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  BFH-Urteil vom 23.11.2000 (IV R 85/99) BStBl. 2001 II S. 122

Die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids auf Grund eines rückwirkenden Ereignisses erfasst auch die bei der ursprünglichen Entscheidung unterlaufenen Rechtsfehler.

AO 1977 § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 177 Abs. 1 bis 3; EStG § 14a Abs. 4.

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg (EFG 2000, 49)

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger), in den Streitjahren (1984 und 1985) zur Einkommensteuer zusammenveranlagte Ehegatten, unterhielten einen land- und forstwirtschaftlichen Betrieb. Mit notariellem Vertrag vom 17. Dezember 1984 übertrugen sie ihrem Sohn zur Abfindung als weichender Erbe ein bebautes Grundstück. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) ermittelte einen unstreitigen Entnahmegewinn, der mit 13.040 DM auf den Grund und Boden und mit 233.545 DM auf das Gebäude entfiel. Das FA setzte diesen Entnahmegewinn als laufenden Gewinn des Wirtschaftsjahrs 1984/85 bei den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft für die Streitjahre an. Hierbei berücksichtigte es einen Freibetrag in Höhe von jeweils 60.000 DM für die Abfindung eines weichenden Erben durch jeden der Ehegatten als Mitunternehmer.

Nachdem die Kläger ihren land- und forstwirtschaftlichen Betrieb 1991 verpachtet und im Dezember 1995 dem FA gegenüber die Betriebsaufgabe erklärt hatten, erließ dieses am 6. Oktober 1998 Einkommensteueränderungsbescheide für die Streitjahre, denen jeweils um 60.000 DM erhöhte Gewinne aus Land- und Forstwirtschaft zugrunde lagen, weil die Freibeträge nach § 14a Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) versagt wurden.

Nach erfolglosem Einspruch gab das Finanzgericht (FG) der Klage statt, mit der die Kläger die Herabsetzung ihrer Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft für 1984 und 1985 nur mehr um jeweils 53.480 DM begehrten, weil sie die Versagung der Freibeträge hinsichtlich des auf den Grund und Boden entfallenden Entnahmegewinns akzeptiert hatten. Zur Begründung führte das FG in dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2000, 49 veröffentlichten Gerichtsbescheid im Wesentlichen aus, die Betriebsaufgabe hätte zur Versagung des (insgesamt) gewährten Freibetrags führen müssen (Hinweis auf Senatsurteil vom 4. März 1993 IV R 110/92, BFHE 171, 381, BStBl II 1993, 788). Die Änderungsvorschrift des § 175 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) und das rückwirkende Ereignis erfassten aber nur die Aufhebung des Freibetrags für die Entnahme des Grund und Bodens nach § 14a Abs. 4 EStG. Einen Freibetrag für die Veräußerung oder die Entnahme eines Gebäudes habe das Gesetz nicht vorgesehen. Die Korrektur eines Rechtsfehlers sei aber nur im Rahmen des § 177 AO 1977 zulässig.

Mit seiner dagegen gerichteten, vom FG zugelassenen Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts und trägt zur Begründung vor, das rückwirkende Ereignis lasse den Freibetrag nach § 14a Abs. 4 EStG dem Grunde und der Höhe nach entfallen.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist begründet. Das FA hat die Einkommensteuerbescheide 1984 und 1985 zu Recht geändert und den Freibetrag zur Abfindung weichender Erben rückwirkend in voller Höhe versagt, nachdem die Kläger ihren land- und forstwirtschaftlichen Betrieb aufgegeben hatten.

1. Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis). Ein solches Ereignis liegt im Streitfall vor.

Was unter einem rückwirkenden Ereignis zu verstehen ist, wird im Gesetz nicht näher bestimmt. Es genügt aber nicht, dass das spätere Ereignis den für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhalt anders gestaltet. Die Änderung muss sich auch steuerrechtlich in der Weise auswirken, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist. Ob diese Voraussetzung vorliegt, entscheidet sich nach dem im Einzelfall anzuwendenden materiellen Steuergesetz. Der Senat verweist insoweit auf den Beschluss des Großen Senats vom 19. Juli 1993 GrS 2/92 (BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897, unter C. II. 1. der Gründe).

