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  BFH-Urteil vom 17.6.2004 (V R 61/00) BStBl. 2004 II S. 970

Bei richtlinienkonformer Auslegung der Vorschriften des § 18 Abs. 8 UStG 1993, §§ 51 ff. UStDV 1993 ist die Vorschrift des § 52 Abs. 2 UStDV 1993 (Nullregelung) anwendbar, soweit der Leistungsempfänger entsprechend den Bestimmungen der Richtlinie 77/388/EWG Steuerschuldner ist und den Vorsteuerabzug geltend machen kann.

UStG 1993 § 18 Abs. 8; UStDV 1993 §§ 51 ff., § 52 Abs. 2, § 55; Richtlinie 77/388/EWG Art. 17, Art. 21 Nr. 1.

(Nachfolgeentscheidung zum EuGH-Urteil vom 1. April 2004 Rs. C-90/02, Gerhard Bockemühl)

Vorinstanz: FG Köln vom 18. Juli 2000 8 K 3099/97 (EFG 2001, 466)

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betreibt ein Bauunternehmen (Hochbau, Brücken- und Tunnelbau u.ä.). Er setzte im Streitjahr (1995) englische Bauarbeiter ein. Diese waren ihm unter der Firma "Jaylink Bau Ltd. Building Contractors" zur Verfügung gestellt worden, die in Holland eine Kontaktadresse unterhielt. Tatsächlich gab es eine am 21. Mai 1992 in das englische Handelsregister eingetragene "Jaylink Building Contractors Ltd.", deren eingetragener Sitz sich nach den Ermittlungen des Bundesamts für Finanzen (BfF) bei einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft unter der Adresse "22 South Audley Street Mayfair GB - London WIY5 ON" befunden haben soll; lt. BfF handelte es sich um eine "Sitzgesellschaft" ohne Eintragungen in den lokalen Telefonverzeichnissen.

Die von den Bauarbeitern verrichteten Arbeiten wurden dem Kläger unter der oben genannten Firma (Jaylink Bau Ltd. Building Contractors) in Rechnung gestellt; die Rechnungen wiesen eine englische Umsatzsteuer-Identifikationsnummer und ein deutsches Bankkonto aus; in den Rechnungen wurde keine Umsatzsteuer ausgewiesen, vielmehr enthielten sie den Vermerk "Nullregelung Par. 52 UStDV vereinbart". Die Rechnungen gaben zunächst die Adresse 22 South Audley Street Mayfair, London W1Y 5DN und später die Adresse 7-12 Tavistock Square London WC1H 9BQ an.

Nach einer Betriebsprüfung ging der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) davon aus, dass die in Rechnung gestellten Leistungen nicht von der dort genannten Ltd., sondern von einem dritten unbekannten Unternehmen ausgeführt worden seien, und nahm den Kläger für die Umsatzsteuer dieses Unternehmers (17.219,17 DM) gemäß § 55 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung (UStDV 1993) in Haftung (Haftungsbescheid vom 23. August 1996).

Das Finanzgericht (FG) gab der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage statt, es hatte keine "vernünftigen Zweifel daran, dass die Identität zwischen Rechnungsaussteller und leistenden Unternehmer gegeben ist".

Hiergegen wendet sich das FA mit der vorliegenden Revision.

Mit Beschluss vom 22. November 2001 V R 61/00 (BFHE 197, 322, BFH/NV 2002, 734, Umsatzsteuer-Rundschau - UR - 2002, 226) hat der Senat das Verfahren gemäß § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) gemäß Art. 234 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften (EG) folgende Fragen zur Auslegung der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) vorgelegt:

"1. Muss der Empfänger von Dienstleistungen, der gemäß Art. 21 Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG Steuerschuldner und als solcher in Anspruch genommen worden ist, um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 77/388/EWG eine nach Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 77/388/EWG ausgestellte Rechnung besitzen?

2. Falls diese Frage zu bejahen ist: Welche Angaben muss die Rechnung enthalten? Ist es schädlich, wenn statt der Gestellung von Personal die mit Hilfe dieses Personals erstellten Gewerke als Leistungsgegenstand bezeichnet werden?

