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BFH-Urteil vom 24.4.2008 (IV R 50/06) BStBl. 2009 II S. 35

1. Hat ein Steuerpflichtiger wegen unzutreffender Aufteilung des Gewinns Einspruch nur für das Vorjahr eingelegt, beantragt er damit nicht zugleich konkludent, die Einkommensteuer für das Folgejahr heraufzusetzen.

2. § 127 AO ist auf die Korrekturvorschrift des § 174 Abs. 4 AO nicht anwendbar.

3. Für den rechtmäßigen Erlass eines Änderungsbescheides nach § 174 Abs. 4 AO reicht es (aber) aus, wenn die Voraussetzungen für die Änderung, insbesondere die Aufhebung oder Änderung des anderen Steuerbescheides zugunsten des Steuerpflichtigen, bis zur Entscheidung über den Einspruch gegen den (auf § 174 Abs. 4 AO gestützten) Änderungsbescheid vorliegen.

AO § 125, § 127, § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a, § 174 Abs. 4.

Vorinstanz: FG Köln vom 25. Mai 2005 14 K 2275/01 (EFG 2007, 316)

Sachverhalt

I.

Streitig ist, ob der angefochtene Änderungsbescheid rechtmäßig (geworden) ist, weil ein das Vorjahr betreffender Einspruch zugleich als Antrag nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a der Abgabenordnung (AO) auszulegen war oder weil nachträglich die Voraussetzungen des § 174 Abs. 4 AO eingetreten sind.

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind zusammen zur Einkommensteuer veranlagte Eheleute. Der Kläger erzielte in den Jahren 1992 und 1993 Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft. Den Betrieb hatten ihm seine Eltern unter Nießbrauchsvorbehalt übertragen. Spätestens ab dem Wirtschaftsjahr 1991/92 zahlte der Kläger die für die nießbrauchsbelasteten Grundstücke an die Eltern zu zahlende Pacht nicht mehr, behandelte sie jedoch weiter als Aufwand und wies in entsprechender Höhe Verbindlichkeiten in der Bilanz aus. Aufgrund einer Umstrukturierung des landwirtschaftlichen Betriebs zum Gemüsebaubetrieb bestimmte der Kläger ab 1993 (Streitjahr) das Kalenderjahr zum Wirtschaftsjahr.

Nach einer Betriebsprüfung erkannte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) die Pacht ab dem Wirtschaftsjahr 1991/92 nicht mehr als Aufwand an. Für das Wirtschaftsjahr 1991/92 ergab sich ein Gewinn von 894.238 DM, der zur Hälfte (447.119 DM) im Jahr 1992 angesetzt wurde. Der Prüfer ermittelte den Gewinn aus Land- und Forstwirtschaft im Zeitraum vom 1. Juli 1992 bis 31. Dezember 1993 in der Weise, dass er ein Wirtschaftsjahr vom 1. Juli 1992 bis zum 30. Juni 1993 und ein Rumpfwirtschaftsjahr vom 1. Juli 1993 bis zum 31. Dezember 1993 bildete. Das FA erfasste den Gewinn des Wirtschaftsjahres 1992/93 (486.823 DM) jeweils zur Hälfte in den Einkommensteuerbescheiden für 1992 und 1993 und berücksichtigte den Verlust des Rumpfwirtschaftsjahres (./. 237.098 DM) in voller Höhe im Bescheid für das Streitjahr (1993). Auf diese Weise ergaben sich für 1992 Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft von 690.531 DM und für das Streitjahr solche von 6.313 DM.

Das FA setzte dem entsprechend die Einkommensteuer für das Streitjahr mit Bescheid vom 27. März 1998 auf 0 DM herab und hob den Vorbehalt der Nachprüfung auf.

Die Kläger legten gegen die Einkommensteuerbescheide für 1991 und 1992 (ebenfalls vom 27. März 1998) Einspruch ein und machten geltend, dass der Pachtvertrag weiterhin anzuerkennen sei. Außerdem entspreche die vom FA vorgenommene Aufteilung des Gewinns für den Zeitraum vom 1. Juli 1992 bis 31. Dezember 1993 nicht der Regelung des § 8c Abs. 2 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV). Der Gesamtgewinn dieses Zeitraums sei danach in Höhe von 6/18 im Kalenderjahr 1992 und in Höhe von 12/18 im Streitjahr zu berücksichtigen.

