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  BFH-Urteil vom 19.1.2005 (X R 14/04) BStBl. 2005 II S. 242

Die Anfechtung eines Grundlagenbescheids mit Einspruch oder Klage führt nicht dazu, dass die für die Festsetzung der Folgesteuern maßgebende Festsetzungsfrist bis zur Unanfechtbarkeit des (geänderten) Feststellungsbescheids gehemmt wird.

AO 1977 § 171 Abs. 10 Satz 1, § 171 Abs. 3a, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1.

Vorinstanz: FG Berlin vom 6. Februar 2004 3 K 3322/03 (EFG 2004, 864)

Sachverhalt

I.

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Ehegatten, die für die Streitjahre (1992 sowie 1994 bis 1997) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden. Der Kläger war an einer GbR beteiligt, die beim Finanzamt T steuerlich geführt wurde. Im Anschluss an eine Betriebsprüfung erließ das Finanzamt T am 11. Mai 2001 unter Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung geänderte Bescheide über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen für die Jahre 1994 bis 1998 und teilte die geänderten Besteuerungsgrundlagen dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) mit. Die Feststellungsbescheide wurden nach Rücknahme der gegen sie beim Finanzgericht (FG) eingelegten Klage am 17. September 2003 bestandskräftig.

Mit Bescheiden vom 18. Juni 2003 und vom 3. Juli 2003 änderte das FA die Einkommensteuerbescheide des Klägers für die Jahre 1994 bis 1997 nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) und mit Bescheid vom 18. Juni 2003 den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1992 nach § 10d Abs. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG), weil wegen der Änderung der Steuerfestsetzung für das Jahr 1994 ein auf das Jahr 1992 rücktragbarer Verlust weggefallen war.

Den Einspruch gegen die Änderungsbescheide begründeten die Kläger damit, dass durch die Anfechtung der Grundlagenbescheide zwar die Feststellungsfrist gehemmt werde, nicht aber die Festsetzungsfrist für die Folgebescheide. Im Zeitpunkt des Erlasses der Änderungsbescheide sei die Einkommensteuer der Streitjahre daher festsetzungsverjährt.

Das FG gab der nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage mit in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2004, 864 veröffentlichtem Urteil statt.

Mit der Revision rügt das FA sinngemäß die Verletzung von Verfahrensrecht. Es beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Das FG hat zu Recht erkannt, dass der Anspruch auf Einkommensteuer für die Jahre 1994 bis 1997 am Tag der Absendung der angefochtenen Steuerbescheide infolge Verjährung bereits erloschen war. Da der Verlustrücktrag aus 1994 in Höhe von 26.370 DM wegen der Aufhebung des Einkommensteuerbescheids für das Jahr 1994 vom 18. Juni 2003 nicht weggefallen ist, hat das FG auch den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1992 vom 18. Juni 2003 zu Recht aufgehoben.

1. Die reguläre Frist zur (geänderten) Festsetzung der Einkommensteuer für die Jahre 1994 bis 1997 wäre nach den nicht angegriffenen Feststellungen des FG vor dem 1. Januar 2003 abgelaufen. Dieser Fristablauf wurde gemäß § 171 Abs. 10 Satz 1 AO 1977 bis zum Ablauf von zwei Jahren nach Bekanntgabe der - im Anschluss an die bei der GbR durchgeführten Außenprüfung erlassenen - geänderten einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellungsbescheide vom 11. Mai 2001 (Grundlagenbescheide; §§ 180 Abs. 1 Nr. 2a, 182 AO 1977) gehemmt. Da die von den Klägern angefochtenen (geänderten) Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1994 bis 1997 jedoch nicht innerhalb dieser Frist (vgl. § 108 Abs. 1 AO 1977 i.V.m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs - BGB -), sondern erst am 18. Juni 2003 bzw. 3. Juli 2003 das FA verlassen haben (§ 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977), wären sie nur dann rechtmäßig, wenn sich aus der Regelung des § 171 Abs. 3a AO 1977 i.d.F. des Steuerbereinigungsgesetzes 1999 vom 22. Dezember 1999 (BGBl I 1999, 2601) ergäbe, dass immer dann, wenn der Grundlagenbescheid mit Einspruch oder Klage angefochten wird, nicht nur die für die Feststellung der Besteuerungsgrundlagen geltende Feststellungsfrist, sondern auch die für die Festsetzung der Folgesteuern maßgebende Festsetzungsfrist bis zur Unanfechtbarkeit dieser (geänderten) Feststellungsbescheide (hier: Bescheide über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen für die Jahre 1994 bis 1997) gehemmt wird.

