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  BFH-Urteil vom 18.1.1995 (I R 44/94) BStBl. 1995 II S. 742

1. Erhebt ein Versorgungsunternehmen der öffentlichen Hand (Betrieb gewerblicher Art) von seinen Kunden Abschlagszahlungen, so ist es zur Erstellung seiner Jahresabrechnung für das abgelaufene Jahr verpflichtet (vgl. Verordnungen über Allgemeine Bedingungen für die Gasversorgung/Elektrizitätsversorgung von Tarifkunden).

2. Das Versorgungsunternehmen ist zur Bildung einer Rückstellung für die am Bilanzstichtag ungewissen Kosten der Jahresabrechnung verpflichtet, wenn ein "wesentlicher" Aufwand zu erwarten ist.

3. Die "Wesentlichkeit" des Aufwandes ist nicht nach dem Aufwand für das einzelne Vertragsverhältnis zu beurteilen, sondern nach der Bedeutung der Verpflichtung für das Unternehmen.

KStG § 8; HGB § 242 Abs. 1 Satz 1, § 249 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 263; AVBGasV § 24 Abs. 1; AVBEltV § 24 Abs. 1; EigenbetriebsVO § 12.

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg

Sachverhalt

I.

Streitig ist die Bildung von Rückstellungen für die Kosten der Jahresabrechnungen für Tarifkunden eines Versorgungsbetriebes.

1. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, betreibt einen Versorgungsbetrieb (Stadtwerke) als Eigenbetrieb. Die Tarifkunden der Stadtwerke leisten für Strom, Gas und Wasser jeweils monatliche Abschlagszahlungen. Zum Jahreswechsel - etwa fünf Tage vor und fünf Tage nach dem Bilanzstichtag - läßt die Klägerin die Zählerstände bei den Tarifkunden ablesen und erstellt dann im Laufe des Januar die Jahresabrechnungen. Soweit sich nach dem abgelesenen Verbrauch unter Berücksichtigung der Abschlagszahlungen Restforderungen ergeben, weist die Klägerin diese Beträge in der jeweiligen Jahresbilanz aus. Sie betrugen zum 31. Dezember 1986 5.147.893,49 DM und zum 31. Dezember 1987 4.773.931,53 DM. Für die Verpflichtung zur Erstellung der Jahresabrechnungen bildete die Klägerin in den Schlußbilanzen der Streitjahre 1986 und 1987 Rückstellungen in Höhe von 50.000 DM (für 1986) und von 45.000 DM (für 1987). Die Beteiligten haben sich darauf verständigt, daß diese Beträge dem tatsächlichen Aufwand der noch zu erstellenden Abrechnungen entsprachen.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) erkannte im Anschluß an eine Außenprüfung die Rückstellungen nicht an und rechnete die Kosten der Jahresabrechnungen den laufenden Betriebsausgaben des Folgejahres zu.

2. Gegen die entsprechend geänderten Körperschaftsteuerbescheide 1986 und 1987 vom 9. Mai 1990 erhob die Klägerin nach erfolglosem Einspruchsverfahren Klage, der das Finanzgericht (FG) stattgab.

3. Das FA stützt seine gegen das FG-Urteil eingelegte Revision auf Verletzung der §§ 5 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) und 249 Abs. 1 des Handelsgesetzbuches (HGB).

Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des FA ist unbegründet. Sie war zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Die Klägerin ist mit ihrem Versorgungsbetrieb (Betrieb gewerblicher Art) unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtig (§ 1 Abs. 1 Nr. 6 des Körperschaftsteuergesetzes - KStG -). Sie war verpflichtet, in ihren Bilanzen zum 31. Dezember 1986 und zum 31. Dezember 1987 Rückstellungen für die Kosten der Jahresabrechnungen gegenüber den Tarifkunden für das jeweils abgelaufene Wirtschaftsjahr zu bilden.

1. Gemäß § 242 Abs. 1 Satz 1 HGB war die Klägerin zur Erstellung von Jahresabschlüssen verpflichtet. Versorgungsunternehmen betreiben ein Handelsgewerbe i. S. des § 1 HGB und sind als Kaufleute zur Erstellung jährlicher Abschlüsse verpflichtet (Zeiß/Bolsenkötter/Kirkerup/Surmann, Das Recht der gemeindlichen Eigenbetriebe, 4. Aufl., S. 293). Zwar könnten gemäß § 263 HGB landesrechtliche Vorschriften davon abweichen. Die für die Klägerin geltende baden-württembergische Eigenbetriebsverordnung (EigBetrVO) vom 22. Juli 1987 (Gesetzblatt für Baden-Württemberg - GBl BW - 1987, 306) verpflichtet die Eigenbetriebe jedoch zur Beachtung der Vorschriften des Dritten Abschnitts des HGB (§ 12 EigBetrVO).