3. Welche Rechtsfolgen hätten nicht behebbare Zweifel daran, dass der Rechnungsaussteller die berechnete Leistung erbracht hat?"

Der EuGH hat hierauf mit Urteil vom 1. April 2004 Rs. C-90/02, Gerhard Bockemühl (Umsatzsteuer- und Verkehrsteuer-Recht - UVR - 2004, 197) geantwortet:

"Ein Steuerpflichtiger, der nach Artikel 21 Nummer 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der Fassung der Richtlinien 91/680/EWG des Rates vom 16. Dezember 1991 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388 im Hinblick auf die Beseitigung der Steuergrenzen und 92/111/EWG des Rates vom 14. Dezember 1992 zur Änderung der Richtlinie 77/388 und zur Einführung von Vereinfachungsmaßnahmen im Bereich der Mehrwertsteuer als Empfänger einer Dienstleistung die darauf entfallende Mehrwertsteuer schuldet, braucht für die Ausübung seines Vorsteuerabzugsrechts keine nach Artikel 22 Absatz 3 der Sechsten Richtlinie ausgestellte Rechnung zu besitzen."

Das FA meint, diese Entscheidung trage nichts zur Entscheidungsfindung im vorliegenden Verfahren bei. Die Frage, ob eine Rechnung, die den Anforderungen des § 14 des Umsatzsteuergesetzes (UStG 1993) genüge, ausnahmsweise entbehrlich sei, sei für den vorliegenden Rechtsstreit unerheblich. Denn hier liege bereits eine Rechnung vor. Diese berechtige jedoch nicht zum Vorsteuerabzug bzw. zur Anwendung der Nullregelung, da es sich hierbei nicht um eine Rechnung des Leistenden handele, sondern um die einer am Leistungsaustausch unbeteiligten Briefkastenfirma. Nach dem Urteil des EuGH sei eine Rechnung auch nur bei Verlagerung der Steuerschuld entbehrlich. Die im Streitjahr 1995 geltenden Vorschriften hätten jedoch keine Verlagerung der Steuerschuld bewirkt, sondern lediglich eine Verpflichtung des Leistungsempfängers zur Einbehaltung und Abführung der ausgewiesenen Umsatzsteuer. Der Kläger könne sich auch nicht auf die Nullregelung des § 52 Abs. 2 UStDV 1993 berufen, da diese nicht für Dreiecksverhältnisse gelte, in denen einer leiste, einer die Leistung empfange und ein Dritter die Rechnung ausstelle. Die Anwendung der Nullregelung dürfe den Leistungsempfänger eines ausländischen Leistenden nicht besser stellen als den Leistungsempfänger eines inländischen Leistenden. Bei einem Leistungsaustausch zwischen inländischen Unternehmern sei aber eine Identität zwischen Leistendem und Rechnungsaussteller erforderlich.

Das FA beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger ist der Revision entgegengetreten.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet. Die Vorentscheidung hält den Angriffen der Revision stand.

1. Nach § 18 Abs. 8 UStG 1993, § 51 Abs. 1 Satz 1 UStDV 1993 hat der Leistungsempfänger für die Werklieferungen und die sonstigen Leistungen eines im Ausland ansässigen Unternehmers die Umsatzsteuer einzubehalten und abzuführen. Er haftet für diese Steuer (§ 55 UStDV 1993). Dies gilt aber nicht, wenn der Unternehmer keine Rechnung mit gesondertem Ausweis der Steuer erteilt hat, und der Leistungsempfänger im Fall des gesonderten Ausweises der Steuer den Vorsteuerabzug hinsichtlich dieser Steuer voll in Abzug nehmen kann (sog. Nullregelung gemäß § 52 Abs. 2 UStDV 1993).

Entgegen der Ansicht des FA waren die Voraussetzungen des § 52 Abs. 2 UStDV 1993 erfüllt.

