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EuGH-Urteil vom 15.9.2005 (C-58/04) BStBl. 2007 II S. 150

Leitsatz (vom BMF gebildet)

Aufenthalte eines Schiffes in Häfen von Drittländern, bei denen die Reisenden das Schiff, und sei es nur für kurze Zeit, verlassen können, sind "Zwischenaufenthalte außerhalb der Gemeinschaft" im Sinne des Artikels 8 Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Umsatzsteuern in der Fassung der Richtlinie 92/111; diese Bestimmung sieht als steuerlichen Anknüpfungspunkt für Lieferungen von Gegenständen, die an Bord eines Schiffes, eines Flugzeugs oder in einer Eisenbahn und während des innerhalb der Gemeinschaft stattfindenden Teils einer Beförderung erfolgen, den Abgangsort der Beförderung vor, wenn der Teil der Beförderung zwischen Abgangsort und Ankunftsort ohne Zwischenaufenthalt außerhalb der Gemeinschaft erfolgt.

6. EG-Richtlinie Art. 8 Abs. 1 Buchst. c; UStG § 3e, § 3 Abs. 5 und 6, § 1 Abs. 1 Nr. 1.

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Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Begriffes „Zwischenaufenthalt außerhalb der Gemeinschaft“ im Sinne von Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 92/111/EWG des Rates vom 14. Dezember 1992 zur Änderung der Richtlinie 77/388 und zur Einführung von Vereinfachungsmaßnahmen im Bereich der Mehrwertsteuer (ABl. L 384, S. 47) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie).

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Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Köhler und dem Finanzamt betreffend die Steuerbarkeit der von Frau Köhler in ihrer Boutique auf einem Kreuzfahrtschiff getätigten Verkäufe.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

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Artikel 8 der Sechsten Richtlinie sieht vor:

„(1)   Als Ort der Lieferung gilt

b)

für den Fall, dass der Gegenstand nicht versandt oder befördert wird, der Ort, an dem sich der Gegenstand zum Zeitpunkt der Lieferung befindet;

c)

für den Fall, dass die Lieferung von Gegenständen an Bord eines Schiffes, eines Flugzeugs oder in einer Eisenbahn und während des innerhalb der Gemeinschaft stattfindenden Teils einer Beförderung erfolgt, der Abgangsort des Personenbeförderungsmittels.

Im Sinne dieser Bestimmung gilt als:

– ,innerhalb der Gemeinschaft stattfindender Teil einer Beförderung‘ der Teil einer Beförderung zwischen Abgangsort und Ankunftsort des Personenbeförderungsmittels ohne Zwischenaufenthalt außerhalb der Gemeinschaft;

– ,Abgangsort eines Personenbeförderungsmittels‘ der erste Ort innerhalb der Gemeinschaft, an dem Reisende in das Beförderungsmittel einsteigen können, gegebenenfalls nach einem Zwischenaufenthalt außerhalb der Gemeinschaft;

– ,Ankunftszielort eines Personenbeförderungsmittels‘ der letzte Ort innerhalb der Gemeinschaft, an dem in der Gemeinschaft zugestiegene Reisende das Beförderungsmittel verlassen können, gegebenenfalls vor einem Zwischenaufenthalt außerhalb der Gemeinschaft.

…“

Nationales Recht

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Nach § 1 Absatz 1 Nr. 1 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes 1993 (im Folgenden: UStG) unterliegen der Umsatzsteuer die Lieferungen und sonstigen Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt.