Daraus folgt, daß die Klägerin gemäß § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB verpflichtet war, in ihren Jahresabschlüssen Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten zu bilden (§ 249 Abs. 1 Satz 1 HGB). Diese Rückstellungen sind auch in der Steuerbilanz zu bilden, da § 249 Abs. 1 und Abs. 3 HGB insoweit einen Grundsatz ordnungsmäßiger Buchführung i. S. des § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG enthält (Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 26. Oktober 1977 I R 148/75, BFHE 123, 547, BStBl II 1978, 97, und I R 124/76, BFHE 123, 551, BStBl II 1978, 99; vom 20. März 1980 IV R 89/79, BFHE 130, 165, BStBl II 1980, 297, und vom 25. März 1992 I R 69/91, BFHE 168, 527, BStBl II 1992, 1010).

2. Die jährliche Erstellung der Abrechnungen beruht auf einer Verpflichtung der Klägerin gegenüber ihren Tarifkunden.

Gemäß § 24 Abs. 1 der Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Gasversorgung von Tarifkunden (AVBGasV) vom 21. Juni 1979 (BGBl I 1979, 676) und gemäß § 24 Abs. 1 der Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Elektrizitätsversorgung von Tarifkunden (AVBEltV) vom 21. Juni 1979 (BGBl I 1979, 684) sind die Versorgungsunternehmen verpflichtet, den Energieverbrauch in Zeitabschnitten abzurechnen. Die Abrechnungsverpflichtungen sind gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 der AVBGasV und der AVBEltV Bestandteil jeden Versorgungsvertrages und begründen damit Ansprüche der Tarifkunden. Die Abrechnungsverpflichtung entspricht im übrigen der Verpflichtung der Tarifkunden zur Leistung von Abschlagszahlungen gemäß § 25 der AVBGasV und der AVBEltV. Da die Tarifkunden zu Abschlagszahlungen herangezogen werden, muß ihnen in regelmäßigen Abständen anhand der Abrechnung nach § 25 Abs. 3 der AVBGasV und der AVBEltV eine Überprüfung eventueller Überzahlungen ermöglicht werden. Die §§ 24, 25 der Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Versorgung mit Wasser (AVBWasserV) vom 20. Juni 1980 (BGBl I 1980, 750, 1067) enthalten entsprechende Regelungen. Die Verpflichtung gegenüber den Tarifkunden wird nicht dadurch beseitigt, daß die Abrechnungsverpflichtung möglicherweise auch im innerbetrieblichen Interesse der Versorgungsunternehmen mit dem Ziel eines zeitnah überschaubaren Rechnungswesens geschaffen wurde (vgl. BFH-Urteil vom 25. Februar 1986 VIII R 134/80, BFHE 147, 8, BStBl II 1986, 788, 790).

Die Abschnitte dürfen nach § 24 der AVBGasV und der AVBEltV zwölf Monate nicht wesentlich überschreiten. Entgegen der Auffassung des FA wird mit dieser Formulierung die Verpflichtung nicht in ihrem wesentlichen Gehalt verändert, da die Abrechnungsverpflichtung als solche in jedem Falle bestehen bleibt. Im übrigen könnte die Klägerin den Zwölf-Monatsabschnitt nach § 24 der AVBGasV und der AVBEltV allenfalls geringfügig verändern. Es kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, daß sich der Jahresrhythmus der Abrechnungen so weitgehend durchgesetzt hat, daß sich die Versorgungsunternehmen diesem Abrechnungszeitraum nicht entziehen könnten.

3. Die Abrechnungsverpflichtung ist ungewiß i. S. des § 249 Abs. 1 HGB.

Die Ungewißheit i. S. des § 249 Abs. 1 HGB kann sich sowohl auf den Grund der Verpflichtung als auf die Höhe des Aufwands beziehen (vgl. Baumbach/Duden/Hopt, Handelsgesetzbuch, 29. Aufl., § 249 Anm. 2 A b; Lambrecht in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, § 5 Rdnr. D 60). Im Streitfall ist die Verpflichtung dem Grunde nach gewiß, sie ist jedoch der Höhe nach unbestimmt, da sich der im einzelnen Jahr erforderliche Abrechnungsaufwand nur schätzen läßt.

