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BFH-Urteil vom 11.5.2005 (VI R 40/04) BStBl. 2005 II S. 712

Ein Arbeitnehmer kann für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte die höheren Aufwendungen für die an einzelnen Tagen benutzten öffentlichen Verkehrsmittel auch dann in voller Höhe als Werbungskosten abziehen, wenn er für die übrigen Arbeitstage die Entfernungspauschale geltend macht.

EStG § 9 Abs. 2 Satz 2, § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 2.

Vorinstanz: FG München vom 9. Juli 2004 8 K 4370/03 (EFG 2005, 31)

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) erzielte im Streitjahr (2001) Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit. Vom 5. Juni 2001 bis zum 7. Oktober 2001 benutzte er für die Wege von seiner Wohnung in B zur 10 km entfernten Arbeitsstätte in M den eigenen PKW. Sodann verlegte er seinen Wohnsitz nach M in die R-straße. Von dort aus gelangte er ab dem 8. Oktober 2001 an den restlichen Arbeitstagen des Streitjahrs zur nunmehr nur noch 5 km entfernten Arbeitsstätte mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Hierfür entstanden ihm tatsächliche Kosten in Höhe von 240 DM.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) ermittelte die abziehbaren Werbungskosten des Klägers für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte bei dessen Einkommensteuerveranlagung unter Anwendung der Entfernungspauschale (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes - EStG -) mit insgesamt 767 DM, nämlich mit 602 DM für die Wege mit dem eigenen PKW (86 Arbeitstage x 10 km x 0,70 DM) und mit 165 DM für die Wege mit öffentlichen Verkehrsmitteln (47 Arbeitstage x 5 km x 0,70 DM). Die erklärten tatsächlichen Fahrtkosten für den öffentlichen Nahverkehr ließ er unberücksichtigt. Hiergegen erhob der Kläger nach erfolglosem Einspruch Klage, mit der er für die Wege zur Arbeit den Ansatz von Werbungskosten von insgesamt 842 DM begehrte (602 DM für Wege mit dem eigenen PKW und 240 DM für Wege mit öffentlichen Verkehrsmitteln).

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2005, 31 veröffentlichten Gründen statt.

Mit der Revision rügt das FA die Verletzung von § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG: Aus der Formulierung des Gesetzestextes sei zu erkennen, dass die Entfernungspauschale einen auf das Kalenderjahr bezogenen Betrag bilde. Eine Möglichkeit zur zeitanteiligen Vergleichsrechnung zwischen Entfernungspauschale und tatsächlichen Kosten öffentlicher Verkehrsmittel - wie sie das FG angenommen habe - sehe das Gesetz nicht vor; sie widerspreche im Übrigen auch dem vereinfachenden und abgeltenden Regelungszweck der Entfernungspauschale.

Das FA beantragt, das finanzgerichtliche Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger tritt der Revision entgegen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des FA ist unbegründet. Das FG hat die als Werbungskosten abziehbaren Aufwendungen für die Wege des Klägers zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zutreffend ermittelt. Es hat dabei zu Recht die den Entfernungspauschbetrag an einzelnen Arbeitstagen übersteigenden Kosten für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel miteinbezogen.

1. Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 1 EStG sind Werbungskosten auch die Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. Zur Abgeltung dieser Aufwendungen ist nach Satz 2 Halbsatz 1 der Vorschrift für jeden Arbeitstag, an dem der Arbeitnehmer die Arbeitsstätte aufsucht, eine Entfernungspauschale für jeden vollen Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte von (im Streitjahr) 0,70 DM für die ersten zehn Kilometer und 0,80 DM für jeden weiteren Kilometer (jetzt: einheitlich 0,30 € je Kilometer) anzusetzen, höchstens jedoch 10.000 DM (jetzt: 4.500 €) im Kalenderjahr. Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG sind durch die Entfernungspauschalen sämtliche Aufwendungen abgegolten, die durch die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte veranlasst sind. Indes können Aufwendungen für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel angesetzt werden, soweit sie den als Entfernungspauschale abziehbaren Betrag übersteigen (§ 9 Abs. 2 Satz 2 EStG).

2. Ob die für den Weg zur Arbeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln tatsächlich aufgewendeten Fahrtkosten höher sind als der als Entfernungspauschale berechnete Betrag, ist nicht auf das gesamte Kalenderjahr, sondern auf den einzelnen Arbeitstag bezogen zu ermitteln. Das ergibt sich aus dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte sowie aus Sinn und Zweck der Vorschriften über die Entfernungspauschale.

a) § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG bezeichnet als Vergleichsgröße zu den Aufwendungen für öffentliche Verkehrsmittel den "als Entfernungspauschale abziehbaren Betrag". Durch den Gebrauch des Wortes "Entfernungspauschale" im Singular gibt das Gesetz zu erkennen, dass der hierfür ermittelte Betrag tagesbezogen zu berechnen ist. Denn die Entfernungspauschale ist nach dem Gesamtzusammenhang der Regelung begrifflich kein Jahres-, sondern ein Tagesbetrag.

Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 2 EStG wird die einzelne Entfernungspauschale "für jeden Arbeitstag" und damit tageweise berechnet. Dass es sich nicht um einen Jahresbetrag handeln kann, folgt im Übrigen schon daraus, dass der sich als Produkt aus Entfernung der Arbeitsstätte von der Wohnung und pauschalem Kilometersatz ergebende Wert im Laufe des Veranlagungszeitraums Veränderungen unterworfen sein kann, etwa wenn der Steuerpflichtige seine Arbeitsstelle wechselt oder - wie im Streitfall - umzieht.

Unter einer "Entfernungspauschale" ist auch nicht die Jahressumme aller einzeln ermittelten und ggf. unterschiedlich hohen Tagesbeträge zu verstehen. Von diesem Verständnis des Wortlauts geht offenbar das FA aus. Gegen eine solche Auslegung spricht indessen § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 5 EStG (in der im Streitjahr geltenden Fassung; jetzt Satz 4 der Vorschrift). Danach ist im Rahmen der doppelten Haushaltsführung der Begriff der Entfernungspauschale erkennbar ausschließlich auf die einzelne Familienheimfahrt bezogen und offenkundig keine Jahresgröße. Für eine abweichende Betrachtung bei den Wegen zwischen Wohnung und Arbeitsstätte besteht kein Anlass.

b) Dies entspricht auch dem Verständnis der gesetzgebenden Körperschaften. Der Gesetzgeber hat § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 2 Halbsatz 1 EStG durch das Steueränderungsgesetz 2001 (StÄndG 2001) vom 20. Dezember 2001 (BGBl I 2001, 3794, BStBl I 2002, 4) nachträglich um die Worte "im Kalenderjahr" ergänzt, um damit zu verdeutlichen, dass der Höchstbetrag für die steuerliche Berücksichtigung der Entfernungspauschale von 10.000 DM als Jahresbetrag zu verstehen ist. Die Einfügung lässt sich nach den dazu veröffentlichten Materialien nur aus der Vorstellung erklären, dass es sich bei der einzelnen Entfernungspauschale dem Wortlaut und dem Textzusammenhang nach um einen tageweise zu ermittelnden Betrag handeln soll (vgl. ausdrücklich die Stellungnahme des Bundesrats vom 13. Juli 2001 zum Entwurf des StÄndG 2001, BRDrucks 399/01 - Beschluss -, S. 6, aufgegriffen im Bericht des Bundestags-Finanzausschusses vom 8. November 2001, BTDrucks 14/7341, S. 10). Von einer entsprechenden Ergänzung des § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG hat der Gesetzgeber hingegen abgesehen.

c) Die durch das Gesetz zur Einführung einer Entfernungspauschale vom 21. Dezember 2000 (BGBl I 2000, 1918, BStBl I 2001, 36) geänderte Abziehbarkeit der Aufwendungen für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte ist im Wesentlichen auf umwelt- und verkehrspolitische Erwägungen zurückzuführen. Es ging dem Gesetzgeber darum, eine Gleichheit im Wettbewerb zwischen den Verkehrsträgern herzustellen und die Ausgangslage für den öffentlichen Personennahverkehr zu verbessern (vgl. die Begründung zum Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen, BTDrucks 14/4242, S. 5 ff.) Die Benutzung von Kraftfahrzeugen sollte fortan insbesondere dann nicht mehr bevorzugt werden, wenn die Kosten für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel niedriger sind. Hingegen sollte es weiterhin möglich bleiben, im Kurzstreckenbereich, in dem die Kosten für den öffentlichen Personennahverkehr höher sein können, die tatsächlichen Kosten abzuziehen.

d) Diese gesetzgeberische Zielvorstellung gestattet es nicht, § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG mit dem FA so auszulegen, dass die tatsächlichen Kosten für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel erst dann angesetzt werden können, wenn sie die Summe sämtlicher im Kalenderjahr als Entfernungspauschale abziehbarer Beträge überschreiten.

Eine derartige Betrachtung würde dem Steuerpflichtigen nämlich den vollständigen Abzug der tatsächlichen Fahrtkosten für Bus und Bahn in bestimmten Fällen schon dann versagen, wenn er den öffentlichen Nahverkehr - wofür praktische Gründe sprechen können - nicht an sämtlichen Arbeitstagen des Kalenderjahres benutzt hat. Außerdem wäre dem Steuerpflichtigen damit ein wesentlicher Anreiz genommen, zumindest an einzelnen Tagen, Wochen oder Monaten eines laufenden Veranlagungszeitraums vom eigenen PKW auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen, wenn die ihm dadurch entstehenden Aufwendungen von der Entfernungspauschale nicht in vollem Umfang abgedeckt werden. Dieser Effekt ergäbe sich vor allem im Kurzstreckenbereich und damit insbesondere in den durch den Individualverkehr besonders stark belasteten Ballungsräumen. Dadurch würde die mit der Entfernungspauschale bezweckte Lenkungs- und Förderungswirkung zumindest teilweise verfehlt.

3. § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG lässt daher - wie das FG zu Recht angenommen hat - den Ansatz von höheren Aufwendungen für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel anstelle der Entfernungspauschale für einzelne Arbeitstage zu (ebenso: von Beckerath in Kirchhof, Einkommensteuergesetz, 5. Aufl., § 9 Rn. 231; Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz, Kommentar, § 9 EStG Anm. 632; Hartz/ Meeßen/Wolf, ABC-Führer Lohnsteuer, Stichwort Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, Tz. 83).