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BFH-Beschluss vom 20.6.2007 (VIII B 50/07) BStBl. 2007 II S. 789

Hat die Finanzbehörde einen bei ihr gestellten, jedoch nicht näher begründeten Antrag auf AdV ohne weitere Sachprüfung abgelehnt, so ist für einen anschließenden, nunmehr aber mit Begründung versehenen Antrag auf AdV an das FG die Zugangsvoraussetzung nach § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO gleichwohl erfüllt (Anschluss an BFH-Beschluss vom 20. August 1998 VI B 157/97, BFHE 186, 341, BStBl II 1998, 744).

FGO § 69 Abs. 4 Satz 1; ZPO § 572 Abs. 3.

Vorinstanz: Niedersächsisches FG vom 14. März 2007 2 V 67/07

Sachverhalt

I.

Im Anschluss an eine Außenprüfung änderte der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) die Einkommensteuerfestsetzungen für 1996 bis 1998 für den Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller).

Der Antragsteller beantragte gleichzeitig mit seinem dagegen eingelegten Einspruch beim FA am 2. Januar 2007 die Aussetzung der Vollziehung (AdV) der geänderten Einkommensteuerbescheide. Beide Rechtsbehelfe begründete er zunächst nicht. Das FA lehnte den Aussetzungsantrag mit Bescheid vom 11. Januar 2007 ab. Zugleich forderte es den Antragsteller zur Begründung seines Einspruchs bis zum 12. Februar 2007 auf. Unter dem 9. Februar 2007 beantragte der Antragsteller beim Finanzgericht (FG) die AdV der Einkommensteueränderungsbescheide 1996 bis 1998 und fügte als Anlage 1.701 Fotokopien zur Begründung bei.

Das FG lehnte den Antrag nach § 69 Abs. 4 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) als unzulässig ab. Zwar habe das FA den Antrag auf AdV abgelehnt. Indes habe es mangels Begründung nicht in der Sache prüfen können, ob die angefochtenen Einkommensteuerbescheide rechtmäßig seien. Sei bei einem Auswechseln der Begründung ein vorheriger erneuter Aussetzungsantrag beim FA erforderlich (dazu Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 13. Dezember 1999 III B 15/99, BFH/NV 2000, 827), so müsse dies erst recht nach Sinn und Zweck der Zugangsvoraussetzung in § 69 Abs. 4 FGO, nämlich die Finanzgerichte zu entlasten, im Falle der Ablehnung eines bei der Behörde überhaupt nicht begründeten Antrags als unzulässig gelten.

Insbesondere könne in einem gerichtlichen Aussetzungsverfahren nicht erstmals ohne größeren Aufwand eine summarische Prüfung vorgenommen werden, wie der BFH im Beschluss vom 20. August 1998 VI B 157/97 (BFHE 186, 341, BStBl II 1998, 744) ausführe.

Mit der vom FG zugelassenen Beschwerde, welcher das FG nicht abgeholfen hat, macht der Antragsteller geltend, § 69 FGO verlange nicht - wie das FG meine -, dass das FA zuvor die Möglichkeit gehabt haben müsse, sich mit der erst beim FG eingereichten Begründung auseinanderzusetzen. Der eindeutige Wortlaut des § 69 Abs. 4 FGO sei keiner weiter gehenden Auslegung zugänglich.

Durch die Handhabung des Verfahrens habe das FA zudem zu erkennen gegeben, dass eine Begründung des Aussetzungsantrages für dessen Entscheidungsfindung entbehrlich sei. Überdies habe das FA den nach fünfjähriger Prüfung erstellten Betriebsprüfungsbericht selbst ausgewertet und könne somit die Richtigkeit der darauf beruhenden geänderten Steuerfestsetzungen ohne weitere Begründung überprüfen.

Die vom FG herangezogenen Entscheidungen des BFH seien nicht einschlägig, vielmehr müsse es bei dem Beschluss des VI. Senats des BFH in BFHE 186, 341, BStBl II 1998, 744 verbleiben.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß, wie im finanzgerichtlichen Verfahren, die AdV ohne Sicherheitsleistung der Einkommensteueränderungsbescheide für 1996 bis 1998 vom 14. Dezember 2006.

Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Auf die Beschwerde des Antragstellers ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

1. Nach § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO ist ein unmittelbar bei dem Gericht der Hauptsache angebrachter Antrag auf AdV nur zulässig, wenn die Behörde zuvor einen Antrag auf AdV ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Diese Voraussetzung ist, wie das FG nicht verkannt hat, dem Gesetzeswortlaut nach erfüllt. Das FA hat den Antrag auf AdV, den der Antragsteller gestellt hat, abgelehnt. Die Vorschrift in § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO ist jedoch entgegen der Ansicht des FG nicht einschränkend dahin auszulegen, dass eine Ablehnung der AdV durch die Finanzbehörde nur dann ausreiche, wenn der Antragsteller seinen Aussetzungsantrag der Behörde gegenüber in der Sache begründet und sich die Behörde mit dieser Begründung in der Ablehnungsentscheidung auch auseinandergesetzt habe. Diese Rechtsansicht, die auch von verschiedenen anderen Finanzgerichten vertreten wird, kann sich zwar auf den Entlastungszweck der Vorschrift berufen (vgl. dazu Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit, BTDrucks 8/842, S. 16, zu Art. 3 § 7 des Gesetzentwurfs, sowie zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze, BTDrucks 12/1061, S. 15, zu § 69 dieses Entwurfs). Damit würde erreicht, dass sich das FG mit dem Antrag auf AdV in der Sache erst dann befassen muss, wenn sich zuvor das FA mit der Begründung des Antrags auseinandergesetzt hat. Indes steht dieser Rechtsansicht der eindeutige Gesetzeswortlaut entgegen.

2. Der erkennende Senat schließt sich entgegen zahlreicher gegenteiliger Entscheidungen der Finanzgerichte (vgl. z.B. Beschlüsse des FG Baden-Württemberg vom 20. Mai 1996 6 V 16/95, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1996, 994; FG Saarland vom 22. März 2001 1 V 67/01, juris; vom 19. Oktober 1993 1 V 191/93, juris; FG Hamburg vom 1. März 2006 V 221/05, juris; vom 26. Juni 2002 I 22/02, juris) in Übereinstimmung mit dem überwiegenden Schrifttum (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 69 Rz 71; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Rz 74; Gosch in Beermann/Gosch, FGO, § 69 Rz 275; Birkenfeld in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 69 FGO Rz 1091; Schwedhelm/Binnewies, Deutsches Steuerrecht - DStR - 1997, 1235) der ausführlich begründeten Rechtsauffassung des VI. Senats des BFH im Beschluss in BFHE 186, 341, BStBl II 1998, 744 an. Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber eine "qualifizierte" Ablehnung durch das FA verlangt, ergeben sich aus den zitierten Gesetzesmaterialien nicht. Wie der BFH bereits mehrfach entschieden hat, ist es auch unter der Geltung des § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO nicht vertretbar, den Zugang zum Gericht in Aussetzungssachen durch eine einengende Auslegung dieser Vorschrift, die ohnehin schon eine Zugangsschranke enthält, über ihren Wortlaut hinaus ohne eine eindeutige Äußerung des Gesetzgebers weiter einzuschränken. Danach folgt die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes aus dem in Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) verankerten Gebot zur Einräumung und Sicherstellung eines effektiven Rechtsschutzes. Deshalb ist es den Gerichten versagt, durch eine einengende Auslegung der Ausnahmevorschrift in § 69 Abs. 4 FGO über ihren Wortlaut hinaus weiter gehende Zugangsbeschränkungen im Wege einer Rechtsfortbildung vorzunehmen (BFH-Beschlüsse vom 11. Februar 1999 XI S 14/98, BFH/NV 1999, 926; vom 4. Oktober 1995 VII B 136/95, BFH/NV 1996, 236, jeweils m.w.N.). § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO macht die Anrufung des FG auch nicht von der Stellung eines zulässigen und begründeten Aussetzungsantrags abhängig. Vielmehr hat das FG prinzipiell von Amts wegen im Rahmen allerdings einer lediglich summarischen Prüfung zu entscheiden. Der vorliegende Prozessstoff ist bis zur Entscheidung der Frage, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen oder nicht, auszuschöpfen (vgl. BFH-Beschluss vom 23. Juli 1968 II B 17/68, BFHE 92, 440A, BStBl II 1968, 589). Der summarische Charakter des Verfahrens über die AdV führt allerdings im Interesse der Beschleunigung und mit Rücksicht auf die vorläufige Natur der darin zu treffenden Anordnungen dazu, dass der das finanzgerichtliche Verfahren sonst beherrschende Untersuchungsgrundsatz gegenüber der Pflicht der Beteiligten zur Mitwirkung bei der Sachaufklärung zurücktritt (vgl. BFH-Beschlüsse vom 22. November 1968 VII B 165/67, BFHE 94, 472; vom 10. Juli 1997 V B 152/96, BFH/NV 1998, 357). Danach können der Entscheidung über die AdV in der Regel nur solche Tatsachen zugrunde gelegt werden, die sich aus dem angefochtenen Verwaltungsakt oder dem glaubhaft gemachten Vortrag der Beteiligten ergeben.

