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  BFH-Urteil vom 2.4.1998 (V R 66/97) BStBl. 1998 II S. 632

Das Merkmal "zugute kommen" in § 4 Nr. 16 Buchst. c UStG 1980/1991 kann auch bei einer Hintereinanderschaltung von Leistungsbeziehungen erfüllt sein, wenn bei einer solchen Leistungskette der letzte Abnehmer (Patient) in den Genuß der fraglichen (medizinischen) Maßnahme gelangt.

UStG 1980/1991 § 4 Nr. 16 Buchst. c; Richtlinie 77/388/EWG Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. b.

Vorinstanz: FG Rheinland-Pfalz (EFG 1998, 149)

Sachverhalt

I.

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist Fachärztin für Labormedizin und betreibt ein medizinisches Labor. Mit Vertrag vom 28. Februar 1983 verpflichtete sie sich gegenüber einer Ärztlichen Laborgemeinschaft zur Durchführung von Laboranalysen an dem von der Laborgemeinschaft zur Verfügung gestellten Untersuchungsmaterial. Die Laborgemeinschaft ist ein Zusammenschluß von Ärzten, die die Analysetätigkeit aus ihren Praxen ausgegliedert haben. Sie nimmt im wesentlichen Verwaltungsaufgaben wahr. Die Analysen werden in Verantwortung der Klägerin durchgeführt und der Laborgemeinschaft monatlich in Rechnung gestellt. Diese wiederum rechnet mit den einzelnen Ärzten ab, die die Laborleistungen ihrerseits ihren Privatpatienten bzw. den Krankenversicherungsträgern in Rechnung stellen.

Die Klägerin behandelte die gegenüber der Laborgemeinschaft erbrachten Leistungen als ihrer freiberuflichen Arbeit zugeordnete, umsatzsteuerfreie Tätigkeiten. Im Anschluß an eine Betriebsprüfung bei der Klägerin beurteilte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) diese Leistungen als gewerbliche Betätigung und hielt sie für umsatzsteuerpflichtig. Entsprechend erließ das FA am 7. April 1994 geänderte Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre (1988 bis 1992). Der Einspruch der Klägerin blieb erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 1998, 149 veröffentlichten Gründen statt. Es hielt die bezeichneten Leistungen nach § 4 Nr. 16 Buchst. c des Umsatzsteuergesetzes - UStG - 1980/1991 (im folgenden: UStG 1980) für umsatzsteuerfrei.

Mit seiner Revision rügt das FA eine Verletzung des § 4 Nr. 16 Buchst. c UStG 1980. Die Steuerfreiheit nach dieser Vorschrift setze u. a. voraus, daß mindestens 40 v. H. der Leistungen den in § 4 Nr. 15 Buchst. b UStG 1980 genannten Personen zugute kämen.

Diese Voraussetzung sei im Streitfall nicht erfüllt, weil die Leistungen aufgrund der Vertragsbeziehungen nur gegenüber der Laborgemeinschaft erbracht würden. Dies werde besonders am Abrechnungsmodus deutlich: Die Laborgemeinschaft stelle dem einzelnen Mitglied (Arzt) die gegenüber der Klägerin entstandenen Kosten in Rechnung. Der Arzt wiederum rechne mit dem Versicherten oder dem Versicherungsträger nach der Gebührenordnung ab. Bei dieser Verfahrensweise mache der Arzt u. U. einen Gewinn, wenn die nach der Gebührenordnung in Rechnung zu stellenden Gebühren höher seien als die von der Laborgemeinschaft erhobenen Entgelte. Die Rechtslage sei nur dann anders zu beurteilen, wenn der Arzt die Leistungen der Laborgemeinschaft als "durchlaufende Posten" gegenüber dem Versicherten oder Versicherungsträger geltend machen würde.