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§ 3 Absatz 6 UStG sieht vor:

„Eine Lieferung wird dort ausgeführt, wo sich der Gegenstand zur Zeit der Verschaffung der Verfügungsmacht befindet.“

6

Artikel 3e Absatz 1UStG bestimmt:

„Wird ein Gegenstand, der nicht zum Verzehr an Ort und Stelle bestimmt ist, an Bord eines Schiffes, in einem Luftfahrzeug oder in einer Eisenbahn während einer Beförderung innerhalb des Gemeinschaftsgebiets geliefert, so gilt der Abgangsort des jeweiligen Beförderungsmittels im Gemeinschaftsgebiet als Ort der Lieferung.“

7

Artikel 3e Absatz 2UStG sieht vor:

„Als Beförderung innerhalb des Gemeinschaftsgebiets im Sinne des Absatzes 1 gilt die Beförderung oder der Teil der Beförderung zwischen dem Abgangsort und dem Ankunftsort des Beförderungsmittels im Gemeinschaftsgebiet ohne Zwischenaufenthalt außerhalb des Gemeinschaftsgebiets. Abgangsort im Sinne des Satzes 1 ist der erste Ort innerhalb des Gemeinschaftsgebiets, an dem Reisende in das Beförderungsmittel einsteigen können. Ankunftsort im Sinne des Satzes 1 ist der letzte Ort innerhalb des Gemeinschaftsgebiets, an dem Reisende das Beförderungsmittel verlassen können. Hin‑ und Rückfahrt gelten als gesonderte Beförderungen.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

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Frau Köhler betrieb im Jahre 1994 eine Boutique auf einem Schiff, das Kreuzfahrten durchführte, die in den deutschen Städten Kiel, Bremerhaven oder Travemünde begannen und in Häfen außerhalb des Gemeinschaftsgebiets (Norwegen, Estland, Russland und Marokko) führten, bevor sie in Kiel, Bremerhaven oder Genua (Italien) endeten. Die Reisen konnten nur für die gesamte Kreuzfahrt gebucht werden ohne Zustiegs‑ oder Ausstiegsmöglichkeit während der Reise. Ein kurzzeitiges Verlassen des Schiffes für Zwischenaufenthalte von einigen Stunden oder einem Tag für Besichtigungszwecke war jedoch vorgesehen.

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Das Finanzamt behandelte die in der Boutique von Frau Köhler getätigten Verkäufe als steuerbare Umsätze, da der Abgangs‑ und der Ankunftsort des Schiffes im Gemeinschaftsgebiet lägen. Frau Köhler erhob gegen den entsprechenden Steuerbescheid Klage beim Finanzgericht und machte geltend, dass diese Verkäufe wegen der Zwischenaufenthalte außerhalb des Gemeinschaftsgebiets in Deutschland nicht steuerbar seien.

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Das Finanzgericht wies die Klage ab. Nach seiner Ansicht gelten die Umsätze nicht deshalb als außerhalb des Inlands ausgeführt, weil die Beförderung zwischen Abgangs‑ und Ankunftsorten durch Halte außerhalb des Gemeinschaftsgebiets unterbrochen wurden. Als „Zwischenaufenthalte“ im Sinne von § 3 UStG seien nur Halte anzusehen, bei denen neue Reisende zusteigen oder Reisende das Schiff endgültig verlassen könnten.

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Frau Köhler legte beim Bundesfinanzhof Revision ein, mit der sie diese Auslegung beanstandet.

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Da der Bundesfinanzhof die Auslegung des Begriffes „Zwischenaufenthalt außerhalb der Gemeinschaft“ als entscheidungserheblich ansieht, hat er beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Vorlagefrage vorzulegen:

Sind Aufenthalte eines Schiffes in Häfen von Drittstaaten, bei denen die Reisenden das Schiff nur kurzfristig, z. B. zu Besichtigungen, verlassen können, aber keine Möglichkeit besteht, die Reise zu beginnen oder zu beenden, „Zwischenaufenthalte außerhalb der Gemeinschaft“ im Sinne des Artikels 8 Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie?

Zur Vorlagefrage

Erklärungen vor dem Gerichtshof

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Die deutsche Regierung schlägt vor, die Vorlagefrage zu verneinen. Sie meint, der Begriff des „Zwischenaufenthalts“ sei nicht im engen wörtlichen Sinne auf den Reisenden zu beziehen, der sich irgendwo kurz aufhalte und dann weiterreise.