2. Die für die Steuerbefreiung eines Entnahmegewinns maßgebende materiell-rechtliche Vorschrift ist für die im Dezember 1984 durchgeführte Entnahme im Streitfall § 14a Abs. 4 EStG 1983. Danach wird der nach dem 31. Dezember 1979 und vor dem 1. Januar 1986 entstandene Gewinn aus der Veräußerung oder Entnahme land- und forstwirtschaftlichen Grund und Bodens auf Antrag nur insoweit zur Einkommensteuer herangezogen, als er den Betrag von 60.000 DM übersteigt. Dies gilt nach § 14a Abs. 4 Satz 2 EStG allerdings nur, wenn der Steuerpflichtige den Veräußerungspreis nach Abzug der Veräußerungskosten innerhalb von 12 Monaten nach der Veräußerung zur Abfindung weichender Erben verwendet oder den entnommenen Grund und Boden innerhalb von 12 Monaten nach der Entnahme im Wege vorweggenommener Erbfolge oder zur Abfindung weichender Erben diesen übereignet und ferner die unter § 14a Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 EStG näher bezeichneten Einkommensgrenzen für den vorangegangenen Veranlagungszeitraum nicht überschritten sind.

a) Die Beteiligten sind bei den Veranlagungen der Streitjahre übereinstimmend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen der Steuerbefreiung für eine vorgezogene Abfindung dem Grunde nach vorgelegen haben, denn der abgefundene Sohn ist als Erbe grundsätzlich auch Begünstigter. Allerdings ist dem FA insoweit ein Fehler unterlaufen, als es dem Antrag der Kläger folgte und auch den Gewinn aus der Entnahme des Gebäudes begünstigte. Nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes war aber nur der Gewinn aus der Veräußerung oder Entnahme des Grund und Bodens begünstigt, der im Streitfall mit 13.040 DM weit geringer war als der gesetzlich vorgesehene steuerfreie Höchstbetrag von 60.000 DM. Im Streitfall kann dahinstehen, ob das FA diese materiell-rechtlichen Fehler auch im Wege einer Nachholung der unterbliebenen einheitlichen und gesonderten Feststellung der Einkünfte hätte korrigieren können; denn nach § 180 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 konnte das FA auf eine Gewinnfeststellung auch verzichten, da es sich um einen Fall von geringer Bedeutung handelte (s. etwa Senatsurteil vom 4. Juli 1985 IV R 136/83, BFHE 144, 141, BStBl II 1985, 576).

b) Übereinstimmend gehen die Beteiligten auch davon aus, dass die spätere Aufgabe des land- und forstwirtschaftlichen Betriebs als rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 zu einer Änderung der bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide führen musste. Der Senat hat wiederholt entschieden, dass bei vorzeitigen Abfindungen die Person des Hoferben oder Hofübernehmers tatsächlich erst im Zeitpunkt des Erbfalls oder der tatsächlichen Hofübergabe feststeht; erst dann ist auch sicher, dass es überhaupt zur Hofübernahme gekommen ist, der Hof also nicht vorher veräußert oder aufgegeben wurde. Somit lässt sich im Falle der vorgezogenen Abfindung zwar feststellen, ob der Empfänger der Zuwendung gesetzlicher Erbe des Hofeigentümers ist, nicht aber, dass er tatsächlich nicht zur Übernahme des Hofes berufen ist. Dies steht erst im Zeitpunkt der Erbfolge oder Übernahme fest, da entgegen ursprünglicher Planung der Bedachte doch noch den Betrieb übernehmen kann oder dieser veräußert oder aufgegeben wird. Die Steuerbegünstigung der vorgezogenen Abfindung steht daher unter dem Gesetzesvorbehalt, dass der Abgefundene nicht doch noch den Betrieb übernimmt und dass dieser auch durch Hoferbfolge oder Hofübergabe übertragen, also nicht vorher verkauft oder aufgegeben wird (Senatsurteile in BFHE 171, 381, BStBl II 1993, 788, und vom 18. Juni 1998 IV R 53/97, BFHE 186, 355, BStBl II 1998, 621; s. auch Senatsurteil vom 5. November 1998 IV R 32/98, BFHE 187, 469, BStBl II 1999, 57). Wie der Senat weiter entschieden hat, lässt sich dieser Vorbehalt auch verfahrensmäßig nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 realisieren. Weil die Steuerbegünstigung der vorgezogenen Abfindung in der geschilderten Weise vom späteren Schicksal des Betriebs abhängt, kann das FA den begünstigenden Einkommensteuerbescheid ändern, wenn sich später herausstellt, dass der Zuwendungsempfänger nicht weichender Erbe ist (Urteil des Bundesfinanzhof - BFH - in BFHE 171, 381, BStBl II 1993, 788).

