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  BFH-Urteil vom 6.2.1996 (VII R 50/95) BStBl. 1997 II S. 112

1. Zahlungen, die nach Entstehung des abstrakten, materiell-rechtlichen Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis auf diesen geleistet worden sind, haben Tilgungswirkung (§ 47 AO 1977), auch wenn sie die durch Steuerbescheid festgesetzte Steuer übersteigen.

2. Ob ein (Einkommensteuer-)Erstattungsanspruch zur Entstehung gelangt ist, ist bei mehrfacher Änderung der Veranlagung nicht aufgrund der jeweiligen Steuerfestsetzungen, sondern nach dem Stand der Erkenntnis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (z. B. Erlaß des angefochtenen Abrechnungsbescheids) zu beurteilen.

3. Der einheitliche Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis für die Steuer eines Veranlagungszeitraums kann bei mehrfach geänderter Steuerfestsetzung nicht in unterschiedliche Steuerzahlungs- und Erstattungsansprüche aufgespalten werden, die bezogen auf die jeweils ergangenen Steuerbescheide unterschiedlichen Verjährungsfristen unterliegen.

AO 1977 § 37 Abs. 2, §§ 38, 47, 218 Abs. 1 und Abs. 2, § 228.

Vorinstanz: FG Düsseldorf

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) wenden sich als Erben gegen einen der Erblasserin erteilten Abrechnungsbescheid über die Höhe der von dieser noch geschuldeten Einkommensteuer und rk. Kirchensteuer für die Veranlagungszeiträume 1975 und 1976.

Die Steuerfestsetzungen für die Jahre 1975 und 1976 gegenüber der Erblasserin wurden mehrmals geändert. In den geänderten Bescheiden vom 20. August 1982 wurden gegenüber den vorangegangenen Festsetzungen, die von der Erblasserin vollständig getilgt waren, die nachfolgenden Minderbeträge ausgewiesen: ...

Aufgrund von fehlerhaften Abrechnungsmitteilungen mit Zahlungsaufforderungen zu diesen Bescheiden zahlte die Erblasserin folgende Steuerbeträge: ...

Nach der Steuerabrechnung zu den erneut geänderten Bescheiden vom 23. Februar 1990 und dem nachfolgend auf Antrag der Erblasserin ergangenen Abrechnungsbescheid sind noch folgende Steuern zu zahlen: ...

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) führte in dem Abrechnungsbescheid aus, die zu zahlenden Steuerbeträge seien nicht um die sich seinerzeit aus den geänderten Einkommensteuerbescheiden 1975 und 1976 vom 20. August 1982 und deren Abrechnungsmitteilungen ergebenden Erstattungsansprüche zu mindern, denn diese im Jahre 1982 fällig gewordenen Erstattungsansprüche seien gemäß § 228 i. V. m. § 47 der Abgabenordnung (AO 1977) mit Ablauf des Jahres 1987 verjährt gewesen.

Die Klage, mit der die Kläger beantragten, den Abrechnungsbescheid dahin abzuändern, daß nur noch ... zu zahlen sind, blieb erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) führte im wesentlichen aus, die nach dem Abrechnungsbescheid noch zu zahlenden Mehrsteuern seien nicht um Erstattungsansprüche, die sich aus den geänderten Einkommensteuerbescheiden 1975 und 1976 vom 20. August 1982 und den Zahlungen aufgrund der fehlerhaften Abrechnung zu diesen Bescheiden ergeben hätten, zu mindern. Denn diese Erstattungsansprüche seien mangels Geltendmachung durch die Erblasserin aufgrund der nach fünf Jahren (also am 31. Dezember 1987) eingetretenen Zahlungsverjährung erloschen (§§ 47, 228 ff. AO 1977).

