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  EuGH-Urteil vom 29.2.1996 (C 110/94) BStBl. 1996 II S. 655

Die Vergabe einer Rentabilitätsstudie hinsichtlich der beabsichtigten Tätigkeit einer Gesellschaft, die ihre Absicht erklärt hat, eine zu steuerbaren Umsätzen führende wirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen, und deren Eigenschaft als Mehrwertsteuerpflichtiger die Steuerbehörde anerkannt hat, kann als eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne des Artikels 4 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage angesehen werden, selbst wenn der Zweck dieser Studie in der Prüfung besteht, inwieweit die beabsichtigte Tätigkeit rentabel ist.

Außer in Fällen von Betrug oder Mißbrauch kann die Eigenschaft als Mehrwertsteuerpflichtiger dieser Gesellschaft nicht rückwirkend aberkannt werden, wenn aufgrund dieser Studie beschlossen wurde, nicht in die werbende Phase einzutreten und die Gesellschaft zu liquidieren, so daß die beabsichtigte wirtschaftliche Tätigkeit nicht zu steuerbaren Umsätzen führte.

1 Die Rechtbank van eerste aanleg Brügge hat mit Urteil vom 5. April 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 8. April 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 4 Absätze 1 und 2 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (77/388/EWG; ABl L 145, S. 1, nachstehend: Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich im Rahmen eines Einspruchsverfahrens gegen einen Vollstreckungsbescheid der belgischen Behörde gegen die Intercommunale voor zeewaterontzilting, Aktiengesellschaft in Liquidation (INZO), wegen Zahlung der Mehrwertsteuer, die letztere aufgrund ihres Rechts auf Vorsteuerabzug zurückerhalten hatte.

3 Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Richtlinie bestimmt:

"(1) Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.

(2) Die in Absatz 1 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten sind alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt auch eine Leistung, die die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen umfaßt."

4 Artikel 17 Absatz 2 der Richtlinie bestimmt:

"Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a) die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden.

... "

5 Artikel 18 Absatz 4 sieht vor: "Übersteigt der Betrag der zulässigen Abzüge den Betrag der für einen Erklärungszeitraum geschuldeten Steuer, können die Mitgliedstaaten den Überschuß entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen oder ihn nach den von ihnen festgelegten Einzelheiten erstatten."

6 Artikel 22 Absatz 1 der Richtlinie bestimmt: "Jeder Steuerpflichtige hat die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger anzuzeigen."

7 Die INZO wurde im Jahre 1974 u.a. von den Provinzen West- und Ostflandern und einer Reihe von Gemeinden errichtet. Ihr Gesellschaftszweck wurde dahin festgelegt, Verfahren im Zusammenhang mit der Behandlung von See- und Brackwasser zu entwickeln und anzuwenden und dieses Wasser zu für die Versorgung bestimmtem Trinkwasser zu verarbeiten.

8 Zu diesem Zweck erwarb die INZO bestimmte Ausrüstungsgegenstände und gab eine Rentabilitätsstudie hinsichtlich des Baues einer Wasserentsalzungsanlage in Auftrag. Für diese Tätigkeiten und insbesondere für die Erstellung der Studie entrichtete sie die Mehrwertsteuer. Später wurde ihr diese Steuer von der belgischen Steuerbehörde gemäß Artikel 76 des belgischen Mehrwertsteuergesetzes erstattet.

9 Als die Studie des Vorhabens zahlreiche Rentabilitätsprobleme aufzeigte und sich einige Investoren zurückzogen, wurde das Vorhaben im Jahre 1988 aufgegeben und die INZO liquidiert. Sie nahm also die beabsichtigte Tätigkeit niemals auf.

10 Im Jahre 1983 stellte die Steuerbehörde anläßlich einer Steuerprüfung fest, daß die INZO keine steuerbaren Umsätze getätigt hatte. Sie forderte deshalb die der INZO von 1978 bis 1982 erstattete Mehrwertsteuer in Höhe von 4.913.001 BFR zuzüglich 736.500 BFR Geldbusse und Verzugszinsen zurück.

11 Die INZO legte bei der Rechtbank van eerste aanleg Brügge Einspruch gegen den Vollstreckungsbescheid ein. Unter Bezugnahme insbesondere auf das Urteil des Gerichtshofes vom 14. Februar 1985 in der Rechtssache 268/83 (Rompelman, Slg. 1985, 655) machte sie geltend, sie habe durch unzweideutige Handlungen ihre Absicht zum Ausdruck gebracht, regelmäßig steuerbare Umsätze zu tätigen. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf ihre Satzung und den Umstand, daß sie Personal eingestellt, eine zur Erreichung ihres Gesellschaftszwecks geeignete Organisation errichtet und bestimmte Kredite erhalten habe.