c) Entgegen der Vorentscheidung führt die Änderung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 nicht nur zu einer Rücknahme der Steuerbegünstigung in Höhe des Betrags, der von Gesetzes wegen hätte beansprucht werden können, sondern zu einem Fortfall des gesamten Freibetrags, auch soweit er ohne Rechtsgrundlage gewährt worden war. Das rückwirkende Ereignis der fehlgeschlagenen Hofübergabe infolge der Aufgabe des verpachteten land- und forstwirtschaftlichen Betriebs verändert den Sachverhalt und wirkt steuerschuldrechtlich (vgl. BFH-Urteil vom 30. November 1994 XI R 84/92, BFH/NV 1995, 665) in die Vergangenheit zurück, weil das dargelegte Bedürfnis besteht, die schon eingetretene endgültige Regelung an die Sachverhaltsveränderung anzupassen (vgl. BFH-Beschluss in BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897, unter C. II. 1. a bis c; BFH-Urteil vom 12. Juli 1989 X R 8/84, BFHE 157, 484, BStBl II 1989, 957, unter 1. a). Für den Streitfall folgt hieraus eine Entscheidung über die Steuerbegünstigung des § 14a Abs. 4 EStG so, als sei dem FA damals schon bekannt gewesen, dass der abgefundene Sohn nicht weichender Erbe sein könne. Hätte danach kein Anlass bestanden, die Regelung des § 14a Abs. 4 EStG überhaupt und auch fehlerhaft anzuwenden, so ist die gesamte Entscheidung rückgängig zu machen und der Freibetrag in voller Höhe von 120.000 DM zu versagen. Das FG hat zwar zutreffend ausgeführt, dass diese nicht saldierende Änderung eines Rechtsfehlers nicht von § 177 AO 1977 als Befugnisnorm erfasst wird; der Senat kann der Vorentscheidung aber nicht darin folgen, dass die Korrektur eines Rechtsfehlers nur im Rahmen des § 177 AO 1977 zulässig sei, dieser Vorschrift daher eine ausschließliche Wirkung zukomme. Der Umfang einer Korrektur wegen eines rückwirkenden Ereignisses nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 richtet sich allein nach Veranlassungsgesichtspunkten, die eine Unterscheidung ursprünglich zutreffender von gleichzeitig fehlerhaften Verwaltungsentscheidungen entbehrlich machen. Insoweit erweist sich ein Steuerbescheid vielmehr im Nachhinein insgesamt und unabhängig davon als rechtswidrig, ob sich der materiell-rechtliche Fehler zu Gunsten oder zu Lasten des Steuerpflichtigen ausgewirkt hatte.

Soweit sich die Kläger in der mündlichen Verhandlung auf eine Anwendung des § 175 Abs. 2 AO 1977 berufen haben, dem nach ihrer Auffassung Vorrang vor § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 zukommen soll, vermag ihnen der Senat nicht zu folgen. Diese Vorschrift erfasst nicht Ereignisse, denen steuerliche Wirkung für die Vergangenheit zukommt, sondern fingiert ein solches rückwirkendes Ereignis ("auch") bei Wegfall einer Voraussetzung für eine Steuervergünstigung, die von Gesetzes wegen für eine bestimmte Zeit gegeben sein muss, oder wenn durch Verwaltungsakt festgestellt worden ist, dass diese Voraussetzung Grundlage für die Gewährung der Steuervergünstigung sein soll. Der hier für die begünstigte Abfindung erforderliche sachliche Zusammenhang mit der Hoferbfolge ist aber weder eine Voraussetzung, die für eine bestimmte Zeit gegeben sein muss, noch bedarf es einer besonderen Feststellung, dass diese Voraussetzung Grundlage für die gewährten Freibeträge ist; sie ergibt sich vielmehr unmittelbar aus dem Gesetz. Die Steuerbegünstigung steht daher bereits unter dem Gesetzesvorbehalt, dass es zu einer Hoferbfolge oder -übergabe kommt (BFH-Urteil in BFHE 171, 381, BStBl II 1993, 788, Nr. 2 a.E.), ohne dass es noch einer besonderen verwaltungsaktlichen Feststellung bedürfte.

3. Da das FG von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen ist, war seine Entscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung).