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  BFH-Beschluss vom 5.3.2001 (IX B 90/00) BStBl. 2001 II S. 405

Bei der im Aussetzungsverfahren nach § 69 Abs. 3 FGO gebotenen summarischen Prüfung begegnet die rückwirkende Verlängerung der Veräußerungsfrist für Grundstücke von zwei auf zehn Jahre durch § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 EStG i.d.F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln, weil der Gesetzgeber Anschaffungsvorgänge in die Regelung einbezogen hat, für die die "Spekulationsfrist" des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG in der vor dem 1. Januar 1999 geltenden Fassung bereits abgelaufen war.

EStG § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1; § 52 Abs. 39 Satz 1; GG Art. 20 Abs. 3.

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg (EFG 2000, 1004)

Sachverhalt

I.

Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) hatte am 29. August 1990 ein Grundstück erworben, das er durch notariell beurkundeten Vertrag vom 22. April 1999 veräußerte, nachdem er im Oktober 1997 einen Makler mit dem Verkauf beauftragt hatte. Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) sah hierin ein privates Veräußerungsgeschäft i.S. des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.d.F. des Steuerentlastungsgesetzes (StEntlG) 1999/2000/2002 - § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 n.F. - und unterwarf den nach § 23 Abs. 3 Satz 1 EStG ermittelten Veräußerungsgewinn im Einkommensteuervorauszahlungsbescheid für 1999 vom 23. Februar 2000 der Einkommensteuer.

Hiergegen legte der Antragsteller Einspruch ein; gleichzeitig beantragte er u.a., die festgesetzte Einkommensteuervorauszahlung sowie den festgesetzten Solidaritätszuschlag von der Vollziehung auszusetzen. Mit Bescheid vom 16. März 2000 lehnte das FA den Antrag des Antragstellers auf Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts ab.

Ein Antrag des Antragstellers auf Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts durch das Finanzgericht (FG) gemäß § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hatte keinen Erfolg. Das FG vertrat die Ansicht, dass nach summarischer Prüfung keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestünden. Die Verlängerung der Frist zwischen Anschaffung und Veräußerung von Grundstücken von zwei auf zehn Jahre durch § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 EStG n.F. verstoße insbesondere nicht gegen das Rückwirkungsverbot im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Das FG ließ die Beschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu.

Der Antragsteller legte gegen die in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2000, 1004 veröffentlichte Entscheidung des FG Beschwerde ein. Das FG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

Während des Beschwerdeverfahrens hat das FA dem Antragsteller unter dem 7. September 2000 den Einkommensteuer-Jahresbescheid 1999 bekannt gegeben. Der Antragsteller hat mit Schriftsatz vom 19. Oktober 2000 unter gleichzeitiger Stellung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt, den Bescheid vom 7. September 2000 gemäß § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens zu machen.

Der Antragsteller beantragt, die Vollziehung des Bescheides ohne Sicherheitsleistung auszusetzen.

Das FA beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

1. Die Beschwerde ist zulässig ... (wird ausgeführt)

2. Die Beschwerde ist begründet.

a) Gemäß § 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts wegen ernstlicher Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit aussetzen. Ernstliche Zweifel liegen nach der ständigen Rechtsprechung vor, wenn neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen bewirken (BFH-Beschluss vom 14. September 1994 IX B 142/93, BFHE 175, 421, BStBl II 1995, 778). Ernstliche Zweifel i.S. des § 69 Abs. 2 und 3 FGO können auch verfassungsrechtliche Zweifel an der Gültigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm sein (BVerfG-Urteil vom 21. Februar 1961 1 BvR 314/60, BVerfGE 12, 180, 186, BStBl I 1961, 63; BFH-Beschluss vom 9. November 1992 X B 137/92, BFH/NV 1994, 324, ständige Rechtsprechung).

b) Im Streitfall ist die Aussetzung der Vollziehung in dem vom Antragsteller beantragten Umfang zu gewähren; die angegriffene Regelung in § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 EStG n.F. begegnet mit Blick auf das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) ergebende grundsätzliche Verbot, rückwirkend belastende Steuergesetze zu erlassen, schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln.

Nach dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes bedarf es besonderer Rechtfertigung, wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend ändert. Die Verlässlichkeit der Rechtsordnung ist eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Es würde den Einzelnen in seiner Freiheit gefährden, dürfte die öffentliche Gewalt an sein Verhalten oder an ihn betreffende Umstände im nachhinein -rückwirkend- belastendere Rechtsfolgen knüpfen, als sie zum Zeitpunkt seines rechtserheblichen Verhaltens galten (BVerfG-Beschlüsse vom 14. Mai 1986 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200, 257; vom 3. Dezember 1997 2 BvR 882/97, BVerfGE 97, 67, 78). Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob die Neuregelung in § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 EStG n.F. im Streitfall eine verfassungsrechtlich grundsätzlich unzulässige sog. "echte Rückwirkung" oder lediglich eine regelmäßig verfassungsrechtlich zulässige "unechte Rückwirkung" im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG (vgl. BVerfG-Beschlüsse in BVerfGE 72, 200, 257 f. und in BVerfGE 97, 67, 78 f.) entfaltet, da im Rahmen der gebotenen summarischen Prüfung schon bei Annahme einer unechten Rückwirkung schwerwiegende verfassungsrechtliche Zweifel bestehen.