Im übrigen sei das Tatbestandsmerkmal "unter ärztlicher Aufsicht" nicht erfüllt. Das FG habe diese Voraussetzung als gegeben unterstellt. Nach den Feststellungen der Betriebsprüfung sei die Klägerin in bezug auf die Leistungen gegenüber der Laborgemeinschaft wegen der Vielzahl der Fälle gar nicht imstande gewesen, deren Bearbeitung zu beaufsichtigen. Abschn. 98 Abs. 3 der Umsatzsteuer-Richtlinien 1988 verlange jedoch, daß die Leistungen in jedem Einzelfall unter ärztlicher Aufsicht erbracht werden müßten. Der Unternehmer habe in geeigneter Weise nachzuweisen, daß diese Voraussetzung erfüllt sei.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Das angefochtene Urteil ist zwar revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, soweit das FG der Auffassung ist, die Analyseleistungen der Klägerin kämen trotz der Hintereinanderschaltung mehrerer Leistungsbeziehungen Personen "zugute", die die Voraussetzungen des § 4 Nr. 15 Buchst. b UStG 1980 erfüllten. Das FG hat aber nicht geprüft, ob die 40 v. H.-Quote eingehalten und ob die Analyseleistungen in den Streitjahren auch "unter ärztlicher Aufsicht" erbracht worden sind. Beides wird von § 4 Nr. 16 Buchst. c UStG 1980 zusätzlich gefordert.

1. Bei dem medizinischen Labor der Klägerin handelt es sich um eine sog. "andere Einrichtung ärztlicher Befunderhebung" i. S. von § 4 Nr. 16 Buchst. c UStG 1980. Die Umsatzsteuerfreiheit von Leistungen solcher Einrichtungen hängt zunächst davon ab, ob in dem Besteuerungszeitraum vorangegangenen Kalenderjahr mindestens 40 v. H. dieser Leistungen den in § 4 Nr. 15 Buchst. b UStG 1980 genannten Personen zugute gekommen sind. Zu diesen Personen gehören die Sozialversicherten, die Empfänger von Sozialhilfe und die Versorgungsberechtigten. Der Wortsinn von "zugute kommen" bedeutet "in den Genuß einer Maßnahme kommen" (vgl. dazu Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 8. Mai 1996 XI R 47/95, BFHE 180, 209, BStBl II 1997, 151), also eine Zuwendung, Bereicherung oder Besserstellung. Der Wortsinn ist so weitreichend, daß der Vorschrift eine Beschränkung auf das Vorliegen einer unmittelbaren Leistungsbeziehung zwischen dem die Umsatzsteuerfreiheit seiner Leistungen begehrenden Unternehmer und den Patienten nicht entnommen werden kann (ähnlich - bezüglich "zugute kommen" im Rahmen des § 25 Abs. 1 Satz 5 UStG 1980 - BFH-Beschluß vom 21. Januar 1993 V B 95/92, BFH/NV 1994, 346). Die Hintereinanderschaltung der Leistungsbeziehungen (Klägerin - Laborgemeinschaft - Arzt - Patient) ist im Streitfall daher unschädlich: Die Leistungen der Klägerin an die Laborgemeinschaft kommen den Patienten der Ärzte i. S. von § 4 Nr. 16 Buchst. c UStG 1980 zugute.

2. § 4 Nr. 16 Buchst. c UStG 1980 setzt ferner voraus, daß die Leistungen zu 40 v. H. dem bestimmten Personenkreis zugute kommen. Das FG beschränkt sich hierzu auf die Aussage, das FA habe das Vorliegen dieser Voraussetzung nicht bestritten. Das trifft so nicht zu und reicht auch nicht zur Annahme des Tatbestandsmerkmals aus. Das FA hat in Übereinstimmung mit dem Schreiben des Bundesministers der Finanzen vom 10. Mai 1980 (BStBl I 1980, 287) verlangt, daß die Klägerin die Voraussetzung in geeigneter Weise nachweisen müsse. Die Forderung ist gerechtfertigt, weil nur die Klägerin diese in ihrer Sphäre liegenden Umstände darlegen kann.