Mit der Revision machen die Kläger geltend, das FG sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß durch Zahlung gemäß § 47 AO 1977 nur die im Steuerbescheid ausgewiesene Zahllast erlösche. Dies widerspreche dem Wortlaut des § 47 AO 1977. Auch aus dem Zusammenhang der Vorschriften der AO 1977 ergebe sich, daß der in § 47 AO 1977 genannte "Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis" im Falle des Steueranspruchs der Anspruch sei, der entstehe, wenn der gesetzliche Steuertatbestand erfüllt sei (§ 38 AO 1977), ohne daß die Steuer festgesetzt werden müsse.

Für die Frage, in welcher Höhe durch eine Zahlung gemäß § 47 AO 1977 ein Steueranspruch erlösche, sei demnach die Zahlung auf den Steueranspruch i. S. von § 38 AO 1977 zu beziehen. Im Streitfall betrage z. B. der Steueranspruch bei der Einkommensteuer 1975 18.066 DM. Darauf seien per Saldo Zahlungen von 17.130 DM geleistet worden. In dieser Höhe sei der Steueranspruch erloschen, so daß in dem angefochtenen Abrechnungsbescheid nur noch der Restbetrag von 936 DM als Steueranspruch, der noch nicht verwirklicht sei, festgestellt werden könne. Entsprechendes gelte für die Zahlungen auf die Einkommensteuer 1976 und auf die rk. Kirchensteuer 1975 und 1976. Der angefochtene Abrechnungsbescheid sei entsprechend der tatsächlich geleisteten Zahlungen zu ändern.

Da für die streitigen Steuern auch unter Berücksichtigung der geleisteten Zahlungen noch Restbeträge verblieben, seien Erstattungsansprüche nicht entstanden. Die Zahlungen seien nicht ohne rechtlichen Grund erfolgt (§ 37 Abs. 2 AO 1977).

Die Kläger beantragen, unter Aufhebung der Vorentscheidung den Abrechnungsbescheid dahin abzuändern, daß noch zu zahlen sind: ...

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Es vertritt die Auffassung, eine Zahlung ohne formellen Zahlungsanspruch (hier fehlender Steuerbescheid) stelle eine Zahlung ohne Rechtsgrund dar, der nicht zum Erlöschen des materiellen Steueranspruchs führe, sondern einen Erstattungsanspruch des Leistenden begründe. Für den Streitfall habe das FG zu Recht entschieden, daß der entsprechende Erstattungsanspruch der Erblasserin verjährt sei.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet.

Das FA und das FG sind zu Unrecht davon ausgegangen, daß die Mehrzahlungen, die die Erblasserin bis zum Jahre 1982 auf Einkommensteuer und rk. Kirchensteuer 1975 und 1976 gegenüber den bis dahin vorliegenden Steuerfestsetzungen (Bescheide vom 20. August 1982) geleistet hat, nicht auf die nunmehr mit Steuerbescheiden vom 23. Februar 1990 festgesetzten Einkommensteuer- und Kirchensteuerschulden für 1975 und 1976 angerechnet werden können. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz und des FA haben die die Steuerfestsetzungen nach den Bescheiden vom 20. August 1982 übersteigenden Zahlungen der Erblasserin keine Erstattungsansprüche begründet, hinsichtlich derer mangels rechtzeitiger Geltendmachung inzwischen Zahlungsverjährung hätte eintreten können.

1. a) Nach § 47 AO 1977 erlöschen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis u. a. durch Zahlung. Die Revision weist zu Recht darauf hin, daß sowohl aus dem Wortlaut der Vorschrift als auch aus ihrem systematischen Zusammenhang mit anderen Vorschriften der AO 1977 gefolgert werden kann, daß mit den dort genannten Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis die materiell-rechtlichen Ansprüche gemeint sind, wie sie nach § 38 AO 1977 dem Grunde und der Höhe nach entstehen, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an denen das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Da § 47 AO 1977 auf den abstrakten, materiellen Steueranspruch abstellt, der kraft Gesetzes entsteht, kommt es nicht darauf an, ob und in welcher Höhe dieser Anspruch durch Steuerbescheid festgesetzt worden ist.

