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  BFH-Urteil vom 22.7.1999 (V R 44/98) BStBl. 1999 II S. 749

Die Unterbrechung der Zahlungsverjährung durch Aussetzung der Vollziehung setzt eine wirksame Aussetzung der Vollziehung voraus. Allein die Absendung des mit der Unterbrechungshandlung verbundenen Verwaltungsakts genügt nicht, um die Zahlungsverjährung zu unterbrechen.

AO 1977 § 169 Abs. 1 Satz 3, § 231 Abs. 1 Satz 2.

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg (EFG 1998, 1174)

Sachverhalt

I.

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind die Kinder und Erben des V (im folgenden: Vater der Kläger), der ursprünglich der Kläger war und während des erstinstanzlichen Prozesses verstorben ist. Der Vater der Kläger war einziger Komplementär der. . . KG (im folgenden: KG), die - nach Aufgabe ihrer Geschäftstätigkeit - im Jahre 1991 im Handelsregister gelöscht wurde.

Nach einer bei der KG durchgeführten Betriebsprüfung erließ der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) am 18. April 1989 einen auf § 191 der Abgabenordnung (AO 1977), §§ 161, 128 des Handelsgesetzbuches (HGB) gestützten Haftungsbescheid gegenüber dem Vater der Kläger wegen Umsatzsteuerschulden der KG für die Jahre 1983 und 1984; gleichzeitig wurde der Vater der Kläger aufgefordert, die Haftungsschuld bis zum 22. Mai 1989 zu entrichten.

Gegen den Haftungsbescheid wegen Umsatzsteuer 1984 legte der Prozeßbevollmächtigte der Kläger Einspruch ein und beantragte am 25. August 1989 die Aussetzung der Vollziehung. Das FA verfügte am 30. August 1989 die beantragte Vollziehungsaussetzung. Der Bescheid war an den Prozeßbevollmächtigten der Kläger adressiert. Er wurde nach der vom zuständigen Sachbearbeiter abgezeichneten Aktenverfügung am 30. August 1989 zur Post gegeben.

Das FA wies den Einspruch im Jahre 1995 als unbegründet zurück.

Im Rahmen des anschließenden Klageverfahrens machte der Prozeßvertreter der Kläger nach Durchführung eines Erörterungstermins erstmals Zahlungsverjährung der Haftungsschuld geltend. Das FA reichte daraufhin beim Finanzgericht (FG) eine Durchschrift des Bescheids vom 30. August 1989 über die Aussetzung der Vollziehung ein. Nach Erhalt einer Kopie der Durchschrift trug der Prozeßbevollmächtigte vor, daß er einen solchen Bescheid zu keinem Zeitpunkt erhalten habe und daß er damals auch keine Empfangsvollmacht für Schriftstücke besessen habe, die den Vater der Kläger beträfen.

Das FG wies die gegen den Haftungsbescheid erhobene Klage - soweit sie das Streitjahr 1984 betraf - als unbegründet ab. Es führte dazu u.a. aus: Die Kläger könnten sich nicht auf den Eintritt von Zahlungsverjährung berufen. Im Streitfall habe das FA die Vollziehung des Haftungsbescheids aussetzen wollen, und zwar zu einem Zeitpunkt nach der erstmaligen Fälligkeit der Haftungsschuld, jedoch vor Beginn der Verjährungsfrist, was nach Sinn und Zweck des Gesetzes für den Nichteintritt von Zahlungsverjährung genüge. Der Umstand, daß eine Bekanntgabe der Aussetzungsverfügung vom 30. August 1989 nicht erwiesen sei, sei unschädlich. Die zu § 169 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 ergangene höchstrichterliche Rechtsprechung sei entsprechend anwendbar. Danach genüge es für die Fristwahrung, wenn der Bescheid - wie im Streitfall gegeben - vor Fristablauf den Bereich der für die Steuerfestsetzung zuständigen Finanzbehörde verlassen und die Finanzbehörde alle Voraussetzungen eingehalten habe, die für den Erlaß eines wirksamen Steuerbescheids vorgeschrieben seien (Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 31. Oktober 1989 VIII R 60/88, BFHE 160, 7, BStBl II 1990, 518).