2. Mit der Vorinstanz und der herrschenden Meinung in der Literatur (vgl. Söhn, Deutsche Steuer-Zeitung - DStZ - 2002, 811; Goutier, Die Steuerberatung - Stbg - 2003, 58; Kamps, Deutsches Steuerrecht - DStR - 2003, 1273; Klein/Rüsken, Abgabenordnung, 8. Aufl. 2003, § 171 Rz. 99; a.A. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 171 AO 1977 Rz. 97; FG Baden-Württemberg, Urteil vom 25. April 2002 14 K 8/00, EFG 2002, 1069) ist der Senat der Auffassung, dass die Anfechtung eines Grundlagenbescheids mit Einspruch oder Klage den Ablauf der Frist für die Festsetzung der Folgesteuern gemäß § 171 Abs. 10 AO 1977 nicht hemmt.

a) Werden Besteuerungsgrundlagen gesondert festgestellt, tritt die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 10 Satz 1 AO 1977 unabhängig davon ein, ob ein Grundlagenbescheid ergangen ist oder nicht, d.h. die Hemmung der Festsetzungsfrist für die Folgesteuern knüpft an die bloße Möglichkeit an, dass ein Grundlagenbescheid ergeht, aufgehoben oder geändert wird; sie setzt kein reales Ereignis voraus (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 17. Februar 1993 II R 15/91, BFH/NV 1994, 1; BFH-Beschluss vom 12. Februar 1998 III B 82/97, BFH/NV 1998, 937).

b) Für den Fristbeginn gemäß § 171 Abs. 10 Satz 1 AO 1977 ist nach seinem Wortlaut maßgebend die Bekanntgabe des Grundlagenbescheids (§ 122 AO 1977) an den/die Adressaten (Tipke/Kruse, a.a.O., § 171 AO 1977 Rz. 96) und somit das Wirksamwerden des Grundlagenbescheids (§ 124 AO 1977). Der Fristbeginn setzt daher nicht voraus, dass der Grundlagenbescheid unanfechtbar geworden wäre (vgl. § 182 Abs. 1 Satz 1 AO 1977; Hartmann in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 171 AO 1977 Rz. 86; Tipke/Kruse, a.a.O., § 171 AO 1977 Rz. 97; Ruban in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 171 AO 1977 Rz. 118; Klein/Rüsken, a.a.O., § 171 Rz. 99).

c) Das Ende der Ablaufhemmung wird nach § 171 Abs. 10 AO 1977 allein durch die Bekanntgabe des Grundlagenbescheids bestimmt. Eine Anfechtung des Grundlagenbescheids führt lediglich zur Hemmung der Feststellungsfrist (§ 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 i.V.m. § 171 Abs. 3a AO 1977), nicht aber zur Hemmung der Frist für die Festsetzung der von ihm abhängigen Folgesteuern (Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 171 AO 1977 Rz. 118). Deshalb kann die Anpassung des Folgebescheids an den Grundlagenbescheid nur innerhalb von zwei Jahren nach dessen Bekanntgabe erfolgen.