Verlangte man, dass der Antragsteller - bevor er sich an das FG wendet - seinen Antrag beim FA substantiiert begründet und dass dieses sich mit dieser Begründung in seiner Entscheidung über den Antrag auseinandersetzt, so ergäben sich weitere Zweifelsfragen, z.B. wie bei unvollständiger oder oberflächlicher Begründung zu verfahren ist. Das würde zu einer weiteren Verkomplizierung des auf Beschleunigung angelegten Aussetzungsverfahrens führen (so zutreffend BFH-Beschluss in BFHE 186, 341, BStBl II 1998, 744).

3. Zu Recht weist der Antragsteller auch darauf hin, dass der vom FG herangezogene Beschluss des BFH in BFH/NV 2000, 827 einen rechtlich mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbaren Sachverhalt betrifft; denn dort wurde ein völlig neuer Problembereich unterbreitet, der zuvor noch nicht Gegenstand der Prüfung durch die Finanzbehörde gewesen war und sein konnte (so auch BFH-Beschluss vom 1. Februar 2006 X B 166/05, BFHE 212, 242, BStBl II 2006, 420). In einem derartigen Fall fehlt die für § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO notwendige Identität der Verfahrensgegenstände (dazu Gräber/Koch, a.a.O., § 69 Rz 74).

Umgekehrt hat deshalb der V. Senat des BFH im Beschluss vom 30. Januar 2001 V S 24/00 (BFH/NV 2001, 658) in einem Fall, in dem die Steuerfestsetzung aufgrund von Vorauszahlungsbescheiden zwischenzeitlich durch den Umsatzsteuerjahresbescheid abgelöst worden war, die Zugangsvoraussetzung gemäß § 69 Abs. 4 FGO als erfüllt angesehen, nachdem das FA in einem früheren Verfahrensabschnitt die AdV der vorausgegangenen Vorauszahlungsbescheide abgelehnt hatte, weil der Gegenstand des Rechtsstreits dieselben Rechtsfragen betreffe.

4. Der auf einer anderen Rechtsauffassung beruhende Beschluss des FG ist aufzuheben.

Der Senat entscheidet nicht selbst über den Aussetzungsantrag, sondern verweist die Sache an das FG zurück. Eine Zurückverweisung ist auch im Beschwerdeverfahren betreffend die AdV zulässig. Die Befugnis zur Zurückverweisung der Sache ergibt sich aus den §§ 132, 155 FGO i.V.m. § 572 Abs. 3 der Zivilprozessordnung. Die Zurückverweisung erscheint im Streitfall schon deshalb zweckmäßig, weil das FG den Aussetzungsantrag lediglich aus formellen Gründen abgelehnt hat (vgl. BFH-Beschlüsse vom 25. Oktober 1995 VIII B 79/95, BFHE 179, 207, BStBl II 1996, 316; vom 25. Juni 2001 V B 6/01, BFH/NV 2001, 1589; vom 23. Juli 2002 X B 209/01, BFH/NV 2002, 1487, m.w.N.).