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BFH-Urteil vom 15.12.2005 (III R 82/04) BStBl. 2008 II S. 621

Vollendet das arbeitslose Kind während des laufenden Kalenderjahres das 21. Lebensjahr, so dass es nicht mehr nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG als Kind zu berücksichtigen ist, und überschreiten seine bis dahin zugeflossenen Einkünfte und Bezüge den maßgebenden anteiligen Jahresgrenzbetrag, ist die Familienkasse nach § 70 Abs. 4 EStG berechtigt, die Festsetzung des Kindergeldes vor Ablauf des Kalenderjahres aufzuheben, wenn in den verbleibenden Monaten des Kalenderjahres offenkundig auch nicht die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG für die Berücksichtigung als Kind vorliegen.

EStG § 32 Abs. 4, § 70 Abs. 4.

Vorinstanz: Niedersächsisches FG vom 21. September 2004 15 K 503/02 (EFG 2005, 1298)

Sachverhalt

I.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) beantragte im Dezember 2001 Kindergeld für ihren im November 1981 geborenen Sohn. Dieser war arbeitslos gemeldet und nahm vom 19. November 2001 bis 17. Mai 2002 an einer vom Arbeitsamt geförderten Maßnahme der beruflichen Weiterbildung teil. Die Klägerin gab an, ihr Sohn erhalte Arbeitslosengeld und erziele seit August 2001 Einnahmen aus geringfügiger Beschäftigung in Höhe von 630 DM monatlich. Aufgrund einer Kassenanordnung vom 11. Februar 2002 zahlte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) rückwirkend von November 2001 an Kindergeld, ohne die Höhe der dem Sohn zufließenden Beträge zu ermitteln.

Nach Beendigung der Weiterbildungsmaßnahme im Mai 2002 stellte die Familienkasse die Zahlung des Kindergeldes ein. Der Sohn meldete sich wieder arbeitslos und die Klägerin beantragte am 9. Juli 2002 Weiterzahlung des Kindergeldes.

Bei der Prüfung dieses Antrags kam die Familienkasse zu dem Ergebnis, dass die eigenen Einkünfte und Bezüge des Sohnes den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) im Jahr 2001 überschritten hätten und voraussichtlich auch im Jahr 2002 überschreiten würden. Sie hob daher mit Bescheid vom 10. September 2002 die Kindergeldfestsetzung von November 2001 bis Mai 2002 auf und forderte das gezahlte Kindergeld (1.046,10 €) zurück.

Auf den Einspruch der Klägerin änderte die Familienkasse diesen Bescheid und hob die Kindergeldfestsetzung erst mit Wirkung ab Januar 2002 auf (Bescheid vom 13. November 2002). Im Übrigen wies die Familienkasse den Einspruch durch Einspruchsentscheidung vom 18. November 2002 als unbegründet zurück, weil die voraussichtlichen Einkünfte und Bezüge des Sohnes bis Dezember 2002 mit 9.000,06 € den Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG von 7.188 € deutlich überschritten.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unbegründet ab. Sein Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2005, 1298 veröffentlicht.

Das FG führte im Wesentlichen aus, nach § 70 Abs. 4 EStG sei die Festsetzung des Kindergelds zu ändern, wenn nachträglich bekannt werde, dass die Einkünfte und Bezüge den Grenzbetrag überschritten. Unerheblich sei, dass die Familienkasse das Überschreiten hätte kennen können oder kennen müssen. Bei der erstmaligen Auszahlung des Kindergeldes, die einer Festsetzung gleichstehe, habe die Familienkasse die Höhe der Einkünfte und Bezüge des Sohnes nicht gekannt und auch nicht versucht diese zu ermitteln. Erst bei der Prüfung des Antrags auf Weiterzahlung des Kindergelds vom 9. Juli 2002 habe sie die voraussichtliche Höhe berechnet. Zwar habe die Familienkasse für die Ermittlung des maßgeblichen Grenzbetrages nur die Einkünfte und Bezüge des Sohnes von Januar bis einschließlich November 2002 zugrunde legen dürfen, weil der Sohn im November 2002 das 21. Lebensjahr vollendet habe und deshalb ab Dezember 2002 als arbeitsloses Kind nicht mehr zu berücksichtigen gewesen sei. Auch der für den Zeitraum Januar bis November 2002 maßgebende Grenzbetrag von 6.589 € (elf Zwölftel von 7.188 €) werde aber deutlich überschritten, da die bis zum Ergehen der Einspruchsentscheidung zugeflossenen Einkünfte und Bezüge des Sohnes abzüglich des anteiligen Arbeitnehmerpauschbetrages und der anteiligen Kostenpauschale für sonstige Bezüge 7.258,19 € betragen hätten.

Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Sie habe die Einkünfte und Bezüge ihres Sohnes im Antrag auf Kindergeld vollständig angegeben. Aus diesen Angaben sei für die Familienkasse auch ohne größere Ermittlungen ersichtlich gewesen, dass die Einkünfte und Bezüge des Sohnes die maßgebende Höhe überschreiten könnten. Der Familienkasse sei daher das Überschreiten des Grenzbetrags nicht nachträglich bekannt geworden. Zumindest aber dürfe die Festsetzung des Kindergelds nach den Grundsätzen von Treu und Glauben nicht aufgehoben werden, weil die mögliche Überschreitung des Grenzbetrages für jeden Laien sofort zu erkennen gewesen sei.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, das FG-Urteil, die Einspruchsentscheidung sowie die Kindergeldbescheide der Familienkasse vom 10. September und vom 13. November 2002 aufzuheben.

Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet.

Nach der zutreffenden Entscheidung des FG war die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum Januar bis Mai 2002 rechtmäßig.

1. Nach § 70 Abs. 4 EStG ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten.

a) Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG besteht bei volljährigen Kindern ein Anspruch auf Kindergeld nur, wenn sie nach § 32 Abs. 4 EStG als Kinder zu berücksichtigen sind. Volljährige Kinder, die - wie im Streitfall - nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stehen, werden gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres als Kind berücksichtigt, wenn ihre Einkünfte und Bezüge im Kalenderjahr einen bestimmten Betrag (im Streitjahr 2002 7.188 €) nicht übersteigen. Gleiches gilt für die Berücksichtigung von Kindern zwischen 18 und 27 Jahren, welche die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG erfüllen. Liegen die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG nicht während des gesamten Kalenderjahrs vor, ermäßigt sich der Jahresgrenzbetrag für jeden Kalendermonat, in dem die Voraussetzungen an keinem Tag vorgelegen haben, um ein Zwölftel.

b) Im November 2002 vollendete der Sohn das 21. Lebensjahr. Daher lagen die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG im Dezember 2002 nicht mehr vor. Da auch die Merkmale des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG für eine Berücksichtigung als Kind nicht erfüllt waren, betrug der Grenzbetrag für das Jahr 2002 6.589 € (elf Zwölftel von 7.188 €). Die maßgeblichen Einkünfte und Bezüge des Sohnes betrugen bei Erlass der Einspruchsentscheidung im November 2002 nach den - nicht angegriffenen und daher nach § 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) bindenden - Feststellungen des FG 7.258,19 € und überstiegen zu diesem Zeitpunkt somit nicht nur den anteiligen, sondern auch den ungekürzten Jahresgrenzbetrag.

2. Die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für die Monate Januar bis Mai 2002 war schon vor Ablauf des Jahres 2002 nach § 70 Abs. 4 EStG zulässig.

a) Mit der Einführung des § 70 Abs. 4 EStG durch Art. 1 Nr. 21 i.V.m. Art. 8 Abs. 1 des Zweiten Gesetzes zur Familienförderung vom 16. August 2001 (BGBl I 2001, 2074, BStBl I 2001, 533) sollte sichergestellt werden, dass die Festsetzung von Kindergeld für ein volljähriges Kind nach Ablauf des Kalenderjahres korrigiert werden kann, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag entgegen einer früheren Prognose der Familienkasse überschreiten oder entgegen der Prognose nicht überschreiten (BTDrucks 14/6160, S. 14). Die Korrekturmöglichkeit ist erforderlich, weil das Kindergeld im Laufe des Kalenderjahres monatlich gezahlt wird, ein Anspruch darauf aber grundsätzlich nur besteht, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes einen bestimmten Jahresbetrag nicht überschreiten.

Ob die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag überschreiten oder nicht überschreiten, kann erst "bekannt" werden, wenn deren Höhe tatsächlich feststeht, also im Regelfall nach Ablauf des betreffenden Jahres. Nach Auffassung im Schrifttum ist daher eine Korrektur der Kindergeldfestsetzung jedenfalls nicht nach § 70 Abs. 4 EStG zulässig, wenn sich während des Kalenderjahres aufgrund einer neuen Prognose ergibt, dass die Einkünfte und Bezüge voraussichtlich den maßgebenden Jahresbetrag überschreiten bzw. nicht überschreiten werden (Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz, Kommentar, § 70 EStG Anm. 19; Greite in Korn, Einkommensteuergesetz, § 70 Rz. 21; Pust in Littmann/ Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, § 70 EStG Rz. 252). In diesen Fällen komme aber entsprechend der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Rechtslage vor In-Kraft-Treten des § 70 Abs. 4 EStG (BFH-Urteile vom 26. Juli 2001 VI R 83/98, BFHE 196, 265, BStBl II 2002, 85) eine Korrektur nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) allein oder ggf. i.V.m. § 175 Abs. 2 AO 1977 in Betracht (Pust in Littmann/ Bitz/Pust, a.a.O., § 70 EStG Rz. 253).