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Ein „Zwischenaufenthalt“ umfasse die Möglichkeit für die Reisenden, in das Beförderungsmittel ein‑ oder aus ihm auszusteigen, um eine Reise anzutreten oder sie zu beenden. Wäre auch ein Halt des Beförderungsmittels, bei dem die Reisenden das Beförderungsmittel nur kurzzeitig verlassen könnten, als Zwischenaufenthalt aufzufassen, würden Sinn und Zweck der Ortsregelung konterkariert. Bei einer Definition des Begriffes des Zwischenaufenthalts im Sinne der Klägerin könnte die Ortsregelung nach Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie und damit der Besteuerungszweck dieser Regelung (Besteuerung der Bordlieferungen während innergemeinschaftlicher Beförderungen im Gemeinschaftsgebiet) einfach unterlaufen werden. Das Beförderungsmittel und die Strecke des Beförderungsmittels müssten nur so gewählt werden, dass Halte im Drittlandsgebiet möglich seien, bei denen Reisende das Beförderungsmittel kurzzeitig verlassen könnten, ohne jedoch die Möglichkeit zu haben, die Reise planmäßig zu beenden.

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Die Klägerin, die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, und die griechische Regierung sind der Ansicht, dass die Vorlagefrage zu bejahen sei.

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Die Klägerin macht geltend, dass Einsteigen oder Verlassen nicht unbedingt Bestandteile des Zwischenaufenthalts sein müssten. Wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber dies beabsichtigt hätte, hätte er die Begriffe „Einsteigen“, „Aussteigen“ oder „Verlassen“ ausdrücklich verwendet, wie er es bei der Definition der Begriffe „Abgangsort“ und „Ankunftsort“ getan habe. Der Begriff „Zwischenaufenthalt“ müsse im Sinne von Pause, Reiseunterbrechung oder Rast ausgelegt werden.

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Die Kommission ist der Auffassung, dass die Regel des Artikels 8 Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie dann nicht gelten könne, wenn sie mit dem Recht von Drittstaaten kollidieren würde. Die kurzen Zwischenaufenthalte außerhalb der Gemeinschaft unterbrächen den innergemeinschaftlichen Charakter der Beförderung. Immer dann, wenn die Passagiere die Möglichkeit hätten, im Drittland normal besteuerte Einkäufe zu tätigen, müsse die Kompetenz des Mitgliedstaats des Abgangsorts des Personenbeförderungsmittels daher enden, um nicht mit der territorialen Anwendung des Besteuerungsrechts des Drittstaates zu kollidieren.

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Die griechische Regierung ist der Ansicht, wenn ein Schiff einen Zwischenaufenthalt in einem Drittland oder einem Gebiet einlege, das steuerlich nicht zur Gemeinschaft gehöre, begebe es sich in ein Drittland und kehre von dort zurück. Demzufolge müsste den Gegenständen, die in den Ladengeschäften dieser Schiffe verkauft würden, die Steuerbefreiung zugute kommen, die für Reisende aus Drittländern gelte. Dies gelte unter der Voraussetzung, dass die Passagiere die Möglichkeit hätten, das Schiff während des Zwischenaufenthalts in einem Drittland zu verlassen und dort Gegenstände zu kaufen, die, weil sie ausgeführt würden, steuerfrei seien, unabhängig von der Aufenthaltsdauer in dem betreffenden Land und ohne Verpflichtung, die Reise zu beenden.

Antwort des Gerichtshofes

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Da der Begriff „Zwischenaufenthalt“ in der Sechsten Richtlinie nicht genau definiert wird, ist er im Kontext der Systematik und des Zweckes des Artikels 8 Absatz 1 Buchstabe c dieser Richtlinie auszulegen.

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Dieser Artikel gehört zu den Vorschriften der Sechsten Richtlinie über die Bestimmung des Ortes der steuerbaren Umsätze und stellt hinsichtlich der Lieferung von Gegenständen in Absatz 1 Buchstabe b die allgemeine Regel auf, dass für den Fall, dass der Gegenstand nicht versandt oder befördert wird, als Ort der Lieferung der Ort gilt, an dem sich der Gegenstand zum Zeitpunkt der Lieferung befindet.