Dies wird besonders deutlich bei dem ebenfalls in § 47 AO 1977 genannten Erlöschensgrund der Festsetzungsverjährung (§§ 169 bis 171 AO 1977). Hierfür bestimmt nämlich § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977, daß eine Steuerfestsetzung sowie ihre Aufhebung oder Änderung nicht mehr zulässig sind, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Somit erlischt nach § 47 AO 1977 grundsätzlich der abstrakte Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis - nicht nur der durch Verwaltungsakt (Bescheid) festgesetzte Anspruch - in dem durch den jeweiligen Erlöschensgrund bestimmten Umfang, so bei der Zahlung in Höhe des gezahlten Betrages (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 47 AO 1977 Tz. 1).

Es entspricht deshalb allgemeiner Auffassung, daß ein entstandener Steueranspruch auch bei Zahlung vor Fälligkeit mit der Zahlung erlischt; denn die Erlöschenswirkung nach § 47 AO 1977 hängt von der Entstehung und nicht von der Fälligkeit des Anspruchs ab (FG Düsseldorf, Urteil vom 26. November 1986 IV 152/82 AO, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1987, 257; Tipke/Kruse, a. a. O., § 47 AO 1977 Tz. 3; Böker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 47 AO 1977 Rdnr. 16; Kühn/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 17. Aufl., § 47 AO 1977 Anm. 2 a; Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 224 Anm. 6).

b) Im Streitfall sind die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, um deren Verwirklichung im vorliegenden Abrechnungsverfahren (§ 218 Abs. 2 AO 1977) gestritten wird, mit Ablauf des Kalenderjahres 1975 bzw. 1976 in der nach dem materiellen Steuerrecht zutreffenden Höhe entstanden (§ 3 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1 c des Steueranpassungsgesetzes - StAnpG -; jetzt: § 38 AO 1977 i. V. m. § 36 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes - EStG -). Für die Entstehung der abstrakten Ansprüche auf Einkommensteuer und rk. Kirchensteuer für die Veranlagungszeiträume 1975 und 1976 mit Ablauf des jeweiligen Veranlagungszeitraums ist es ohne Einfluß, ob, wann und in welcher Höhe die Steuern festgesetzt und wann sie zu entrichten sind (vgl. § 3 Abs. 2 StAnpG). Es ist deshalb unerheblich, daß die Steuerfestsetzungen durch die Bescheide vom 20. August 1982 nicht in der nach dem materiellen Steuerrecht zutreffenden Höhe erfolgt sind und daß die diesen Bescheiden beigefügten Abrechnungsmitteilungen mit Zahlungsaufforderungen versehen waren, die mit weiteren Fehlern behaftet waren.

Nach den Feststellungen des FG und dem sich daraus ergebenden nunmehrigen Stand der Erkenntnis muß davon ausgegangen werden, daß durch die zuletzt ergangenen Steuerbescheide für 1975 und 1976 vom 23. Februar 1990 die Steuern in der materiell-rechtlich zutreffenden Höhe, in der sie seit Ablauf der Veranlagungszeiträume bestehen, festgesetzt worden sind. Da aber die gesamten Zahlungen der Erblasserin - einschließlich derjenigen, die nach Auffassung des FA und des FG einen inzwischen verjährten Erstattungsanspruch begründet haben sollen - über die Höhe der jeweiligen abstrakten Steueransprüche nicht hinausgehen, wie sie nunmehr auch durch die zuletzt ergangenen Steuerbescheide konkretisiert sind, ist nach den vorstehenden Rechtsgrundsätzen davon auszugehen, daß sämtlichen Steuerzahlungen Tilgungswirkung nach § 47 AO 1977 beizumessen ist. Denn die Zahlungen sind - soweit es sich nicht um Steuervorauszahlungen handelt, die aber nach § 36 Abs. 2 Nr. 1 EStG auf die Steuerschuld anzurechnen sind - nach Entstehung der abstrakten Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis auf diese geleistet worden und haben sie insoweit nach § 47 AO 1977 zum Erlöschen gebracht. Daß die bis einschließlich des Jahres 1982 von der Erblasserin geleisteten Steuerzahlungen zum Teil über die bis dahin vorliegenden Steuerfestsetzungen für die Kalenderjahre 1975 und 1976 hinausgingen und es demgemäß an der Fälligkeit der Zahlungen fehlte, steht - wie oben ausgeführt - der Erlöschenswirkung auch der nicht durch Steuerbescheide gedeckten Zahlungen nicht entgegen. Es ist deshalb aus jetziger Sicht unerheblich, daß sich für die Erblasserin nach der formellen Bescheidlage aufgrund der Steuerbescheide vom 20. August 1982 ein Erstattungsanspruch wegen Herabsetzung der Steuern gegenüber den vorangegangenen Steuerfestsetzungen ergab und auch kein formeller Rechtsgrund für die Steuerzahlungen bestand, die durch die fehlerhaften Abrechnungsmitteilungen vom selben Tage angefordert worden waren.

