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  BVerfG-Beschluß vom 10.4.1997 (2 BvL 77/92) BStBl. 1997 II S. 518

1. Der Gleichheitssatz fordert nicht eine immer mehr individualisierende und spezialisierende Steuergesetzgebung, sondern die Regelung eines allgemein verständlichen und möglichst unausweichlichen Belastungsgrundes. Deshalb darf der Gesetzgeber einen steuererheblichen Vorgang um der materiellen Gleichheit willen im typischen Lebensvorgang erfassen und individuell gestaltbare Besonderheiten unberücksichtigt lassen.

2. Zur Verfassungsmäßigkeit der Aufhebung von Arbeitnehmer- und Weihnachtsfreibetrag.

Sachverhalt

I.

Art. 1 Nr. 20 des Steuerreformgesetzes 1990 ist mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Zwar hat der Einkommensteuergesetzgeber die Steuerschuldner in den verschiedenen Einkunftsarten gleich zu behandeln; die Verpflichtung zur Belastungsgleichheit schließt aber nicht aus, daß das Erhebungsverfahren um der Allgemeinheit und Verläßlichkeit der Besteuerung willen je nach Einkunftsart entsprechend den typischen Lebensvorgängen - auch mit meßbaren Unterschieden für Gruppen von Steuerpflichtigen - verschieden geregelt wird.

1. Art. 3 GG verlangt die Gleichbehandlung "aller Menschen" vor dem Gesetz (Abs. 1) und verbietet jede Benachteiligung oder Bevorzugung wegen persönlichkeitsbedingter Eigenheiten (Abs. 2 und 3). Der Gleichheitssatz ist um so strikter, je mehr eine Regelung den Einzelnen als Person betrifft (BVerfGE 82, 60 (89 f.); 87, 153 (170)), und um so offener für gesetzgeberische Gestaltungen, je mehr allgemeine, für rechtliche Gestaltungen zugängliche Lebensverhältnisse geregelt werden. Für den Sachbereich des Steuerrechts fordert Art. 3 Abs. 1 GG die steuerliche Lastengleichheit in ihren Komponenten der Gleichheit der normativen Steuerpflicht und der Gleichheit bei deren Durchsetzung in der Steuererhebung (BVerfGE 84, 239 (271)). Soweit das Einkommensteuerrecht mehrere Einkunftsarten unterscheidet und daran auch unterschiedliche Rechtsfolgen knüpft, müssen letztere ihre Rechtfertigung - wenn auch in typisierender und generalisierender Weise - in sachlichen Gründen finden. Die systematische Unterscheidung von Einkunftsarten durch den Gesetzgeber kann für sich allein die Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen (BVerfGE 84, 348 (363)).

Jede gesetzliche Regelung muß verallgemeinern (BVerfGE 82, 126 (151)). Der Gesetzgeber darf sich grundsätzlich am Regelfall orientieren und ist nicht gehalten, allen Besonderheiten jeweils durch Sonderregelungen Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 82, 159 (185 f.)). Diese gesetzlichen Verallgemeinerungen müssen allerdings auf eine möglichst weite, alle betroffenen Gruppen und Regelungsgegenstände einschließende Beobachtung aufbauen (BVerfGE 84, 348 (360); 87, 234 (255)). Der Gesetzgeber hat vor allem bei der Ordnung von Massenerscheinungen und deren Abwicklung einen - freilich nicht unbegrenzten - Spielraum für generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen (vgl. BVerfGE 82, 126 (151 f.); 84, 348 (359 f.)).

Steuerrechtliche Regelungen sind so auszugestalten, daß Gleichheit im Belastungserfolg für alle Steuerpflichtigen hergestellt werden kann. Der Gleichheitssatz fordert nicht eine immer mehr individualisierende und spezialisierende Gesetzgebung, die letztlich die Gleichmäßigkeit des Gesetzesvollzugs gefährdet, sondern die Regelung eines allgemein verständlichen und möglichst unausweichlichen Belastungsgrundes. Deshalb darf der Gesetzgeber, wie etwa bei der einkommensteuerlichen Verschonung des Existenzminimums (vgl. BVerfGE 87, 153 (169 ff.)), einen steuererheblichen Vorgang um der materiellen Gleichheit willen im typischen Lebensvorgang erfassen und individuell gestaltbare Besonderheiten unberücksichtigt lassen. Er darf auch die Verwirklichung des Steueranspruchs verfahrensrechtlich erleichtern und dabei die für den Staat verfügbaren personellen und finanziellen Mitteln berücksichtigen (vgl. BVerfGE 81, 108 (117); 84, 348 (364)). Außerdem kann eine Tatbestandstypisierung dazu dienen, komplizierte Lebenssachverhalte übersichtlicher und verständlicher zu machen, um so den steuerlichen Belastungsgrund zu verdeutlichen und in das Bewußtsein zu rücken.