4. Der für die Abrechnungen erforderliche Aufwand ist bereits im jeweils abgelaufenen Wirtschaftsjahr wirtschaftlich verursacht.

Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist eine Rückstellung nur zulässig, wenn der künftige Aufwand im wesentlichen bereits im abgelaufenen Wirtschaftsjahr wirtschaftlich verursacht und es deshalb geboten ist, ihn als Aufwand des abgelaufenen Wirtschaftsjahrs zu behandeln (vgl. BFH in BFHE 168, 527, BStBl II 1992, 1010 m. w. N.). Es müssen die wirtschaftlich wesentlichen Tatbestandsmerkmale der Verpflichtung bereits im abgelaufenen Jahr erfüllt sein und das Entstehen der Verbindlichkeit nur noch von wirtschaftlich unwesentlichen Merkmalen abhängen (BFH in BFHE 168, 527, BStBl II 1992, 1010, 1012).

Im Streitfall liegt die wirtschaftliche Verursachung in den von der Klägerin im abgelaufenen Wirtschaftsjahr vereinnahmten Abschlagszahlungen. Mit der Vereinnahmung der pauschalierten Abschlagszahlungen ist notwendigerweise die Verpflichtung zur Abrechnung verbunden. Die Klägerin hat mit diesen Zahlungen gewinnerhöhende Betriebseinnahmen erzielt, die jedoch mit der Verpflichtung zu zeitnaher Abrechnung belastet sind. Es kommt hinzu, daß die Klägerin auch die aufgrund der Abrechnungen ermittelten Restforderungen gegen ihre Kunden bereits zum Ende des Abrechnungszeitraums gewinnerhöhend aktiviert hat. Würden diese Einnahmen nicht um die Kosten der Abrechnung vermindert, würde die Klägerin einen von ihr nicht erwirtschafteten Gewinn ausweisen (vgl. BFH-Urteil vom 12. Dezember 1990 I R 153/86, BFHE 163, 146, 154, BStBl II 1991, 479).

5. Die Verpflichtung der Klägerin ist auch "wesentlich" i. S. der bisherigen Rechtsprechung.

Der BFH hat eine Verpflichtung zur Rückstellungsbildung verneint, wenn der passivierte Aufwand als unwesentlich anzusehen ist (BFH-Urteile vom 15. November 1960 I 189/60 U, BFHE 72, 126, BStBl III 1961, 48; vom 25. Februar 1986 VIII R 134/80, BFHE 147, 8, BStBl II 1986, 788; ebenso: Leffson, Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, 7. Aufl. 1987, S. 180 ff.). Bei unwesentlichem Aufwand besteht nach dieser Rechtsprechung ein Passivierungswahlrecht, das steuerrechtlich als Passivierungsverbot aufzufassen ist (BFH-Beschluß vom 3. Februar 1969 GrS 2/68, BFHE 95, 31, BStBl II 1969, 291). Ein Aufwand in Höhe von 45.000 DM bis 50.000 DM ist jedoch nicht als unwesentlich in diesem Sinne zu betrachten. Dabei ist der Gesamtaufwand zugrunde zu legen. Die "Wesentlichkeit" einer Verpflichtung ist nicht nach dem Aufwand für das einzelne Vertragsverhältnis zu beurteilen, sondern nach der Bedeutung der Verpflichtung für das Unternehmen (vgl. BFH-Urteile in BFHE 72, 126, BStBl III 1961, 48, 49; in BFHE 168, 527, BStBl II 1992, 1010). Es kann insoweit dahinstehen, ob ein Aufwand in Höhe von rd. 50.000 DM nicht schon für sich betrachtet als "wesentlich" im Sinne der Rechtsprechung anzusehen ist. Selbst wenn man mit Leffson den Begriff unwesentlicher Auswirkungen in Relation zum Ergebnis des Betriebes beurteilt, ergibt sich nichts anderes. Die Klägerin hat nach ihren Gewinn- und Verlustrechnungen in den Jahren 1985 bis 1987 Verluste von rd. 5.500 DM (1985) und rd. 54.000 DM (1986) und einen Gewinn von rd. 357.000 DM (1987) erwirtschaftet. Im Verhältnis zu diesen Gesamtergebnissen des Betriebes kann der zurückgestellte Aufwand von 50.000 DM nicht als unwesentlich beurteilt werden.