Ob und ggf. nach welcher Vorschrift die Familienkasse berechtigt ist, eine Kindergeldfestsetzung aufgrund einer anderen Prognose zu korrigieren, kann der Senat im Streitfall offen lassen. Denn eine Korrektur nach § 70 Abs. 4 EStG ist jedenfalls dann vor Ablauf des Kalenderjahres zulässig, wenn die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG für die Berücksichtigung als Kind während des Kalenderjahres entfallen sind und in den verbleibenden Monaten des Kalenderjahres auch die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG offenkundig nicht erfüllt werden. Denn dann steht bereits mit dem Wegfall der Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG fest, welche Einkünfte und Bezüge das Kind bis dahin bezogen hat.

b) Die Familienkasse hat die Kindergeldfestsetzung zwar bereits im September 2002 aufgehoben, bevor der Sohn das 21. Lebensjahr vollendet hatte und damit bevor die Voraussetzungen für die Berücksichtigung als Kind nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG entfallen waren. Jedenfalls zum Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung im November 2002 stand aber fest, dass die bis dahin bezogenen Einkünfte und Bezüge den maßgebenden Grenzbetrag von elf Zwölftel und sogar den Jahresbetrag überschritten.

3. Die Überschreitung des Grenzbetrages ist der Familienkasse auch nachträglich i.S. des § 70 Abs. 4 EStG bekannt geworden.

Kenntnis von der tatsächlichen Höhe der Leistungen der Arbeitsverwaltung und der Einkünfte des Sohnes aus geringfügiger Beschäftigung bekam die Familienkasse erst anlässlich der Prüfung des erneuten Kindergeldantrags der Klägerin im Juli 2002. Zwar hätte die Familienkasse bereits vor Beginn der Auszahlung des Kindergeldes im Februar 2002 aufgrund der Angaben der Klägerin die Höhe des dem Sohn von der Arbeitsverwaltung gezahlten Unterhaltsgeldes ermitteln und - entsprechend der Prognoseberechnung im Juli 2002 - feststellen können, dass bei Fortzahlung des bereits bewilligten Betrages bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres der anteilige Jahresgrenzbetrag von 6.589 € überschritten würde. Da die Weiterbildungsmaßnahme aber nur bis Mai 2002 dauerte und im Februar 2002 noch nicht klar war, ob der Sohn auch danach Leistungen von der Arbeitsverwaltung erhalten würde, brauchte die Familienkasse diese Prognoseberechnung nicht anzustellen. Denn für den Zeitraum bis Mai 2002, für den die Familienkasse Kindergeld gezahlt hat, war der maßgebende Grenzbetrag nicht erreicht.

4. Die Klägerin kann sich nicht darauf berufen, dass die Familienkasse wegen mangelhafter Erfüllung ihrer Amtsermittlungspflicht nach Treu und Glauben daran gehindert sei, das gezahlte Kindergeld zurückzufordern.

a) Zwar scheidet nach der Rechtsprechung zu § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 eine Rückforderung von Kindergeld aus, wenn die fehlende Kenntnis höherer Einkünfte und Bezüge auf einem Ermittlungsfehler der Familienkasse beruht, sofern der Kindergeldberechtigte seiner Mitwirkungspflicht in vollem Umfang genügt hat (BFH-Urteil vom 25. Februar 2003 VIII R 26/02, BFH/NV 2003, 1158; Beschluss vom 7. Juli 2003 VIII B 28/03, juris). Die Amtsermittlungspflicht könnte aber nur dann verletzt sein, wenn ein bereits verwirklichter Sachverhalt - etwa vereinnahmte Einkünfte und Bezüge bzw. insoweit entstandene Ansprüche - erst nachträglich zur Kenntnis genommen wird. Die Weiterzahlung des Kindergeldes, obwohl die voraussichtliche Entwicklung der Einkünfte und Bezüge des Kindes eine Überschreitung des Jahresgrenzbetrages in der Zukunft erwarten lässt, kann dagegen keine Amtspflicht verletzen, weil in einem solchen Fall der Anspruch auf monatliche Auszahlung des Kindergeldes besteht, solange der Grenzbetrag noch nicht erreicht ist. Insoweit besteht ein grundlegender Unterschied zu anderen Tatbestandsmerkmalen wie der Haushaltszugehörigkeit eines Kindes oder der Absolvierung einer Ausbildung. Über das Vorliegen oder Nichtvorliegen solcher Tatbestandsmerkmale kann die Behörde jederzeit befinden und somit die Leistung des Kindergeldes stets zeitnah den tatsächlichen Verhältnissen anpassen.

b) Das Vertrauen des Kindergeldberechtigten auf das Behaltendürfen des im laufenden Kalenderjahr monatlich als Steuervergütung gezahlten Kindergeldes (§ 31 Satz 3 EStG) ist im Übrigen nicht geschützt. Dadurch, dass der Anspruch auf Kindergeld bei Kindern zwischen dem 18. und dem 27. Lebensjahr abhängt von der Höhe der tatsächlichen Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr bzw. in dem Zeitraum, in dem die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG vorgelegen haben, kann erst nach Ablauf des maßgebenden Zeitraums beurteilt werden, ob die Voraussetzungen für den Anspruch auf Kindergeld erfüllt sind. Der Kindergeldberechtigte trägt daher letztlich das Risiko, das Kindergeld zurückzahlen zu müssen, wenn sich herausstellt, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den maßgebenden Grenzbetrag überschreiten (Felix Kirchhof/Söhn/Mellinghof, Einkommensteuergesetz, § 70 Rz. E 8).