c) Die vorstehend dargestellte Rechtsauffassung des Senats entspricht im Ergebnis dem Urteil des I. Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 15. März 1995 I R 56/93 (BFHE 177, 204, BStBl II 1995, 490, 491, 492). Der I. Senat hat in dieser Entscheidung zwar offengelassen, ob eine in der Zeit bis zur Steuerfestsetzung geleistete Zahlung eine solche ohne rechtlichen Grund ist oder ob sie schon im Zahlungszeitpunkt auf den mit Ablauf des Veranlagungszeitraums entstehenden Steueranspruch erfüllend wirkt und damit zum Erlöschen des Anspruchs i. S. des § 47 AO 1977 führt. Nach seinen weiteren Ausführungen schließt die AO 1977 aber freiwillige Zahlungen auf eine noch nicht festgesetzte Steuerschuld nicht aus. Zwar mögen die FÄ nicht verpflichtet sein, freiwillige Zahlungen auf die Steuerschuld vor deren Festsetzung anzunehmen. Wenn sie sie dennoch annehmen, so sind sie auch nach Auffassung des I. Senats zur Anrechnung auf den Zeitpunkt der Steuerfestsetzung verpflichtet. Dies gilt - wie in dem zitierten Urteil ausgeführt wird - sowohl für die als Folge einer Steuerfestsetzung regelmäßig zu erlassende Anrechnungsverfügung als auch für einen evtl. Abrechnungsbescheid i. S. des § 218 Abs. 2 AO 1977.

Das FA hätte demnach auch im Streitfall schon in den Anrechnungsverfügungen zu den zuletzt ergangenen Steuerbescheiden vom 23. Februar 1990, jedenfalls aber in dem angefochtenen Abrechnungsbescheid die Einkommensteuer- und Kirchensteuerschulden der Erblasserin für 1975 und 1976 auch in Höhe der bis zum Jahre 1982 auf diese Steuern geleisteten Zahlungen als getilgt behandeln müssen.

2. Entgegen der Auffassung des FA und des FG haben die Steuerzahlungen für die Veranlagungszeiträume 1975 und 1976, die bis einschließlich des Jahres 1982 geleistet worden sind, auch soweit sie die Steuerfestsetzungen nach den Bescheiden vom 20. August 1982 übersteigen, nicht zu Erstattungsansprüchen der Erblasserin geführt, die wegen Zahlungsverjährung bei der Tilgung nicht mehr hätten berücksichtigt werden können.