Da es bei der 40 v. H.-Grenze auf die Verhältnisse bei der Klägerin ankommt, muß festgestellt werden, ob 40 v. H. ihrer Analyseleistungen in den den Streitjahren jeweils vorangegangenen Kalenderjahren Patienten aus dem bestimmten Personenkreis zugute gekommen sind. Es reicht hierfür nicht aus, daß die Klägerin auf die Struktur der Arztpraxen hinweist, in denen zu mehr als 40 v. H. Patienten des bestimmten Personenkreises behandelt werden. Wenn diesbezügliche Feststellungen bei der Klägerin nicht möglich sein sollten (z. B. wegen Berufung auf die ärztliche Schweigepflicht), geht dies zu ihren Lasten: Sie macht Tatsachen geltend, die zur Umsatzsteuerfreiheit ihrer Leistungen führen und trägt deshalb die sog. objektive Feststellungslast (vgl. dazu allgemein Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 88 AO 1977 Rz. 157 und 164, m. w. N.).

3. Ob die weiteren Voraussetzungen des § 4 Nr. 16 Buchst. c UStG 1980 gegeben sind, kann der Senat auf der Grundlage der vom FG festgestellten Tatsachen nicht beurteilen. Danach ist unklar, ob die streitigen Leistungen "unter ärztlicher Aufsicht" erbracht worden sind. Mangels Ausführungen hierzu in dem Urteil ist davon auszugehen, daß das FG dieses Tatbestandsmerkmal nicht geprüft hat. Allein der Umstand, daß die Klägerin als Unternehmensleiterin Fachärztin für Labormedizin ist, bedeutet noch nicht, daß im Streitfall tatsächlich eine ärztliche Aufsicht stattgefunden hat. Hierfür war vielmehr eine entsprechende Willensentscheidung und praktische Umsetzung dieses Vorsatzes durch die Klägerin als Unternehmerin in dem Sinne erforderlich, daß entweder sie selbst oder eine andere Ärztin/Arzt diese Aufsicht ausübte.

Mit dem Tatbestandsmerkmal "unter ärztlicher Aufsicht" wollte der Gesetzgeber erkennbar sicherstellen, daß nur solche Laborleistungen umsatzsteuerlich begünstigt sein sollten, die hinsichtlich ihrer fachlichen Ausführung einem Qualitätsvergleich mit einer ärztlichen Heilbehandlung standhalten. Die Parallele zur ärztlichen Heilbehandlung ergibt sich aufgrund des Inhalts von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG, der Steuerbefreiungstatbestände im Bereich des Gesundheitswesens enthält (" ... Zentren für ärztliche Heilbehandlung und Diagnostik und anderen ordnungsgemäß anerkannten Einrichtungen gleicher Art ...). Eine der ärztlichen Heilbehandlung vergleichbare Qualität der Ausführung ist aber nur dann gewährleistet, wenn die ärztliche Aufsicht stetig und situationsangemessen stattfindet. Auf der anderen Seite sind die hier zu stellenden Anforderungen geringer als bei der Abgrenzung zwischen freiberuflicher und gewerblicher Betätigungsform: Eine persönliche Teilnahme des Berufsträgers an der praktischen Arbeit i. S. der BFH-Rechtsprechung (vgl. dazu BFH-Beschluß vom 7. Oktober 1987 X B 54/87, BFHE 151, 147, BStBl II 1988, 17 sowie BFH-Urteil vom 25. November 1975 VIII R 116/74, BFHE 117, 247, BStBl II 1976, 155) ist daher nicht erforderlich.

4. Der erkennende Senat kann mangels entsprechender tatsächlicher Feststellungen des FG ebensowenig beurteilen, ob hinsichtlich der streitigen Umsätze die Voraussetzungen einer Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 14 UStG 1980 wegen freiberuflicher ärztlicher Betätigung der Klägerin vorliegen. Insbesondere kann nicht - wie im Rahmen des § 4 Nr. 14 UStG 1980 notwendig - entschieden werden, ob die Ausführung jedes einzelnen Auftrags der Klägerin selbst und nicht den qualifizierten Mitarbeitern, den Hilfskräften, den technischen Hilfsmitteln oder dem Unternehmen als Ganzem zuzurechnen ist (vgl. dazu die ständige BFH-Rechtsprechung, z. B. Urteil vom 21. März 1995 XI R 85/93, BFHE 177, 377, BStBl II 1995, 732 unter II. 2., m. N.).

5. Zur Nachholung der notwendigen tatsächlichen Feststellungen ist die Vorentscheidung aufzuheben und der Rechtsstreit an das FG zurückzuverweisen.