12 Die beklagte Steuerbehörde machte beim vorlegenden Gericht im wesentlichen geltend, die INZO erfülle nicht den Begriff des Steuerpflichtigen im Sinne der Artikel 4 und 17 der Richtlinie. Die Vergabe der Studie könne nicht als Handlung angesehen werden, aus der sich unzweideutig die Absicht der INZO ergebe, später in eine werbende Phase überzugehen, da die Beschränkung allein auf diese Studie nach der Satzung der Klägerin möglich gewesen sei und sich die Gesellschafter das Recht vorbehalten hätten, nach Durchführung der Studie in dieser Hinsicht eine negative Entscheidung zu treffen.

13 Die Rechtbank hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist die Tätigkeit einer zu einem genau bestimmten Zweck ("Erforschung und Studium, Aufbau und Anwendung sowie Förderung aller Verfahren zur Behandlung, zur Gewinnung und zum Verkauf von See- und Brackwasser") errichteten Gesellschaft, die in concreto nur dahin bestand, eine umfangreiche Rentabilitätsstudie hinsichtlich des zu entwickelnden Verfahrens, die dann die fehlende Rentabilität aufzeigte und zugleich zur Liquidation der Gesellschaft führte, in Auftrag zu geben und zu bezahlen, als eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne des Artikels 4 Absätze 1 und 2 der Sechsten Richtlinie vom 17. Mai 1977 anzusehen?

14 Das nationale Gericht fragt also, ob

- die Vergabe einer Rentabilitätsstudie hinsichtlich der beabsichtigten Tätigkeit einer Gesellschaft, die ihre Absicht erklärt hat, eine zu steuerbaren Umsätzen führende wirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen, und deren Eigenschaft als Mehrwertsteuerpflichtiger die Steuerbehörde anerkannt hat, als eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne des Artikels 4 der Richtlinie angesehen werden kann, selbst wenn der Zweck dieser Studie in der Prüfung besteht, inwieweit die beabsichtigte Tätigkeit rentabel ist, und ob

- die Eigenschaft als Steuerpflichtiger dieser Gesellschaft rückwirkend aberkannt werden kann, wenn aufgrund dieser Studie beschlossen wurde, nicht in die werbende Phase einzutreten und die Gesellschaft zu liquidieren, so daß die beabsichtigte wirtschaftliche Tätigkeit nicht zu steuerbaren Umsätzen führte.

15 Im Urteil Rompelman (Randnr. 22) hat der Gerichtshof festgestellt, daß die wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 mehrere aufeinanderfolgende Handlungen umfassen können und daß die vorbereitenden Tätigkeiten, wie der Erwerb der für die Nutzung erforderlichen Mittel und damit der Kauf eines Grundstücks, bereits der wirtschaftlichen Tätigkeit zuzurechnen sind.

16 Nach diesem Urteil (Randnr. 23) verlangt der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer hinsichtlich der Abgabenbelastung des Unternehmens, daß schon die ersten Investitionsausgaben, die für die Zwecke eines Unternehmens oder zu dessen Verwirklichung getätigt werden, als wirtschaftliche Tätigkeiten angesehen werden. Es würde diesem Grundsatz zuwiderlaufen, wenn als Beginn der wirtschaftlichen Tätigkeiten erst der Zeitpunkt angesetzt würde, von dem an das Grundstück tatsächlich genutzt wird, d. h. die zu versteuernden Einkünfte entstehen. Bei jeder anderen Auslegung des Artikels 4 der Richtlinie würde der Wirtschaftsteilnehmer mit den Mehrwertsteuerkosten belastet, ohne daß er sie gemäß Artikel 17 abziehen könnte, und es würde willkürlich zwischen Investitionsausgaben vor und während der tatsächlichen Nutzung eines Grundstücks unterschieden.

17 Aus diesem Urteil folgt, daß selbst die ersten Investitionsausgaben, die für die Zwecke eines Unternehmens getätigt werden, als wirtschaftliche Tätigkeiten im Sinne des Artikels 4 der Richtlinie angesehen werden können und daß die Steuerbehörde in diesem Zusammenhang die erklärte Absicht des Unternehmens zu berücksichtigen hat.

18 Hat die Steuerbehörde die Eigenschaft einer Gesellschaft, die ihre Absicht erklärt hat, eine zu steuerbaren Umsätzen führende wirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen, als Mehrwertsteuerpflichtiger anerkannt, kann die Durchführung einer Studie über die technischen und wirtschaftlichen Aspekte der beabsichtigten Tätigkeit somit als eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne des Artikels 4 der Richtlinie angesehen werden, selbst wenn der Zweck dieser Studie in der Prüfung besteht, inwieweit die beabsichtigte Tätigkeit rentabel ist.