Ein Erstattungsanspruch des Steuerpflichtigen setzt nach § 37 Abs. 2 AO 1977 voraus, daß Steuern ohne rechtlichen Grund gezahlt worden sind. Folgt man hinsichtlich der Entstehung des Erstattungsanspruchs der materiellen Rechtsgrundtheorie, nach der sich der rechtliche Grund i. S. des § 37 Abs. 2 AO 1977 aus dem materiellen Recht und nicht aus dem Verfahrensrecht (den Steuerfestsetzungen) ergibt (so: Tipke/Kruse, a. a. O., § 37 AO 1977 Tz. 12; Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., § 38 AO 1977 Rdnr. 82; Hein, Überlegungen zur Entstehung des steuerrechtlichen Erstattungsanspruchs, Deutsches Steuerrecht - DStR - 1990, 301 ff.; s. auch Senatsurteil vom 6. Februar 1990 VII R 86/88, BFHE 160, 108, BStBl II 1990, 523 m. w. N.), so sind im Streitfall Erstattungsansprüche deshalb nicht entstanden, weil die gesamten Zahlungen der Erblasserin auf die Einkommensteuer und rk. Kirchensteuer 1975 und 1976 zu keinem Zeitpunkt die materiellen Steueransprüche überstiegen, wie sie schließlich mit den Bescheiden vom 23. Februar 1990 festgesetzt worden sind. Auch die Zahlungen der Erblasserin bis einschließlich des Jahres 1982 sind somit mit Rechtsgrund geleistet worden.

Nach der formellen Rechtsgrundtheorie richtet sich dagegen die Frage, ob eine Steuer ohne rechtlichen Grund gezahlt worden ist, regelmäßig nach den der Steuerzahlung zugrundeliegenden Bescheiden (BFH-Urteile vom 18. Dezember 1986 I R 52/83, BFHE 149, 440, 444, BStBl II 1988, 521, 523; vom 28. November 1990 V R 117/86, BFHE 163, 112, BStBl II 1991, 281; Kühn/Hofmann, a. a. O., § 37 AO 1977 Anm. 6). Danach könnten im Jahre 1982 Erstattungsansprüche der Erblasserin bestanden haben, weil ihre bis dahin geleisteten Zahlungen auf die Einkommensteuer und rk. Kirchensteuer 1975 und 1976 die Steuerfestsetzungen aufgrund der geänderten Bescheide vom 20. August 1982 überstiegen, sie also insoweit nach der formellen Rechtslage ohne Rechtsgrund geleistet worden waren.

Die vorstehende Rechtsauffassung stellt aber - auch soweit sie in den genannten Entscheidungen vom BFH vertreten worden ist - auf die Frage der Verwirklichung (Durchsetzung) der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis bzw. auf die Frage des Behaltendürfens der Steuerzahlungen durch das FA ab. Daß die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis - d. h. die Geltendmachung, die verfahrensrechtliche Durchsetzung und das Behaltendürfen von Zahlungen - nur nach Maßgabe der ergangenen Steuerbescheide erfolgt, ergibt sich bereits aus § 218 Abs. 1 AO 1977 und wird auch von den Vertretern der materiellen Rechtsgrundtheorie nicht in Zweifel gezogen. Aus dieser Vorschrift des Erhebungsverfahrens können aber keine Schlußfolgerungen für die Frage der Entstehung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis gezogen werden; denn die Entstehung des Steueranspruchs sowie des Erstattungsanspruchs ist unabhängig von seiner formellen Durchsetzbarkeit zu beurteilen (vgl. Hein, DStR 1990, 301, 304; Senat in BFHE 160, 108, 111, BStBl II 1990, 523).

Da die Entstehung sämtlicher Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, zu denen auch der steuerrechtliche Erstattungsanspruch gehört (§ 37 Abs. 1 AO 1977), nach § 38 AO 1977 an die Tatbestandsverwirklichung nach dem materiellen Steuergesetz anknüpft, kann auch für die Entstehung des Erstattungsanspruchs nach § 37 Abs. 2 AO 1977 allein eine Zahlung, die über die vorliegende Steuerfestsetzung hinausgeht - ohne Rücksicht auf die tatsächliche Höhe der nach dem materiellen Steuerrecht geschuldeten Steuern - nicht ausreichen. Der materiell-rechtliche Aspekt (auch) des Erstattungsanspruchs kann jedenfalls in den Fällen und zu den Entscheidungszeitpunkten nicht unberücksichtigt bleiben, in denen sich ergibt, daß eine vorliegende Steuerfestsetzung mit dem materiellen Steuerrecht nicht in Einklang steht. Daraus folgt für den Streitfall, daß nach der zutreffenden materiellen Rechtslage, wie sie durch die zuletzt ergangenen Steuerbescheide vom 23. Februar 1990 konkretisiert worden ist, ein Erstattungsanspruch der Erblasserin hinsichtlich der Einkommensteuer und rk. Kirchensteuer für die Veranlagungszeiträume 1975 und 1976 tatsächlich nicht zur Entstehung gelangt ist, weil die Steuerzahlungen insgesamt die mit Ablauf dieser Veranlagungszeiträume entstandenen Steuerschulden nicht überstiegen haben.

