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  BVerwG-Beschluß vom 16.9.1997 (8 B 143.97) BStBl. 1997 II S. 782

Die Geltendmachung der Haftung für Hinterziehungszinsen durch Haftungsbescheid (§§ 71, 191 Abs. 1 AO) setzt auch bei hinterzogener Gewerbesteuer nicht voraus, daß zuvor gegenüber dem Steuer- und Zinsschuldner oder gegenüber dem Haftungsschuldner Tatbestand und Umfang der Steuerhinterziehung in einem Grundlagenbescheid gesondert festgestellt worden sind.

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die Voraussetzungen für die begehrte Zulassung der Revision liegen nicht vor.

1. Der Rechtssache kommt keine grundsätzliche Bedeutung in der mit der Beschwerde bezeichneten Richtung zu (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

Grundsätzlich bedeutsam ist eine Rechtssache nur dann, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrundeliegenden Einzelfall hinausgehenden klärungsbedürftigen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (vgl. § 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. Daran fehlt es hier.

Die Beschwerde hält für klärungsbedürftig,

"ob für den Erlaß eines Zinsbescheides auf hinterzogene Gewerbesteuer ein Grundlagenbescheid zu erlassen ist".

Die damit aufgeworfene Frage nach der Erforderlichkeit eines vorherigen "Zinsmeßbescheids" ist für den hier allein zu beurteilenden Fall der Erhebung von Hinterziehungszinsen vom Haftungsschuldner durch Haftungsbescheid (§§ 71, 191 Abs. 1 AO) ohne weiteres zu verneinen. Dies ergibt sich aus den gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen eines Haftungsbescheids wegen Steuerhinterziehung sowie der Eigenständigkeit des Haftungsverfahrens, das von der Festsetzung der Steuer- oder Zinsschuld und damit auch von der der Primärschuldfestsetzung ggf. vorangehenden gesonderten Feststellung der Besteuerungsgrundlagen (§§ 157 Abs. 2, 180 AO) bzw. der Steuermeßbeträge (§ 184 AO) unabhängig ist.

