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  BFH-Urteil vom 5.7.1995 (X R 39/93) BStBl. 1995 II S. 842

Hat ein Beteiligter im Verfahren vor dem FG den Verzicht auf mündliche Verhandlung zu einem Zeitpunkt erklärt, in dem die erst durch das Gesetz zur Änderung der FGO und anderer Gesetze vom 21. Dezember 1992 (BGBl I 1992, 2109, BStBl I 1993, 90) eingeführte Möglichkeit einer Entscheidung durch den Einzelrichter noch nicht gegeben war, wird der Verzicht mit der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter unwirksam.

FGO § 90 Abs. 2.

Vorinstanz: Hessisches FG

Sachverhalt

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) erließ gegenüber dem Kläger und Revisionskläger (Kläger) am 1. September 1986 einen Einkommensteuerbescheid für 1985.

Mit der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage wandte sich der Kläger u. a. gegen die unzureichende Höhe der Kinderfreibeträge und machte weiter geltend, der Bescheid sei fehlerhaft adressiert.

Mit Schreiben vom 16. Januar 1990 erklärte sich der Kläger mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

Am 6. Juli 1992 erließ das FA einen geänderten Einkommensteuerbescheid 1985, in dem es den durch das Steueränderungsgesetz erhöhten Kinderfreibetrag berücksichtigte. Diesen Bescheid erklärte es mit Rücksicht auf verfassungsrechtliche Zweifel hinsichtlich der Höhe des Grundfreibetrages und der beschränkten Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen für vorläufig. Der Bescheid wurde auf entsprechenden Antrag des Klägers Gegenstand des Klageverfahrens.

Mit Beschluß vom 13. Januar 1993 wurde der Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen. Der Beschluß ist dem Kläger zusammen mit dem Urteil des Einzelrichters vom 21. Januar 1993 zugestellt worden. Der Einzelrichter hat die Klage unter Hinweis auf die entsprechenden Verzichtserklärungen der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung als unbegründet abgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die auf § 116 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gestützte zulassungsfreie Revision des Klägers.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

I. Der Senat ist ordnungsgemäß besetzt (Hinweis auf die Senatsbeschlüsse vom 18. Februar 1994 X B 35/93, BFH/NV 1995, 120, und vom 10. August 1994 X K 4/94, BFH/NV 1995, 141).

II. Die Revision ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Der Kläger konnte - ungeachtet der Beschränkungen des Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) in der für den Streitfall geltenden Fassung - Revision ohne vorherige Zulassung einlegen. Er hat Tatsachen vorgetragen, die - ihre Richtigkeit unterstellt - einen wesentlichen Mangel i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 3, § 119 Nr. 4 FGO ergeben. Ein Verfahrensmangel im Sinne der genannten Vorschrift ist u. a. dann gegeben, wenn das FG zu Unrecht einen Verzicht auf mündliche Verhandlung angenommen und unter Verstoß gegen § 90 Abs. 1 und 2 FGO ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (z. B. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 6. April 1990 III R 62/89, BFHE 160, 405, BStBl II 1990, 744 m. w. N.).

2. Im Streitfall durfte das FG nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Verzichtserklärung des Klägers durch die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter "verbraucht" war.

Ein "Verbrauch" des Verzichts auf mündliche Verhandlung wird nach der bisherigen Rechtsprechung bereits dann angenommen, wenn das Gericht eine die Endentscheidung wesentlich sachlich vorbereitende Entscheidung erläßt (BFH-Urteil vom 5. März 1986 I R 28/81, BFH/NV 1987, 651). Der Senat kann offenlassen, ob er sich der Auffassung anschließen könnte, eine Verzichtserklärung werde stets mit der nächsten Entscheidung des Gerichts, die die Instanz nicht beendet (Beweisbeschluß, Auflagenbeschluß, Teilurteil), unwirksam (ablehnend Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 90 Rz. 16; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 90 FGO Rz. 3 a, die jeweils einen Widerruf des Verzichts bei einer wesentlichen Änderung der Prozeßlage für möglich halten; offengelassen im Urteil in BFHE 160, 405, BStBl II 1990, 744). Offenbleiben kann auch, ob ein Verzicht auf mündliche Verhandlung, den der Beteiligte vor der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter erklärt, sich nur auf die Entscheidung durch den nach Maßgabe der allgemeinen Regelung des § 5 Abs. 3 FGO zuständigen Spruchkörper, den Senat, bezieht und deshalb grundsätzlich mit der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter hinfällig wird. Jedenfalls dann, wenn ein Beteiligter den Verzicht auf mündliche Verhandlung zu einem Zeitpunkt erklärt hat, in dem die erst durch das Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 21. Dezember 1992 (BGBl I 1992, 2109, BStBl I 1993, 90) eingeführte Möglichkeit einer Entscheidung durch den Einzelrichter noch nicht gegeben war, kann sich der Verzicht nur auf die Entscheidung durch den Senat beziehen. In einem solchen Fall wird mit der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter der bisherige Verzicht unwirksam.

Im Streitfall hat der Kläger mit Schriftsatz vom 16. Januar 1990 den Verzicht auf mündliche Verhandlung erklärt. Nach der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter am 13. Januar 1993 hat der Kläger nicht erneut auf mündliche Verhandlung verzichtet. Das FG (der Einzelrichter) durfte hiernach nicht nach § 90 Abs. 2 FGO im schriftlichen Verfahren entscheiden. Das angefochtene Urteil war wegen dieses Verfahrensmangels aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

3. Unter diesen Umständen braucht der Senat nicht zu prüfen, ob die Rügen, das FG sei nicht vorschriftsmäßig besetzt (§ 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO) und die Entscheidung sei nicht mit Gründen versehen (§ 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO), schlüssig erhoben und ggf. begründet sind.