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  BFH-Urteil vom 4.4.2001 (XI R 59/00) BStBl. 2001 II S. 564

Wird ein bestandskräftiger Steuerbescheid, für den die Festsetzungsfrist abgelaufen ist, nach § 174 Abs. 4 AO 1977 innerhalb der Jahresfrist dergestalt geändert, dass nunmehr kein nicht ausgeglichener Verlust mehr besteht, so ist innerhalb der Jahresfrist des § 174 Abs. 4 Satz 3 AO 1977 der Steuerbescheid des Verlustrücktragsjahres gemäß § 10d Satz 2 EStG a.F. zu ändern.

AO 1977 § 174 Abs. 4; EStG a.F. § 10d Sätze 2 und 3; EStG n.F. § 10d Abs. 1 Sätze 5 und 6.

Vorinstanz: Schleswig-Holsteinisches FG (EFG 2000, 1387)

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erzielte in den Streitjahren 1987 und 1989 u.a. Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Nach einer bei ihm 1991 durchgeführten Außenprüfung vertrat der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -FA-) die Auffassung, dass eine vom Kläger 1987 abgeschriebene Forderung erst im Veranlagungszeitraum 1989 abgeschrieben werden könne. Dementsprechend erließ das FA am 22. Juli 1992 einen (geänderten) Einkommensteuerbescheid für 1987, in dem es den Gewinn um die vom Kläger vorgenommene Forderungsabschreibung erhöhte, und am 15. September 1992 einen Einkommensteuerbescheid für 1989, in dem es einen um die Forderungsabschreibung erhöhten Verlust aus Gewerbebetrieb von 255.927 DM ermittelte. Den im Streitjahr 1989 nicht ausgeglichenen Verlust in Höhe von 75.511 DM hatte es bereits im (geänderten) Einkommensteuerbescheid 1987 vom 22. Juli 1992 berücksichtigt.

Der Kläger legte gegen den Einkommensteueränderungsbescheid 1987 Einspruch mit der Begründung ein, die streitige Forderung sei bereits im Jahr 1987 abzuschreiben. Dem folgte das FA mit Bescheid vom 20. Mai 1997 und gab dem Einspruch unter zusätzlicher Berücksichtigung eines Verlustrücktrags aus 1989 in Höhe von 74.964 DM statt. Am 22. Juli 1997 erließ es einen geänderten Einkommensteuerbescheid für 1989. Da sich nunmehr für 1989 ein positiver Gesamtbetrag der Einkünfte ergab, änderte es am 22. September 1997 den Einkommensteueränderungsbescheid 1987 vom 20. Mai 1997 und strich den bisher aus 1989 zurückgetragenen Verlust.

Der Kläger legte Einsprüche gegen den geänderten Einkommensteuerbescheid 1989 vom 22. Juli 1997 und den geänderten Einkommensteuerbescheid 1987 vom 22. September 1997 ein; diese blieben erfolglos. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab (Entscheidungen der Finanzgerichte -EFG- 2000, 1387).

Mit seiner Revision rügt der Kläger unrichtige Anwendung des § 174 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO 1977) und § 10d des Einkommensteuergesetzes (EStG). Er beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Einkommensteuer für 1987 auf 306.951 DM und für 1989 auf 0 DM festzusetzen.

Das FA beantragt, die Revision mangels ausreichender Revisionsbegründung als unzulässig zu verwerfen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist als unbegründet zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -FGO-).

A. Die Revision ist zulässig.

Dem Revisionsbegründungsschriftsatz vom 18. Oktober 2000 lässt sich hinreichend deutlich entnehmen, dass der Kläger Verletzung des § 174 Abs. 4 AO 1977 und des § 10d Satz 3 EStG in der in den Streitjahren geltenden Fassung rügt. Ferner hat er unter Hinweis auf Kommentarstellen vortragen lassen, dass § 174 Abs. 4 AO 1977 im Streitfall nicht anzuwenden sei und die Jahresfrist des § 174 Abs. 4 Satz 3 AO 1977 im Rahmen des § 10d Satz 3 EStG a.F. nicht gelte. Dies reicht für eine ordnungsgemäße Revisionsbegründung aus.

B. Die Einwendungen des Klägers greifen jedoch nicht durch.

1. Rechtsgrundlage für den Erlass des angefochtenen Einkommensteueränderungsbescheides für 1989 vom 22. Juli 1997 ist § 174 Abs. 4 AO 1977.

a) Danach können aus einem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheides die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden, wenn aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen ist, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert worden ist. Der Ablauf der Festsetzungsfrist ist unbeachtlich, wenn die steuerlichen Folgerungen innerhalb eines Jahres nach Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheides gezogen werden (§ 174 Abs. 4 Satz 3 AO 1977).