Das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1998, 1174 veröffentlicht.

Mit ihrer Revision rügen die Kläger Verletzung materiellen Rechts. Sie tragen vor: Die herrschende Meinung in der Rechtsprechung und dem Schrifttum gehe dahin, daß § 169 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 lediglich einen Sonderfall der Fristwahrung regele und die Behörde nur davon entbinde, den Zeitpunkt des Zugangs eines Steuerbescheids nachzuweisen (Hinweis auf BFH-Urteil vom 27. April 1995 VII R 90/93, BFH/NV 1995, 943, m. w. N.). Auch der Gesichtspunkt der Beweisnähe spreche im Streitfall dafür daß die Finanzbehörde die Absendung der Aussetzungsverfügung beweisen müsse. Der "Aufgabevermerk" des Sachbearbeiters reiche nicht aus, um eine fristwahrende Absendung i.S. des § 169 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 zu dokumentieren (Hinweis auf Hessisches FG, Urteil vom 20. August 1997 1 K 2976/96, EFG 1998, 81). Die Aussage des vom FG als Zeugen vernommenen Finanzbeamten sei unergiebig gewesen, da er zum tatsächlichen Postausgang keine Angaben habe machen können.

Die Kläger beantragen sinngemäß, unter Aufhebung der Vorentscheidung den Haftungsbescheid vom 18. April 1989 wegen Umsatzsteuer 1984 sowie die ihn bestätigende Einspruchsentscheidung aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Die Vorentscheidung ist aufzuheben, weil das FG zu Unrecht davon ausgegangen ist, es genüge für die Unterbrechung der Zahlungsverjährung, daß der Bescheid über die Aussetzung der Vollziehung die Finanzbehörde verlassen hat.

a) Nach § 231 Abs. 1 AO 1977 wird die (Zahlungs-) Verjährung u.a. unterbrochen durch Aussetzung der Vollziehung; § 169 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 gilt hierbei sinngemäß (§ 231 Abs. 1 Satz 2 AO 1977). § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977 bestimmt zugunsten der Finanzbehörde, daß die Frist für eine Steuerfestsetzung gewahrt ist, wenn vor Ablauf der Festsetzungsfrist der Steuerbescheid den Bereich der für die Steuerfestsetzung zuständigen Finanzbehörde verlassen hat. Daraus folgt, daß es auch für die Unterbrechung der Zahlungsverjährung durch Aussetzung der Vollziehung ausreicht, wenn der Bescheid über die Gewährung der Aussetzung der Vollziehung noch vor Ablauf der Verjährungsfrist den Bereich der Finanzbehörde verlassen hat.

Gleichwohl muß eine wirksame Aussetzung der Vollziehung vorliegen. Entweder muß die Ausfertigung des Bescheids, die den Bereich der Finanzbehörde vor Ablauf der Verjährungsfrist verlassen hat, dem Adressaten auch tatsächlich zugehen (vgl. BFH-Urteile in BFH/NV 1995, 943, und vom 24. April 1996 II R 37/93, BFH/NV 1996, 865) oder die Bekanntgabe muß wiederholt werden (vgl. BFH-Urteil vom 18. Juni 1998 V R 24/97, BFH/ NV 1999, 281). Allein die Absendung des mit der Unterbrechungshandlung verbundenen Verwaltungsakts genügt nicht, um die Zahlungsverjährung zu unterbrechen (ebenso Schultz in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 231 AO Rz. 13; Rüsken in Klein, Abgabenordnung, 6. Aufl., § 231 Anm. 5; Kühn/Hofmann, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, 17. Aufl., § 231 AO Anm. 4 i. V m. § 169 AO Anm. 4; Frotscher in Schwarz, Abgabenordnung, § 231 Rz. 3; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 231 AO Rz. 14).