19 Hieraus folgt, daß die für eine solche Rentabilitätsstudie entrichtete Mehrwertsteuer unter den gleichen Voraussetzungen grundsätzlich nach Artikel 17 der Richtlinie abgezogen werden kann.

20 Entgegen dem Vorbringen der belgischen und der deutschen Regierung bleibt dieser Abzug berechtigt, selbst wenn später aufgrund dieser Studie beschlossen wurde, nicht in die werbende Phase einzutreten und die Gesellschaft zu liquidieren, so daß die beabsichtigte wirtschaftliche Tätigkeit nicht zu steuerbaren Umsätzen führte.

21 Wie die Kommission ausgeführt hat, verbietet nämlich der Grundsatz der Rechtssicherheit, daß die von der Steuerbehörde festgestellten Rechte und Pflichten der Steuerpflichtigen von Tatsachen, Umständen oder Ereignissen abhängen können, die nachträglich eingetreten sind. Hat die Behörde also aufgrund der ihr von einem Unternehmen übermittelten Angaben festgestellt, daß diesem die Eigenschaft als Steuerpflichtiger zuzuerkennen sei, so kann ihm diese Stellung ab diesem Zeitpunkt grundsätzlich nicht wegen des Eintritts oder des Nichteintritts bestimmter Ereignisse nachträglich aberkannt werden.

22 Eine andere Auslegung der Richtlinie würde im übrigen gegen den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer hinsichtlich der Abgabenbelastung des Unternehmens verstoßen. Sie könnte bei der steuerlichen Behandlung von gleichen Investitionstätigkeiten zu nicht gerechtfertigten Unterscheidungen zwischen Unternehmen, die schon steuerbare Umsätze tätigen, und solchen Unternehmen führen, die durch Investitionen versuchen, Tätigkeiten aufzunehmen, die zu steuerbaren Umsätzen führen werden. Es würden auch willkürliche Unterscheidungen zwischen diesen letzteren Unternehmen getroffen, da die endgültige Zulassung der Abzüge von der Frage abhinge, ob solche Investitionen zu steuerbaren Umsätzen führen oder nicht.

23 Wie der Gerichtshof im Urteil Rompelman (Randnr. 24) festgestellt hat, hat im übrigen derjenige, der einen Vorsteuerabzug vornimmt, nachzuweisen, daß die Voraussetzungen hierfür gegeben sind. Artikel 4 steht dem nicht entgegen, daß die Abgabenverwaltung objektive Nachweise für die erklärte Absicht verlangt, zu steuerbaren Umsätzen führende wirtschaftliche Tätigkeiten aufzunehmen.

24 Wie die Kommission dargelegt hat, wird die Eigenschaft als Steuerpflichtiger nur dann endgültig erlangt, wenn die Erklärung, die beabsichtigten wirtschaftlichen Tätigkeiten aufnehmen zu wollen, vom Betroffenen in gutem Glauben abgegeben wurde. In Fällen von Betrug oder Mißbrauch, in denen der Betroffene z.B. die Absicht, eine bestimmte wirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen, nur vorgespiegelt, in Wirklichkeit jedoch versucht hat, abzugsfähige Gegenstände seinem Privatvermögen zuzuführen, kann die Steuerbehörde rückwirkend die Erstattung der abgezogenen Beträge verlangen, da diese Abzüge aufgrund falscher Erklärungen gewährt wurden.

25 Die Vorlagefrage ist demgemäß dahin zu beantworten, daß

- die Vergabe einer Rentabilitätsstudie hinsichtlich der beabsichtigten Tätigkeit einer Gesellschaft, die ihre Absicht erklärt hat, eine zu steuerbaren Umsätzen führende wirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen, und deren Eigenschaft als Mehrwertsteuerpflichtiger die Steuerbehörde anerkannt hat, als eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne des Artikels 4 der Richtlinie angesehen werden kann, selbst wenn der Zweck dieser Studie in der Prüfung besteht, inwieweit die beabsichtigte Tätigkeit rentabel ist, und daß

- außer in Fällen von Betrug oder Mißbrauch die Eigenschaft als Mehrwertsteuerpflichtiger dieser Gesellschaft nicht rückwirkend aberkannt werden kann, wenn aufgrund dieser Studie beschlossen wurde, nicht in die werbende Phase einzutreten und die Gesellschaft zu liquidieren, so daß die beabsichtigte wirtschaftliche Tätigkeit nicht zu steuerbaren Umsätzen führte.