Da das FA auf Einspruch des Klägers die Forderungsabschreibung bei der Gewinnermittlung 1987 anerkannt und dementsprechend dem Einspruch durch Bescheid vom 20. Mai 1997 stattgegeben hat, konnte es der nunmehr nicht mehr berechtigten Forderungsabschreibung im Veranlagungszeitraum 1989 durch Erlass des Änderungsbescheides vom 22. Juli 1997 Rechnung tragen. Es hat ferner die steuerlichen Folgerungen aus der Stattgabe des Einspruchs betreffend 1987 innerhalb der Jahresfrist gezogen (vgl. Einkommensteueränderungsbescheid 1987 vom 20. Mai 1997; Änderungsbescheid nach § 174 Abs. 4 AO 1977 für 1989 vom 22. Juli 1997).

b) Der Meinung des Klägers, § 174 Abs. 4 AO 1977 sei nur anzuwenden, wenn durch die vorausgegangene Änderung des Einkommensteuerbescheides 1987 der Sachverhalt "ohne steuerliche Regelung wäre", ist nicht zu folgen. Sie findet weder im Wortlaut noch in Sinn und Zweck der Norm eine Stütze.

Zweck der Vorschrift ist es, nach antragsgemäßer Änderung eines Steuerbescheides (hier: Einkommensteuer 1987) ggf. unter Durchbrechung der Bestandskraft die in einem anderen Steuerbescheid gezogenen steuerlichen Folgerungen rückgängig zu machen, die sich nachträglich als unzutreffend erwiesen haben (vgl. Gesetzesbegründung BTDrucks VI/1982, 153/4; Beschluss des Großen Senats des Bundesfinanzhofs -BFH- vom 10. November 1997 GrS 1/96, BFHE 184, 1, BStBl II 1998, 83). Diese Auffassung hat auch der erkennende Senat -entgegen dem Vortrag des Klägers- in der von Tipke/Kruse (Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 174 AO 1977 Tz. 39) zitierten Entscheidung vom 8. Juli 1992 XI R 54/89 (BFHE 168, 231, BStBl II 1992, 867) vertreten. Unerheblich ist, ob der Steuerpflichtige oder das FA den Irrtum veranlasst hat (vgl. z.B. Frotscher in Schwarz, Abgabenordnung, § 174 Rdnr. 62).

2. Das FA musste auch, nachdem durch den Wegfall der Forderungsabschreibung in 1989 kein rücktragfähiger Verlust für 1987 mehr vorhanden war, den bislang bei der Einkommensteuer-Veranlagung 1987 gewährten Verlustrücktrag rückgängig machen. Rechtsgrundlage hierfür ist § 10d Satz 2 EStG in der in den Streitjahren geltenden Fassung (a.F.).

a) Nach § 10d Satz 2 EStG a.F. sind die für vorangegangene Veranlagungszeiträume bereits ergangenen Steuerbescheide insoweit zu ändern, als der Verlustabzug zu gewähren oder zu berichtigen ist. § 10d Satz 2 EStG a.F. enthält eine gegenüber den Änderungsvorschriften der AO 1977 (§§ 172 ff. AO 1977) eigenständige Rechtsgrundlage zur verfahrensrechtlichen Durchführung des Verlustabzugs (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 19. Mai 1999 XI R 97/94, BFHE 189, 63, BStBl II 1999, 762; vom 1. September 1998 VIII R 4/97, BFH/NV 1999, 599). Er erfasst sowohl den erstmaligen Verlustrücktrag, wenn sich in einem späteren Veranlagungszeitraum ein Verlust ergibt, der bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichen werden kann (vgl. "zu gewähren ... ist"), als auch die Korrektur eines bereits gewährten Verlustabzugs, wenn die Voraussetzungen hierfür nicht (mehr) vorliegen (vgl. "zu berichtigen ist"). Der Begriff "berichtigen" ist dabei in einem weiten Sinne zu verstehen (vgl. z.B. BFH in BFH/NV 1999, 599; von Groll in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, § 10d Rdnr. B 395).