Bereits § 191 Abs. 3 Satz 4 AO zeigt, daß der Haftungsbescheid zwar die Existenz, nicht aber die vorherige Festsetzung des Primäranspruchs, also der Steuerschuld, voraussetzt (Mösbauer, Die Haftung für die Steuerschuld, S. 4, 117, 273). Die Haftung nach § 71 AO ist danach zwar grundsätzlich - wenn auch nicht ausnahmslos (vgl. § 191 Abs. 5 Satz 2 AO) - im Verhältnis zur (Steuer-) "Erstschuld" akzessorisch, nicht aber subsidiär (Tipke/Kruse, AO, § 191, Tz. 3 c und d, 4; Mösbauer, a. a. O., S. 119). Überdies macht § 191 Abs. 5 Satz 2 AO deutlich, daß ein Haftungsbescheid bei dem hier zu beurteilenden Fall der Steuerhinterziehung ohne vorherige Steuerfestsetzung gegen den Steuerschuldner ergehen kann; bei derartigen Sachverhalten kann der Haftungsschuldner sogar dann herangezogen werden, wenn eine Steuerfestsetzung gegenüber dem Steuerschuldner überhaupt nicht mehr möglich ist. § 71 AO macht die Haftung des Steuerhinterziehers nämlich nur von der Tatsache der Steuerhinterziehung und der Tatbestandsvoraussetzung der "verkürzten Steuern" - d. h. der objektiven Steuerschuld - sowie der daraus resultierenden Verzinsungspflicht nach § 235 AO, nicht aber von deren Festsetzung abhängig (Mösbauer, a. a. O., S. 4, 117, 273; Tipke/Kruse, AO, § 191, Tz. 3 und 3 c m. w. N.). Dementsprechend führt § 37 Abs. 1 AO den Haftungsanspruch neben dem Steueranspruch als selbständigen Anspruch aus dem Steuerverhältnis auf; überhaupt ist die Haftungsinanspruchnahme in der Abgabenordnung 1977 eigenständig geregelt, so daß die für die Steuerfestsetzung geltenden Vorschriften im Haftungsverfahren nicht anwendbar sind (BFHE 157, 322 [325], BStBl II 1989, 821; BFH, Urteil vom 25. Februar 1997 - VII R 15/96 - DStR 1997, 1324 [1326]). Dasselbe ergibt sich überdies aus § 218 Abs. 1 AO, wonach für die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis Haftungsbescheide gleichwertig neben Steuer(festsetzungs)bescheide treten (Tipke/Kruse, AO, § 191, Tz. 3 b, § 218, Tz. 1 und 1 a). Aus § 191 Abs. 3 AO folgt nichts anderes. Die entsprechende Anwendung der Vorschriften über die Festsetzungsfrist bedeutet lediglich, daß Haftungsbescheide nur bis zum Ablauf dieser Frist erlassen werden dürfen, nicht aber, daß ihnen eine gesonderte Festsetzung vorauszugehen hätte (Tipke/Kruse, AO, § 191, Tz. 11). Der Bundesfinanzhof hat dementsprechend entschieden (vgl. BFHE 109, 164 [165]; 152, 321 [324 f.]; 173, 306 [310]), daß ein Haftungsbescheid - im Gegensatz zu einem Duldungsbescheid - nicht die vorherige Festsetzung des Steueranspruchs voraussetzt, der Haftungsschuldner sich also anders als der Duldungsverpflichtete einer Inanspruchnahme ausgesetzt sehen kann, ohne daß der Steuerschuldner sich vorher gegen die Steuerfestsetzung hat wehren können. Das entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 13. Februar 1987 - BVerwG 8 C 25.85 - Buchholz 401.0 § 77 AO Nr. 2 S. 1 [4]). lst aber die Heranziehung des Haftungsschuldners nach § 71 AO wegen Rückständiger Steuern nicht von der Festsetzung der Steuerschuld gegenüber dem Steuerschuldner abhängig, so kann für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners wegen der angefallenen Hinterziehungszinsen insoweit nichts anderes gelten.

Die eigenständige Regelung des Haftungsverfahrens bei Steuerhinterziehung schließt nicht nur das Erfordernis vorheriger Steuer- oder Zinsfestsetzung gegenüber dem "Erstschuldner", sondern entgegen der Auffassung der Beschwerde auch die Notwendigkeit eines - sei es auf die Steuer, sei es auf die Hinterziehungszinsen bezogenen - Meßbescheides oder eines gesonderten Feststellungsbescheides aus; die Heranziehung des Haftungsschuldners durch Haftungsbescheid ist gemäß § 71 AO nicht von dem vorherigen Erlaß eines derartigen Grundlagenbescheides abhängig (Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 191 AO, Rz. 17; Tipke/Kruse, AO, § 191, Tz. 3 c). Setzt nämlich die Haftung nach § 71 AO allein die Existenz der Primärschuld - nicht aber deren Festsetzung - voraus, so schließt das die Entbehrlichkeit etwaiger Meß- oder Feststellungsbescheide als Grundlagenbescheide für die Festsetzung der Erstschuld ein. Auch gegenüber dem Haftungsschuldner bedarf es weder eines vorherigen "Zinsmeßbescheids" noch eines auf die Hinterziehung bezogenen Feststellungsbescheids, weil das Haftungsverfahren - anders als das Besteuerungsverfahren bei der Festsetzung der Gewerbesteuer - nicht zweistufig, sondern unabhängig von der Steuerart immer einstufig ausgebildet ist.