Unstreitig hat ein im Ausland ansässiger Unternehmer die Leistungen, um die es hier geht, an den Kläger erbracht. In diesem Zusammenhang ist gleichgültig, ob die "Jaylink Building Contractors Ltd." der leistende Unternehmer war, oder ob dieser sich lediglich des Firmennamens der Gesellschaft bediente. In beiden Fällen ist mit dem FG davon auszugehen, dass leistender Unternehmer und Rechnungsaussteller identisch waren; im Übrigen kommt es entgegen der Auffassung des FA hierauf nicht an. Wie der Senat im Vorlagebeschluss vom 22. November 2001 näher ausgeführt hat, kann auch dahinstehen, ob die Leistungen des ausländischen Unternehmers die Gestellung von Personal oder die abgerechneten Bauarbeiten zum Gegenstand hatten, weil in jedem Fall der Leistungsort in Deutschland liegt.

Der im Ausland ansässige Unternehmer hat keine Rechnung mit gesondertem Ausweis der Steuer erteilt.

Der Kläger hätte auch bei Erteilung einer Rechnung mit gesondertem Ausweis der Steuer den Vorsteuerabzug hinsichtlich dieser Steuer voll in Abzug nehmen können, da in diesem Fall sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen des § 15 UStG 1993 erfüllt wären.

2. Die Anwendung der sog. Nullregelung des § 52 Abs. 2 UStDV 1993 widerspricht nicht den Zielvorgaben der Richtlinie 77/388/EWG, ist vielmehr in richtlinienkonformer Auslegung dieser Vorschrift geboten. Sie stellt den Kläger im Ergebnis so, wie er nach der Richtlinie zu stellen ist: Er ist zwar gemäß Art. 21 der Richtlinie 77/388/EWG der Steuerschuldner gegenüber dem Fiskus für die von ihm bezogene Leistung; gleichzeitig ist er aber auch nach Art. 17 der Richtlinie 77/388/EWG zum Vorsteuerabzug berechtigt, so dass sich die geschuldete Umsatzsteuer und die Vorsteuer ausgleichen.

Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts, für das Richtlinien der EG bestehen, ergibt sich bereits daraus, dass der nationale Gesetzgeber regelmäßig mit dem Erlass der nationalen Normen die Vorgaben der Richtlinie umsetzen will; sie folgt aber auch aus der gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung der Gerichte und der sonstigen Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten alle zur Erreichung des durch eine Richtlinie vorgeschriebenen Zieles erforderlichen Maßnahmen zu treffen (ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. z.B. Urteil vom 18. Dezember 1997 Rs. C-129/96, Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Randnr. 40).

Dass der Gesetzgeber mit dem Abzugsverfahren nach § 18 Abs. 8 UStG 1993, §§ 51 ff. UStDV 1993 ff. den Vorgaben der Richtlinie 77/388/EWG nachkommen wollte, ergibt sich aus der Gesetzesbegründung zu § 18 Abs. 8 UStG 1980 (BRDrucks 145/78 S. 60 vom 15. März 1978 und BTDrucks 8/1779). Dort heißt es: "Das Besteuerungsverfahren ist durch Art. 22 der 6. Richtlinie gedeckt. Die Ermächtigung für die Erhebung der Umsatzsteuer im Abzugsverfahren (Abs. 8) beruht auf Art. 21 der 6. Richtlinie."

Wie der Senat bereits im Vorlagebeschluss vom 22. November 2001 ausgeführt hat, mag es zwar sein, dass das Abzugsverfahren nicht in vollem Umfang gemeinschaftsrechtskonform ist. Dies entbindet den Senat aber nicht von der Pflicht, die Vorschriften über das Abzugsverfahren im Rahmen seiner Zuständigkeiten richtlinienkonform auszulegen. Er bleibt deshalb bei seiner Ansicht, dass die Vorschrift des § 52 Abs. 2 UStDV 1993 (Nullregelung) anwendbar ist, soweit der Leistungsempfänger entsprechend den Bestimmungen der Richtlinie 77/388/EWG Steuerschuldner ist und den Vorsteuerabzug geltend machen kann.

Wie der Senat im Vorlagebeschluss vom 22. November 2001 weiter ausgeführt hat, war der Kläger gemäß Art. 21 Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG Steuerschuldner für die von ihm bezogene Leistung.

