. Die Klage ist begründet. Der Senat hebt den angefochtenen Zinsbescheid vom 3. Juni 1994, den sodann wiederauflebenden Zinsbescheid vom 22. November 1991 und die Einspruchsentscheidung vom 9. Juli 1992 auf.