Da Erstattungsansprüche der Erblasserin für die Veranlagungszeiträume 1975 und 1976 nicht zur Entstehung gelangt sind, konnte hinsichtlich derartiger Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis auch keine Zahlungsverjährung gemäß §§ 228 ff. AO 1977 eintreten. Der Senat vermag deshalb der Rechtsauffassung des FA und des FG, wonach die Überzahlungen gegenüber den (fehlerhaften) Steuerfestsetzungen vom 20. August 1982 mangels rechtzeitiger Geltendmachung durch die Erblasserin nicht mehr auf die später festgesetzten höheren Steuern angerechnet werden können, nicht zu folgen.

Wenn das FA nunmehr entsprechend der von Anfang an gegebenen materiellen Rechtslage von der Erblasserin bzw. ihren Erben höhere Steuern verlangt, als sie in den Bescheiden vom 20. August 1982 festgesetzt worden sind, so kann es sich nicht darauf berufen, daß die bis zum Jahre 1982 geleisteten Zahlungen auf diese Steuerschulden deshalb nicht angerechnet werden könnten, weil sich zum damaligen Zeitpunkt rein rechnerisch (Vergleich der Zahlungen mit den fehlerhaften Steuerfestsetzungen) aufgrund der formellen Bescheidlage ein Erstattungsanspruch ergeben hätte, der nach § 218 Abs. 1 AO 1977 hätte geltend gemacht werden können. Ob gemäß § 37 Abs. 2 AO 1977 tatsächlich ein Erstattungsanspruch zur Entstehung gelangt ist, ist nicht nach der wechselnden formellen Rechtslage aufgrund der jeweiligen Steuerfestsetzungen, sondern nach dem Stand der Erkenntnis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (hier: Erlaß des angefochtenen Abrechnungsbescheids) zu beurteilen. Bezogen auf diesen Zeitpunkt führen im Streitfall sowohl die materielle als auch die an die letzten Steuerbescheide anknüpfende formelle Rechtsgrundtheorie zu dem Ergebnis, daß ein der Zahlungsverjährung unterliegender Erstattungsanspruch der Erblasserin nicht entstanden ist.

Die Auffassung des FA und des FG würden dagegen zu dem für den Senat nicht nachvollziehbaren Ergebnis führen, daß der einheitliche Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis für denselben Veranlagungszeitraum bei mehrfach geänderter Steuerfestsetzung - wie im Streitfall - in unterschiedliche Steuerzahlungs- und Erstattungsansprüche aufgespaltet werden könnte, die bezogen auf die jeweils ergangenen Steuerbescheide unterschiedlichen Verjährungsfristen unterlägen.

3. Da die Vorentscheidung der Rechtsauffassung des Senats widerspricht, war sie aufzuheben. Die Sache ist spruchreif (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Der angefochtene Abrechnungsbescheid ist dahin abzuändern, daß die aufgrund der Steuerbescheide vom 23. Februar 1990 noch zu zahlenden Steuerbeträge um die Mehrbeträge zu mindern sind, die bis zum Jahre 1982 gegenüber den damaligen Steuerfestsetzungen geleistet worden waren (Erstattungsansprüche nach Auffassung des FA).