Dem Umstand, dass Feststellungs- und Festsetzungsverjährung zu unterschiedlichen Zeitpunkten enden können, die besondere Feststellungsverjährung jedoch nicht dazu führen soll, dass die in § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 angeordnete Anpassung des Folgebescheids an den Grundlagenbescheid am Ablauf der Festsetzungsfrist scheitert, hat der Gesetzgeber durch die Regelung in § 171 Abs. 10 Satz 1 AO 1977 hinreichend Rechnung getragen. Die Zwei-Jahres-Frist gewährleistet, dass der Finanzbehörde eine ausreichende Zeit für die Auswertung der Feststellungen eines Grundlagenbescheids im Folgebescheid zur Verfügung steht. Eine möglicherweise wünschenswerte Anknüpfung der Ablaufhemmung des § 171 Abs. 10 Satz 1 AO 1977 an die Bestandskraft des Grundlagenbescheids (vgl. Söhn, DStZ 2002, 811) müsste gesetzlich geregelt werden.

Der Ablauf der Festsetzungsfrist für die Folgesteuer wird gehemmt, soweit und solange in offener Feststellungsfrist ein Grundlagenbescheid, der für die Festsetzung der Folgesteuer bindend ist, noch zulässig ergehen kann. Ist aber ein Grundlagenbescheid ergangen, gewährt § 171 Abs. 10 Satz 1 AO 1977 immer nur eine maximale Auswertungsfrist von zwei Jahren nach Wirksamwerden des (ergangenen) Grundlagenbescheids (vgl. Söhn, DStZ 2002, 811). Davon geht auch die amtliche Begründung zu § 171 Abs. 10 AO 1977 in der ursprünglichen Fassung aus, wonach die für die Steuerfestsetzung geltende Festsetzungsfrist bis zum Ablauf (seinerzeit noch) eines Jahres nach Bekanntgabe des Grundlagenbescheids gehemmt und dadurch eine ausreichende Frist für die Auswertung des Grundlagenbescheids eingeräumt wird (BTDrucks VI/1982, 152, bzw. BTDrucks 13/5952, 55 f.). Der Anwendungserlass zur Abgabenordnung (zu § 171 - Ablaufhemmung: Tz. 6 Abs. 1 Satz 4) hält den Zeitpunkt, in dem der Grundlagenbescheid unanfechtbar geworden ist, für die Fristbestimmung nach § 171 Abs. 10 Satz 1 AO 1977 für unbeachtlich.

d) Die Bestätigung des angefochtenen Grundlagenbescheids im Einspruchsverfahren hat ebenso wie die Rücknahme der Klage gegen den Grundlagenbescheid keine Anpassungspflicht nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 ausgelöst und wirkt auch nicht gemäß § 171 Abs. 10 Satz 1 AO 1977 auf den Lauf der Festsetzungsfrist für den Folgebescheid ein (vgl. zur Wiederholung des Regelungsgehalts eines Grundlagenbescheids in einem gleichartigen Steuerverwaltungsakt Senatsurteil vom 13. Dezember 2000 X R 42/96, BFHE 194, 305, BStBl II 2001, 471). Nur wenn die Feststellungen im Grundlagenbescheid im Feststellungs-, Einspruchs- oder Klageverfahren geändert worden wären, hätte dies eine erneute Anpassungspflicht nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 ausgelöst. Nur dann hätte erneut die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 10 Satz 1 AO 1977 gegriffen mit der Folge, dass wiederum innerhalb einer Frist von maximal zwei Jahren nach Bekanntgabe des geänderten Feststellungsbescheids die Anpassung des Folgebescheids möglich gewesen wäre.

3. Zutreffend hat das FG auch erkannt, dass die Änderung des Einkommensteuerbescheids für das Jahr 1992 zu Unrecht erfolgt ist, da der Verlustrücktrag aus dem Jahr 1994 wegen der Aufhebung des Einkommensteuerbescheids für das Jahr 1994 vom 18. Juni 2003 nicht weggefallen ist.

4. Der Senat weicht mit seiner Entscheidung vom Urteil des IX. Senats vom 30. November 1999 IX R 41/97 (BFHE 190, 71, BStBl II 2000, 173) ab. Der IX. Senat hat auf Anfrage mitgeteilt, dass er der Abweichung zustimmt.