Die Bekanntgabe des mit der Unterbrechungshandlung verbundenen Verwaltungsakts ist im Rahmen des § 231 Abs. 1 AO 1977 ebenso unverzichtbar wie die Bekanntgabe des Steuerbescheids im Rahmen des § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977. Diese Vorschrift hat nach der Begründung des Regierungsentwurfs zur AO 1977 nur die Funktion, die Einhaltung der Festsetzungsfrist von den Zufälligkeiten des Bekanntgabevorgangs unabhängig zu machen (BTDrucks VI/1982 S. 150). Mit der Vorschrift war somit eine erleichterte Fristwahrungsmöglichkeit für die Behörde bezweckt, nicht aber die Rechtsfolge, daß der Steuerpflichtige einen Verwaltungsakt gegen sich gelten lassen muß, von dessen Existenz er in dem Zeitraum, in dem er von dem Regelungsgehalt des Verwaltungsakts (hier: Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheids) "betroffen" war (vgl. § 122 Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 1 Satz 1 AO 1977), nie Kenntnis erlangt hat (vgl. Begründung des Regierungsentwurfs, a. a. O.: "Besonders bei Auslandszustellungen kann sich das Zustellungsverfahren längere Zeit hinziehen. Es muß deshalb ausreichen, wenn das zuständige Finanzamt z. B. den Steuerbescheid an die Oberfinanzdirektion mit der Bitte um Veranlassung der Auslandszustellung leitet. Bei der Bekanntgabe im Geltungsbereich des Gesetzes wird darüber hinaus der sonst mögliche Streit vermieden, wann der Steuerbescheid zugegangen ist.")

Der Senat setzt sich mit dieser Entscheidung nicht in Widerspruch zum Urteil des BFH vom 31. Oktober 1989 VIII R 60/88 (BFHE 160, 7, BStBl II 1990, 518). Nach diesem Urteil ist die Festsetzungsfrist des § 169 AO 1977 zwar auch dann gewahrt, wenn der Zugang des Steuerbescheids nicht erfolgt ist oder nicht nachgewiesen werden kann, sofern die Finanzbehörde alle Voraussetzungen eingehalten hat, die für den Erlaß eines wirksamen Steuerbescheids vorgeschrieben sind. Dies kann aber nur bedeuten, daß es auf den sofortigen oder alsbaldigen Zugang der rechtzeitig abgesandten Erstausfertigung des Steuerbescheids nicht ankommt. Der Zugang des Steuerbescheids ist nicht schlechthin entbehrlich. Die Wahrung der Festsetzungsfrist setzt nämlich eine Steuerfestsetzung voraus. Die Steuer kann indessen nur durch einen Steuerbescheid festgesetzt werden, der wirksam bekanntgegeben wird und zugeht (vgl. § 122 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 1 und 2 AO 1977). Dies gilt auch im Rahmen des § 169 AO 1977. Tatsächlich ist in dem vom VIII. Senat des BFH entschiedenen Fall der Steuerbescheid (eine Zweitausfertigung) auch zugestellt worden, nachdem die Kläger mitgeteilt hatten, den Steuerbescheid (die Erstausfertigung) nicht erhalten zu haben.

Im Streitfall hat das FG - von seinem Rechtsstandpunkt aus konsequent - lediglich festgestellt, daß der Bescheid über die Aussetzung der Vollziehung vom 30. August 1989 das FA verlassen hat, nicht aber, daß er auch dem Prozeßbevollmächtigten der Kläger zugegangen ist.

b) Die Bekanntgabe wurde auch nicht wiederholt. Das FA überließ dem Vater der Kläger zwar im Verlauf des Klageverfahrens eine Kopie der Durchschrift der Aussetzungsverfügung als Anlage zu einem an das FG gerichteten Schriftsatz. Hierin kann jedoch keine Bekanntgabe i. S. von § 124 Abs. 1 AO 1977 gesehen werden, weil die Übersendung des Schriftstücks nur der Information des Empfängers über den Inhalt eines bei den Akten befindlichen Schriftstücks dienen sollte.

2. Da das FG von seinem Rechtsstandpunkt aus keine Feststellungen dazu treffen mußte, ob die Bekanntgabe des Aussetzungsbescheids vom 30. August 1989 erfolgreich war, verweist der Senat die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück. Das FG hat dann Gelegenheit zu prüfen, ob es aufgrund des Gesamtverlaufs des Verfahrens die Überzeugung gewinnen kann, daß der Bescheid dem Prozeßbevollmächtigten der Kläger zugegangen ist.