Das FA änderte daraufhin zunächst mit Bescheid vom 8. Mai 1998 die Steuerfestsetzung für das Streitjahr zu Lasten der Kläger, indem es den Gewinn des Zeitraums vom 1. Juli 1992 bis 31. Dezember 1993 unter Einschluss des Verlustes für den Zeitraum vom 1. Juli 1993 bis 31. Dezember 1993 (saldiert 249.725 DM) nunmehr zu 12/18 (166.483 DM) im Streitjahr (1993) berücksichtigte. Die Änderung begründete es mit § 129 AO. Später - am 18. November 1998 - änderte das FA auch den Einkommensteuerbescheid 1992 und berücksichtigte den Gewinn des Zeitraums vom 1. Juli 1992 bis 31. Dezember 1993 in Höhe von 6/18 (83.242 DM) im Jahr 1992, so dass die Einkünfte unter Einbeziehung des hälftigen Gewinns des Wirtschaftsjahres 1991/92 (447.119 DM) auf 530.361 DM sanken.

Den Einspruch gegen den Änderungsbescheid für das Streitjahr wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 8. März 2001 zurück. Die Änderung sei zwar nicht nach § 129 AO, hingegen aber nach § 174 Abs. 4 AO statthaft. Die Bezeichnung der falschen Änderungsvorschrift sei unerheblich.

Die dagegen gerichtete Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) entschied, das FA sei gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO zu der Änderung berechtigt gewesen. Denn es habe der Sache nach einem Antrag der Kläger entsprochen. Diese hätten zwar nicht ausdrücklich beantragt, die Festsetzung für das Streitjahr zu ändern. Der Einspruch für die Jahre 1991 und 1992 enthalte jedoch einen konkludenten Änderungsantrag, weil die Kläger eine abweichende Aufteilung der Einkünfte des Zeitraums vom 1. Juli 1992 bis 31. Dezember 1993 beantragt hätten. Das ergebe sich daraus, dass eine Änderung des Steuerbescheides für das Streitjahr im Anschluss an die beantragte Änderung für das Jahr 1992 nach § 174 Abs. 4 AO ohnehin zulässig gewesen wäre und sich insgesamt eine niedrigere Steuerfestsetzung ergebe. Dass in dem Einspruchsschreiben lediglich die Jahre 1991 und 1992 angesprochen worden seien, folge daraus, dass lediglich für diese beiden Jahre Einspruch eingelegt worden sei, während für das Streitjahr wegen der Steuerfestsetzung auf 0 DM ein Einspruch nicht in Frage gekommen sei.

Überdies folge die Änderungsbefugnis auch aus § 174 Abs. 4 AO. Zwar könne nach dem Gesetzeswortlaut eine Änderung nur "nachträglich" erfolgen, sodass im Zeitpunkt des Erlasses des Änderungsbescheides die Änderungsbefugnis nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO noch nicht gegeben gewesen sei. Der ursprünglich rechtswidrige Bescheid sei jedoch nachträglich in dem Zeitpunkt rechtmäßig geworden, ab dem die Änderungsvoraussetzungen des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO erfüllt gewesen seien, nämlich ab Änderung des Bescheides für 1992 am 18. November 1998. Das folge aus § 127 AO. Danach könne die Aufhebung eines Verwaltungsaktes nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren zustande gekommen sei, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Auch die §§ 172 ff. AO seien als Vorschriften über das Verfahren i.S. des § 127 AO anzusehen. Entgegen einer vereinzelt vertretenen Auffassung (FG Düsseldorf, Urteil vom 13. Januar 1999 7 K 7/95 E, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1999, 638; Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 127 AO Rz 6; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO § 127 Rz 10) komme es im Rahmen der Voraussetzungen des § 127 AO nicht auf den Charakter der Vorschriften an, sondern darauf, ob eine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Überdies stehe diese Ansicht bezüglich des Merkmals "nachträglich" in § 174 Abs. 4 Satz 1 AO im Widerspruch zu der Entscheidung des Großen Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 10. November 1997 GrS 1/96 (BFHE 184, 1, BStBl II 1998, 83, 85), der ausdrücklich von einer "verfahrensmäßigen Abfolge" spreche und damit verdeutliche, dass es sich um eine Regelung des Verfahrensrechts handele. Zwar sei es danach unzulässig, durch die Änderung eines Bescheides einen Widerstreit zu erzeugen, um so die Möglichkeit für die Änderung eines bestandskräftigen Bescheides für ein anderes Jahr zu eröffnen. So lägen die Verhältnisse im Streitfall jedoch nicht, weil die Änderung für 1992 wegen des Einspruchs möglich gewesen sei.