Da im Streitfall nach Wegfall der Forderungsabschreibung im Veranlagungszeitraum 1989 für 1989 kein nicht ausgeglichener Verlust mehr vorhanden war, entfielen die Voraussetzungen für einen Verlustrücktrag nach § 10d Satz 1 EStG a.F. Das FA musste daher insoweit den angefochtenen Einkommensteuerbescheid 1987 durch Streichung des Verlustrücktrages ändern.

b) Die Änderung der Einkommensteuerfestsetzung für 1987 war auch nicht wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 unzulässig, denn die Verjährungsfrist für 1987 endete nach § 10d Satz 3 EStG a.F. nicht, bevor die Verjährungsfrist des Veranlagungszeitraums abgelaufen war, in dem Verluste nicht ausgeglichen wurden. Unter Verjährungsfrist in diesem Sinne ist die Festsetzungsfrist zu verstehen (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 4. November 1992 XI R 9/92, BFHE 169, 365, BStBl II 1993, 231).

aa) Die Hemmung des Ablaufs der Festsetzungsfrist für die Einkommensteuer 1987 ergibt sich aus dem Wortlaut des § 10d Satz 3 EStG a.F. und dessen Sinn und Zweck. Danach knüpft § 10d Satz 3 EStG a.F. an die Verjährungsfrist des Veranlagungszeitraums, in dem "Verluste nicht ausgeglichen werden" an (vgl. hierzu z.B. BFH in BFHE 169, 365, BStBl II 1993, 231; BFH-Beschluss vom 27. Oktober 1994 I B 59/94, BFH/NV 1995, 589). Dies ist im Streitfall das Jahr 1989. Die bisher 1989 angesetzten Verluste werden insoweit nicht ausgeglichen, als sie -wie sich im Nachhinein herausgestellt hat- tatsächlich nicht entstanden sind. Wie aus § 10d Satz 2 EStG a.F. folgt, erfasst die Regelung die Gewährung, aber auch die Berichtigung des Verlustabzugs.

Die Vorschrift des § 10d Sätze 2 und 3 EStG a.F. bezweckt die vollständige und richtige Verwirklichung des Verlustabzugs. Sie stellt die Rechtmäßigkeit des Bescheides vor das Vertrauen in dessen Bestand. Steuerbescheide für vorangegangene Veranlagungszeiträume sind danach zu berichtigen, wenn ein Verlustrücktrag gewährt wurde, materiell-rechtlich aber keine "nicht ausgeglichenen Verluste" verblieben sind (vgl. z.B. BFH in BFH/NV 1999, 599; BFH-Urteil vom 11. November 1993 XI R 12/93, BFH/NV 1994, 710; von Groll in Kirchhof/Söhn, a.a.O., § 10d Rdnr. B 391; vgl. z.B. BFH-Urteil vom 14. November 1989 VIII R 209/85, BFHE 160, 219, BStBl II 1990, 620). Wollte man in Fällen, in denen sich statt des ursprünglich angenommenen "nicht ausgeglichenen" und zurückgetragenen Verlustes ein Gewinn ergibt oder die Verluste ausgeglichen werden, eine Ablaufhemmung i.S. des § 10d Satz 3 EStG a.F. verneinen, so würde dies zu widersinnigen und zufälligen Ergebnissen führen. So wäre der Fristablauf zwar gehemmt, wenn der bisherige nicht ausgeglichene Verlust sich nur verringern würde, möglicherweise auf nur 1 DM, nicht aber, wenn sich statt seiner ein Gewinn ergäbe. Dieses Gesetzesverständnis wäre mit Sinn und Zweck der Regelung der Änderung des Verlustabzugs nicht in Einklang zu bringen.

bb) Im Streitfall war die Verjährungsfrist für den Steueranspruch 1989 noch nicht abgelaufen. Dies folgt aus § 174 Abs. 4 Satz 3 AO 1977. Zwar lässt diese Norm dem Wortlaut nach den Ablauf der Festsetzungsfrist unberührt (vgl.: "Der Ablauf der Festsetzungsfrist ist unbeachtlich, wenn ..."). Gleichwohl eröffnet die an den Erlass des Änderungsbescheides i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 anknüpfende Jahresfrist einen neuen Fristlauf, innerhalb dessen die Rechtsfolge eines Ablaufs der Festsetzungsfrist, nämlich die Unzulässigkeit jeglicher Steuerfestsetzung (vgl. § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) nicht eintritt (vgl. z.B. Frotscher in Schwarz, a.a.O., § 174 Rdnr. 71 b). Für die Anwendung des § 10d Satz 3 EStG a.F. gilt bei der Änderung der Steuerfestsetzung für das (bisherige) Verlustentstehungsjahr nach § 174 Abs. 4 AO 1977 nichts anderes.