Entscheidungsgründe

II.

Nach diesen Maßstäben ist die Aufhebung des Arbeitnehmer- und des Weihnachtsfreibetrages mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.

Die für den Steuerpflichtigen in Liquiditätsvorteilen meßbaren Unterschiede zwischen einem in der Regel monatlichen Lohnsteuerabzug und einer vierteljährlichen Vorauszahlung bei anderen Einkünften bedürfen keines Ausgleichs. Zwar fordert der Gleichheitssatz nach den Vorgaben des Einkommensteuergesetzes von allen Steuerpflichtigen eine gegenwartsnahen Leistung, um gegenwärtigen Finanzbedarf des Staates zu decken. Der Gesetzgeber hat jedoch die für den Steuerpflichtigen sich ergebenden Vor- und Nachteile aus einer unterschiedlichen Erhebung von Lohnsteuer und sonstiger Einkommensteuer insgesamt in vertretbarer Weise gewichtet.

1. Die Steuererhebung hat den materiellen Steueranspruch möglichst wirksam gegenüber jedem Steuerpflichtigen durchzusetzen (BVerfGE 84, 239 (271)). Der Einkommensteuerpflichtige soll mit seinem jeweiligen steuerpflichtigen Einkommen zur Deckung des gegenwärtigen staatlichen Finanzbedarfs beitragen. Dementsprechend ist die Einkommensteuer in ihrer Ausgestaltung als Jahressteuer und in ihrer kontinuierlichen Erhebung auch auf eine Belastungsgleichheit in der Zeit angelegt.

Die wirksamste Form eines gegenwartsnahen Gesetzesvollzugs bietet die Quellensteuer, die das Einkommensteuergesetz für die Lohnsteuer (§ 38), die Kapitalertragsteuer (§ 43) und die sog. Aufsichtsratsteuer (§ 50a) kennt. Die Quellensteuer wird bei der Auszahlung erhoben und dem Steuerpflichtigen als Vorauszahlung auf die von ihm endgültig geschuldete Einkommensteuer angerechnet (§ 36 Abs. 4 EStG).

Soweit der Quellenabzug bei anderen Einkünften nicht möglich oder gesetzlich nicht vorgesehen ist, werden Steuerzahlungen nicht in gleicher Gegenwartsnähe erbracht und mögen auch durch willentliche Gestaltungen verzögert oder gar gänzlich vermieden werden können. Insoweit wird das gesetzliche Ziel einer gegenwartsnahen und unausweichlichen Steuererhebung nicht vollständig verwirklicht. Dies mag dem Gesetzgeber Anlaß sein, die Zeitgleichheit und Unausweichlichkeit der Steuerlast zu verbessern, verpflichtet ihn aber nicht, die dem Gesetzesziel entsprechende Regelung des Quellenabzugs durch Sondertatbestände einer diesem Ziel ferner Erhebungsform anzunähern.

2. Eine Gesamtwürdigung der mit der Lohnsteuererhebung verbundenen Vor- und Nachteile ergibt, daß diese Ungleichheiten der typisiert geregelten und notwendig an der Einkunftsart ausgerichteten Steuererhebung nicht ein Gewicht haben, das den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum vertretbarer Typisierung übersteigt. Ein dem Art. 3 Abs. 1 GG genügender Vergleich darf sich nicht auf die Prüfung eines mit dem Lohnsteuererhebungsverfahren verbundenen Liquiditätsnachteils beschränken, sondern muß in einem Gesamtvergleich die steuererheblichen Unterschiede zwischen den Lohneinkünften und den übrigen Einkunftsarten analysieren und bewerten und dabei die typischerweise zusammentreffenden Vor- und Nachteile für die Belastung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit beachten (BVerfGE 12, 151 (167); 29, 221 (237); 84, 348 (362)). Gleichheitserheblich ist insoweit der durch die Gesamtregelung hergestellte Belastungserfolg. In diesem Gesamtvergleich sind insbesondere die Verschiedenheiten in den Erklärungs- und Buchführungspflichten einschließlich ihrer Kostenfolge, die jeweiligen Zeitwirkungen der Maßstäbe für Gewinn- und Überschußeinkünfte, die gesetzlichen Regelungen zur Annäherung der Belastungszeitpunkte und zum Ausgleich von Liquiditätsunterschieden, Vereinfachungen und Typisierungen für die einzelnen Einkunftsarten zu beurteilen. Dabei ist auch die Regelung des § 9a EStG zu berücksichtigen, der zwar einen reinen Werbungskostenpauschbetrag gewährt (BFH, BStBl II 1992, S. 752) und deshalb nicht geeignet ist, den Wegfall von Arbeitnehmer- und Weihnachtsfreibetrag zu kompensieren, jedoch in eine Gesamtwürdigung der Lohnbesteuerung einzubeziehen ist.

Bei einem solchen Gesamtvergleich tritt die Belastungswirkung der in der Regel monatlichen Lohnsteuererhebung jedenfalls hinter die übrigen - teilweise gegenläufig wirkenden - Regelungen über die Erhebung von Lohnsteuer und sonstiger Einkommensteuer zurück. Die Belastungsgleichheit in der Zeit wird daher durch die in der Regel monatliche Lohnsteuererhebung nur geringfügig berührt. Ein Gleichheitsverstoß liegt insoweit nicht vor.

3. In den von Art. 3 Abs. 1 GG geforderten Gesamtvergleich dürfen freilich nur Bestimmungen einbezogen werden, die ihrerseits der Verfassung entsprechen. Diese Voraussetzung ist für § 9a Nr. 1 EStG gegeben.

Wenn der Gesetzgeber für alle Arbeitnehmer einen Mindestaufwand von 2.000 DM pro Jahr in einer Werbungskostenpauschale typisiert, bleibt er damit im Rahmen des ihm zustehenden Gestaltungsspielraums. Ob und inwieweit dem Arbeitnehmer ein Aufwand tatsächlich entsteht, hängt vielfach von seiner freien Entscheidung ab. So bestimmt sich etwa der Aufwand für die Fahrten zwischen Wohn- und Arbeitsstätte danach, ob sich der Arbeitnehmer für eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem eigenen Kraftfahrzeug oder für andere Verkehrsmittel entschieden und sodann, ob er eine alleinige oder gemeinsame Nutzung seines Fahrzeugs gewählt hat. Der Gleichheitssatz fordert demgegenüber nicht, daß der Gesetzgeber stets den gewillkürten Aufwand berücksichtigen müsse; der materiellen Gleichheit kann es auch genügen, wenn der Gesetzgeber für bestimmte Arten von Aufwendungen nur den Abzug eines typisierten festgelegten Betrages gestattet. Dies hat das Bundesverfassungsgericht bereits für die Abziehbarkeit des existenzsichernden Aufwandes in einem gesetzlichen typisierten Existenzminimum anerkannt (BVerfGE 87, 153 (172)). Es gilt um so mehr für die Regelung des § 9a EStG, der nur die Typisierung eines Mindestaufwandes vorsieht, den Nachweis höherer Werbungskosten aber ausdrücklich zuläßt. Die Einführung eines erhöhten Werbungskosten-Pauschbetrages ist auch insoweit mit dem Gleichheitssatz vereinbar, als der Pauschbetrag mit einem steuerfreien oder pauschal versteuerten Werbungskostenersatz durch den Arbeitgeber - etwa gemäß §§ 3 Nr. 16, 40 Abs. 2 Satz 2 EStG - zusammentrifft. Eine Begünstigungskumulation beträfe die Verfassungsmäßigkeit der besonderen Entlastungstatbestände, änderte aber nichts an der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des allgemeinen Pauschbetrages.

4. Da Art. 1 Nr. 20 des Steuerreformgesetzes 1990 mit dem Grundgesetz vereinbar ist und Art. 1 Nr. 12 dieses Gesetzes keinen verfassungsrechtlichen Einwänden begegnet, wird die Frage nach den Auswirkungen der vom vorlegenden Gericht behaupteten Verfassungswidrigkeit dieser Regelungen auf § 39a Abs. 1 Nr. 5 EStG gegenstandslos.