Aus den von der Beschwerde angeführten Rechtsprechungsnachweisen (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluß vom 10. Februar 1995 - 22 B 13/95 -; FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 13. Dezember 1995 - 1 K 2748/92 -) sowie sonstigen Belegen (Fuchsen DStR 1996, 214; Tipke/Kruse, AO, § 235, Tz. 9; vgl. auch AEAO i. d. F. vom 27. Oktober 1995, [BStBl I 666, 671], Nr. 3 zu § 235; BFH, Urteil vom 19. April 1989 - X R 3/86 - BStBl II 1989, 596 [598]) ergibt sich demgegenüber nichts zugunsten der Auffassung des Klägers. Die genannten Entscheidungen und Stellungnahmen befassen sich allein mit der Frage, ob ein Zinsbescheid gegenüber dem Steuerschuldner den vorherigen Erlaß eines "Zinsmeßbescheides" voraussetzt; die gesetzlichen Sonderregelungen für die Inanspruchnahme von Haftungsschuldnern werden dort nicht behandelt.

2. Das Berufungsurteil leidet auch nicht an dem geltend gemachten Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).

Die Beschwerde wirft dem Verwaltungsgerichtshof vor, seine Urteilsbegründung lediglich auf Fahndungsberichte gestützt zu haben und - entgegen den Einwänden des Klägers - die strafrechtliche von der steuerrechtlichen Seite nicht strikt getrennt zu haben. Diesem Vorbringen - das keine vermeintlich verletzte Verfahrensnorm angibt - läßt sich ein Verfahrensfehler des Berufungsgerichts nicht entnehmen. In der Sache wendet sich die Beschwerde damit vielmehr offenbar gegen die entscheidungstragende Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, der Kläger habe den Straftatbestand der Steuerhinterziehung begangen und damit die Tatbestandsvoraussetzung des § 71 AO erfüllt. Das ist jedoch auf der Grundlage des festgestellten Sachverhalts und der maßgeblichen Rechtsauffassung des Berufungsgerichts in verfahrensrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden. Der Kläger ist unstreitig durch rechtskräftigen Strafbefehl wegen Steuerhinterziehung verurteilt worden. Zwar bindet diese Verurteilung die Verwaltungsgerichte nicht unmittelbar, vielmehr müssen diese grundsätzlich ohne Bindung an das Strafverfahren den Sachverhalt von Amts wegen aufklären (Tipke/Kruse, AO, § 71, Tz. 5 m. w. N.). Das Finanz- oder Verwaltungsgericht kann sich aber in tatsächlicher Hinsicht die Feststellungen des Strafurteils oder Strafbefehls zu eigen machen, soweit nicht die Beteiligten substantiierte Einwendungen gegen deren Richtigkeit erheben und entsprechende Beweisanträge stellen (Klein/Orlopp, AO, 5. Aufl., § 71 Anm. 3 m. w. N.; Halaczinsky in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl., § 71 Rn. 5; Bublitz DStR 1990, 438 [441 f.]). Derartige substantiierte Einwände gegen die Richtigkeit des der Verurteilung zugrunde gelegten Sachverhalts oder der daraus gezogenen rechtlichen Wertungen hat der Kläger, der den Strafbefehl nicht angegriffen hat, nicht erhoben und legt auch die Beschwerde nicht im einzelnen dar; ihre pauschale Rüge genügt im Hinblick auf die insoweit detaillierte Begründung des Berufungsurteils und der zumindest indiziellen Bedeutung eines von dem Betroffenen akzeptierten Strafbefehls (vgl. Bublitz, a. a. O., S. 442) dem Darlegungsgebot des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO nicht. Der Kläger hat vielmehr gegenüber dem Verwaltungsgerichtshof lediglich darauf verwiesen, der Gewerbesteuerbescheid sei angefochten und "nach unseren Auskünften die Aussetzung der Vollziehung gewährt" worden. Mit den Feststellungen in dem rechtskräftigen Strafbefehl setzt er sich hingegen nicht im einzelnen auseinander; die bloße gegenteilige Rechtsauffassung zur Einschätzung des Klägers als "faktischer Geschäftsführer" reicht insoweit als substantiiertes Bestreiten nicht aus. Insbesondere zeigt es keinen Verfahrensfehler, sondern allenfalls einen materiell-rechtlichen Fehler auf, wenn das Berufungsgericht gleichwohl auf der Grundlage anderer rechtlicher Maßstäbe von der faktischen Geschäftsführerstellung des Klägers und damit vom Tatbestand der Steuerhinterziehung ausgegangen ist.