§ 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 EStG n.F. erfasst Veräußerungsgeschäfte bei Grundstücken und Rechten, die den Vorschriften des bürgerlichen Rechts über Grundstücke unterliegen, bei denen der Zeitraum zwischen Anschaffung und Veräußerung nicht mehr als zehn Jahre beträgt. Diese Regelung ist nach der Anwendungsvorschrift des § 52 Abs. 39 Satz 1 EStG i.d.F. des StEntlG 1999 /2000/2002 auf Veräußerungsgeschäfte anzuwenden, bei denen die Veräußerung auf einem nach dem 31. Dezember 1998 rechtswirksam abgeschlossenen obligatorischen Vertrag oder gleichstehenden Rechtsakt beruht. In den Anwendungsbereich der Neuregelung fallen auch Anschaffungsvorgänge über Grundstücke, für die die "Spekulationsfrist" des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG in der vor dem 1. Januar 1999 geltenden Fassung -§ 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG a.F.- bereits vor dem 1. Januar 1999 abgelaufen war; die streitige Norm gilt mithin auch für Grundstücke, die nach Ablauf der zweijährigen "Spekulationsfrist" bei Erlass der Neuregelung bereits aus dem Anwendungsbereich des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG a.F. und damit aus der "Steuerverstrickung" ausgeschieden waren (vgl. Birk/Kulosa, Finanz-Rundschau -FR- 1999, 433; Wermeckes, Deutsche Steuer-Zeitung -DStZ- 1999, 479). Insoweit erfasst die Vorschrift auch eine Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen in Form einer Wertsteigerung des Privatvermögens, die in einem -bislang steuerrechtlich unerheblichen- Zeitraum zwischen der "Steuerentstrickung", d.h. dem Hinauswachsen des ursprünglich steuerbefangenen Grundstücks aus dem Anwendungsbereich des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG a.F., und der Veräußerung eingetreten ist.

Der Erfassung dieser Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch eine rückwirkende gesetzliche Regelung sind von Verfassungs wegen Grenzen gesetzt, die sich aus einer Abwägung zwischen dem Ausmaß des durch die Gesetzesänderung verursachten Vertrauensschadens und der Beeinträchtigung der geschützten Grundrechtspositionen des Einzelnen einerseits und der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Gemeinwohl andererseits ergeben. Schutzwürdig ist jedenfalls -vom Tag der Dispositionsentscheidung an- das betätigte Vertrauen, d.h. eine hinreichend gewichtige Investition oder wirtschaftliche Disposition des Steuerpflichtigen, die auf dem Vertrauen in das zu diesem Zeitpunkt geltende Recht beruht (vgl. BVerfG-Beschlüsse vom 5. Mai 1987 1 BvR 724, 1000, 1015/81; 1 BvL 16/82 und 5/84, BVerfGE 75, 246, 280 und in BVerfGE 97, 67, 80). Entscheidet sich der Steuerpflichtige wegen eines vom Gesetzgeber als Subvention angebotenen steuerlichen Vorteils für ein bestimmtes wirtschaftliches Verhalten, das er ohne den steuerlichen Anreiz so nicht gewählt hätte und nimmt der Gesetzgeber die Verschonungssubvention für die in der Vergangenheit begründete Disposition des Steuerpflichtigen zurück, kann darin eine Verletzung verfassungsmäßig geschützter Rechte liegen (vgl. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 97, 67, 80). Ist es aber dem Gesetzgeber dem Grunde nach verwehrt, das betätigte Vertrauen des Steuerpflichtigen auf einmal geschaffene Dispositionsgrundlagen durch rückwirkende Streichung von begünstigenden Subventionsnormen zu enttäuschen, muss es ihm erst recht von Verfassungs wegen verwehrt sein, ein vergleichbares Vertrauen durch Ausweitung einer Eingriffsnorm zu enttäuschen.

Der Steuerpflichtige kann andererseits aber nicht ohne weiteres darauf vertrauen, dass der Gesetzgeber steuerrechtliche Freiräume für alle Zukunft aufrechterhält und eine für den Steuerpflichtigen günstige Rechtslage dauerhaft erhalten bleibt. Ein voller Schutz zugunsten des Fortbestands der bisherigen Gesetzeslage könnte den dem Gemeinwohl verpflichteten demokratischen Gesetzgeber in wichtigen Bereichen gegenüber den Einzelinteressen lähmen und das Gemeinwohl gefährden; dies würde den Widerstreit zwischen der Verlässlichkeit der Rechtsordnung und der Notwendigkeit ihrer Änderung im Blick auf den Wandel der Lebensverhältnisse in nicht mehr vertretbarer Weise zu Lasten der Anpassungsfähigkeit der Rechtsordnung lösen (BVerfG-Beschluss vom 30. September 1987 2 BvR 933/82, BVerfGE 76, 256, 348; s. auch BFH-Urteil vom 14. Mai 1992 V R 79/87, BFHE 168, 462, BStBl II 1992, 983).