21

Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe c enthält eine Ausnahme von diesem Territorialitätsgrundsatz. Er sieht vor, dass für den Fall, dass die Lieferung von Gegenständen an Bord eines Schiffes, eines Flugzeugs oder in einer Eisenbahn und während des innerhalb der Gemeinschaft stattfindenden Teils einer Beförderung erfolgt, als Ort der Lieferung von Gegenständen der Abgangsort des Personenbeförderungsmittels gilt.

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Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie soll somit einheitlich den steuerlichen Anknüpfungspunkt für Lieferungen von Gegenständen festlegen, die an Bord eines Schiffes, eines Flugzeugs oder in einer Eisenbahn im Rahmen einer innerhalb des Gemeinschaftsgebiets beginnenden und endenden Reise erfolgen, und beschränkt die Besteuerung während des innerhalb der Gemeinschaft stattfindenden Teils einer Beförderung auf den Abgangsort des Beförderungsmittels. Dadurch wird eine vereinfachte Besteuerungsregelung geschaffen, die die sukzessive Anwendung der nationalen Mehrwertsteuerregelungen der durchquerten Mitgliedstaaten im Laufe der innergemeinschaftlichen Reise und damit Konflikte hinsichtlich der Besteuerungskompetenz der Mitgliedstaaten verhindert.

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Im Übrigen sieht Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie ausdrücklich vor, dass als „innerhalb der Gemeinschaft stattfindender Teil einer Beförderung“ der Teil einer Beförderung zwischen Abgangsort und Ankunftsort des Personenbeförderungsmittels ohne Zwischenaufenthalt außerhalb der Gemeinschaft gilt.

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Dadurch, dass Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie somit bei einem Zwischenaufenthalt außerhalb der Gemeinschaft das Vorliegen eines „innerhalb der Gemeinschaft stattfindende[n] Teil[es] einer Beförderung“ ausschließt, soll er auch in Bezug auf die Steuerregelungen von Drittländern die Gefahr von Kompetenzkonflikten verhindern, die bei Lieferungen von Gegenständen während einer Unterbrechung der innergemeinschaftlichen Reise in Form eines Zwischenaufenthalts außerhalb der Gemeinschaft eintreten würden.

25

Zu diesem Punkt ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof zur Besteuerung von Dienstleistungen an Bord eines Schiffes bereits festgestellt hat, dass die Sechste Richtlinie es den Mitgliedstaaten nicht verwehrt, den Anwendungsbereich ihrer Steuergesetzgebung über ihre Hoheitsgrenzen hinaus auszudehnen, sofern sie nicht in die Kompetenzen anderer Staaten eingreifen (Urteile vom 23. Januar 1986 in der Rechtssache 283/84, Trans Tirreno Express, Slg. 1986, 231, und vom 13. März 1990 in der Rechtssache C‑30/89, Kommission/Frankreich, Slg. 1990, I‑691, Randnr. 18). Diese Erwägungen gelten auch im Zusammenhang mit der Besteuerung der Lieferung von Gegenständen.

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Im Licht der Systematik und des Zweckes des Artikels 8 Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie ist daher festzustellen, dass jede Lieferung von Gegenständen, die auf einem Schiff während eines Zwischenaufenthalts außerhalb der Gemeinschaft erfolgt, als außerhalb des Anwendungsbereichs der Sechsten Richtlinie getätigt gilt; die steuerliche Behandlung der Lieferung von Gegenständen unterliegt in diesem Fall der Besteuerungskompetenz des Staates des Ortes des Zwischenaufenthalts.

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Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Aufenthalte eines Schiffes in Häfen von Drittländern, bei denen die Reisenden das Schiff, und sei es nur für kurze Zeit, verlassen können, „Zwischenaufenthalte außerhalb der Gemeinschaft“ im Sinne des Artikels 8 Absatz 1 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie sind.

Kosten

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Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.