Er war auch nach Art. 17 der Richtlinie 77/388/EWG zum Vorsteuerabzug berechtigt. Auch dies hat der Senat bereits im Vorlagebeschluss vom 22. November 2001 näher ausgeführt. Der EuGH hat dies bestätigt (Randnr. 37 und 42 der Vorabentscheidung).

Ferner hat der EuGH entschieden, dass ein Steuerpflichtiger, der nach Art. 21 Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG (in der im Streitjahr geltenden Fassung) als Empfänger einer Dienstleistung die darauf entfallende Mehrwertsteuer schuldet, im Rahmen eines Verfahrens der Steuerschuldverlagerung für die Ausübung seines Vorsteuerabzugsrechts keine nach Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 77/388/EWG ausgestellte Rechnung zu besitzen braucht.

Es kommt deshalb auch nicht darauf an, ob die dem Kläger erteilte Rechnung den Anforderungen des Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie 77/388/EWG (in der im Streitjahr geltenden Fassung) genügt.

In diesem Zusammenhang geht der EuGH zunächst allgemein auf die Bedeutung der Rechnung für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug gemäß Art. 18 der Richtlinie 77/388/EWG ein, um dann wörtlich fortzufahren:

"51 In diesem Zusammenhang erfüllt eine Rechnung zwar eine wichtige Dokumentationsfunktion, da sie überprüfbare Angaben enthalten kann. Im Falle einer Steuerschuldverlagerung müsste jedoch die Feststellung, dass und in welcher Höhe der Steuerpflichtige, der Empfänger einer Lieferung oder einer Dienstleistung ist, Mehrwertsteuer schuldet, gerade auf der Grundlage überprüfbarer Angaben getroffen worden sein. Verfügt die Steuerverwaltung über die Angaben, die für die Feststellung erforderlich sind, dass der Steuerpflichtige als Empfänger der fraglichen Leistung die Mehrwertsteuer schuldet, so darf sie hinsichtlich des Rechts des Steuerpflichtigen auf Abzug der Mehrwertsteuer keine zusätzlichen Voraussetzungen festlegen, die die Ausübung dieses Rechts verhindern können.

52 Wenn also ein Steuerpflichtiger als Empfänger einer Dienstleistung zum Schuldner der darauf entfallenden Mehrwertsteuer bestimmt wird, kann die Steuerverwaltung nicht als zusätzliche Voraussetzung für das Vorsteuerabzugsrecht verlangen, dass er eine nach Artikel 22 Absatz 3 der Sechsten Richtlinie ausgestellte Rechnung besitzt. Ein derartiges Erfordernis würde nämlich dazu führen, dass der Steuerpflichtige einerseits als Dienstleistungsempfänger die entsprechende Mehrwertsteuer schuldet, andererseits aber Gefahr läuft, diese nicht abziehen zu können."

3. Bei richtlinienkonformer Auslegung der §§ 51 ff. UStDV 1993 ist die Haftung des Leistungsempfängers nach § 55 UStDV 1993 und seine Steuerschuldnerschaft nach Art. 21 Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG weitgehend gleich zu behandeln. Demzufolge ist die Vorschrift des § 52 Abs. 2 UStDV 1993 (Nullregelung) jedenfalls anwendbar, soweit der Empfänger einer Dienstleistung nach Art. 21 Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG die darauf entfallende Mehrwertsteuer schuldet und nach Art. 17 der Richtlinie 77/388/EWG zum Vorsteuerabzug berechtigt ist.

Das Vorgehen des FA, das den Kläger einerseits in Kenntnis der für die Inanspruchnahme als Steuerschuldner erforderlichen Umstände für die Umsatzsteuer in Haftung nehmen will, die auf die von ihm bezogenen Leistungen entfällt, andererseits aber ihm den entsprechenden Vorsteuerabzug verweigert, ist mit den Vorgaben der Richtlinie 77/388/EWG und der Vorabentscheidung des EuGH nicht vereinbar. Sie verhindert, dass die wirtschaftlichen Tätigkeiten des Klägers in steuerlich neutraler Weise belastet werden.