Das Vertrauen des Antragstellers auf die im Zeitpunkt der Anschaffung des Grundstücks bestehende Rechtslage ist nach Ansicht des Senats von Verfassungs wegen schutzwürdig. Der Antragsteller hat beim Aufbau und bei der Strukturierung seines Privatvermögens mit Rücksicht auf die bis 31. Dezember 1998 geltende Gesetzeslage investiert und wirtschaftliche Dispositionen von erheblichem finanziellen Gewicht getätigt. Hierbei hat er sowohl bei Anschaffung des Grundstücks als auch im Zeitpunkt der "Steuerentstrickung" wie auch bei der späteren Erteilung des Maklervertrages über dessen Veräußerung im Oktober 1997 auf die seit dem Einkommensteuergesetz vom 10. August 1925 (RGBl I, 189) unveränderte, zu diesem Zeitpunkt gültige und ihm bekannte zweijährige Spekulationsfrist des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG a.F. vertraut. Das Vertrauen des Antragstellers war zu diesem Zeitpunkt auch nicht durch die Kenntnis von Umständen erschüttert worden, die auf eine Verlängerung der Spekulationsfrist durch den Gesetzgeber hindeuteten; denn die Bundesregierung hat noch im Jahr 1996 ausdrücklich betont, an der zweijährigen Frist des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG a.F. festhalten zu wollen (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage von Abgeordneten und der Fraktion der SPD zu steuerlichen Aspekten der Wohnungsbauförderung vom 9. Januar 1996, Drucksachen des Deutschen Bundestags -BTDrucks- 13/3446, S. 12 f.; s. auch Lüdemann/Zugmaier, Deutsches Steuerrecht -DStR- 1996, 1636, 1639).

Im Streitfall führt die Anerkennung eines verfassungsrechtlich geschützten, hinreichend gewichtigen Vertrauenstatbestandes -insbesondere unter Berücksichtigung des Umstandes, dass das Vertrauen des Steuerpflichtigen auf den unveränderten Fortbestand der bisherigen Rechtslage dem Grunde nach nicht schutzwürdig ist- zwar noch nicht dazu, dass der Gesetzgeber grundsätzlich gehindert wäre, bestehende steuerrechtliche Freiräume zu schließen. Gleichwohl war er aber gehalten, bei der Verlängerung der Veräußerungsfrist für Grundstücke jedenfalls diejenigen Fälle in eine schonende, dem schützenswerten Vertrauen des Steuerpflichtigen hinreichend Rechnung tragende Übergangsregelung einzubetten, in denen -wie im Streitfall- die "Spekulationsfrist" des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG a.F. bereits vor dem 1. Januar 1999 abgelaufen war. Der Gesetzgeber hat im Zuge der Einführung der verlängerten Veräußerungsfristen des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 EStG n.F. keine Regelung vorgesehen, die im Streitfall zugunsten des Antragstellers einen schonenden Übergang zur neuen Rechtslage gewährleistet. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, inwieweit der Antragsteller eine seine früheren Dispositionen teilweise entwertende Gesetzesänderung aus Gründen des gemeinen Wohls und mit Rücksicht auf die Anpassungsfähigkeit der Rechtsordnung hätte hinnehmen müssen; jedenfalls ist es vor dem Hintergrund des dem Rechtsstaatsprinzip entspringenden Kontinuitätsgebots verfassungsrechtlich zu beanstanden, dass der Antragsteller im Vertrauen auf seine Vermögensdisposition völlig schutzlos gelassen wird. Zudem verbietet die rechtsstaatliche Kontinuitätsgewähr es dem Gesetzgeber, sich in Widerspruch zu seinen vorangegangenen Regelungen zu setzen und das Gesetzesvertrauen des Bürgers durch eine abrupte Kursänderung zu enttäuschen.

c) Nach Maßgabe der unter 2 b) genannten Gründe ist die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts im Streitfall zu gewähren, da die nach Ansicht des Senats schwerwiegenden Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden gesetzlichen Regelung über das Maß an Zweifeln hinausgehen, welches üblicherweise von der Rechtsprechung für die Gewährung der Aussetzung der Vollziehung für erforderlich angesehen wird.

3. Der Senat lässt es dahingestellt, ob das in der Rechtsprechung des BFH entwickelte Merkmal des berechtigten Interesses an der Aussetzung der Vollziehung eine ausreichende Grundlage im Gesetz findet (vgl. Seer, Steuer und Wirtschaft -StuW- 2001, 3, 17 f.), weil dieses im Streitfall bejaht werden kann; denn abgesehen von einem nicht erheblichen, rein fiskalisch begründeten Interesse sind keine schwerwiegenden öffentlichen Interessen an einer Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts ersichtlich.