Mit der Revision wenden sich die Kläger gegen die Auslegung ihres Einspruchs gegen den Einkommensteuerbescheid 1992 als Antrag auf Änderung (auch) des Einkommensteuerbescheides für das Streitjahr (1993). Schon der Beweis des ersten Anscheins spreche dafür, dass die Kläger mit ihren insoweit eindeutigen Anträgen für die Veranlagungszeiträume 1991 und 1992 keine Änderung für das Streitjahr begehrt haben könnten. Zudem sei zu berücksichtigen, dass sie sich durch eine rechtskundige Steuerberaterin hätten vertreten lassen, so dass davon auszugehen sei, dass der Wortlaut des Antrags ihr Begehren zutreffend wiedergegeben habe.

Die Auffassung des FG, dass es ins Belieben der Finanzbehörde gestellt sei, in welcher zeitlichen Reihenfolge innerhalb der Festsetzungsverjährung die Änderungen erfolgten, soweit eine materiell richtige Regelung getroffen werde, widerspreche der ausdrücklichen gesetzlichen Formulierung, die nur eine nachträgliche Änderung zulasse. Soweit eine Änderungsvorschrift nicht einschlägig sei, könne ein Steuerbescheid nicht geändert werden, losgelöst davon, ob durch die Änderung eine materiell-rechtlich zutreffende Steuerfestsetzung vorgenommen werden könne oder nicht. Fehle es an einer Änderungsbefugnis, sei die Bestandskraft aus Gründen der Rechtssicherheit immer vorrangig.

Die Kläger beantragen, das Urteil des FG Köln vom 25. Mai 2005 14 K 2275/01 und den Einkommensteuerbescheid vom 8. Mai 1998 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 8. März 2001 dahingehend abzuändern, dass die Einkommensteuer unter Berücksichtigung von Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft in Höhe von 6.313 DM auf 0 DM festgesetzt wird.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Fallgestaltungen, in denen die Finanzrechtsprechung die Anwendung des § 174 AO verneint hätte, lägen nicht vor. Weder sei mit einem rechtsfehlerhaften Bescheid eine Konkurrenzlage des § 174 Abs. 4 AO geschaffen worden, um eine Berichtigung durchführen zu können (Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 184, 1, BStBl II 1998, 83) noch sei bis zum Zeitpunkt des Ergehens der Einspruchsentscheidung Festsetzungsverjährung eingetreten (FG Düsseldorf, Urteil in EFG 1999, 638). Deshalb sei der materiellen Richtigkeit der Steuerfestsetzung der Vorrang vor der verfahrensrechtlich zutreffenden Anwendung einer Änderungsvorschrift einzuräumen. Jedenfalls aber sei eine Änderungsmöglichkeit nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO gegeben. Wenn bei einem einheitlichen Gesamtgewinn von einer Änderung des Gewinnanteils eines Jahres zwangsläufig auch der Gewinnanteil des anderen Jahres betroffen sei, könne es nicht von der Formulierung des Antrags abhängen, die Änderung auf ein Kalenderjahr zu beschränken.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist nicht begründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Der angefochtene Änderungsbescheid konnte zwar weder auf § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO gestützt werden (dazu unter 1.), noch ist § 127 AO auf die Korrekturvorschriften nach §§ 172 ff. AO anwendbar (dazu unter 2.). Die Rechtmäßigkeit folgt jedoch aus § 174 Abs. 4 AO, weil die Voraussetzungen für eine Änderung nach dieser Vorschrift bis zum Erlass der Einspruchsentscheidung eingetreten sind (dazu unter 3.).

1. Der bestandskräftige Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr durfte nicht nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO geändert werden.

a) Nach dieser Vorschrift darf ein Steuerbescheid zu Ungunsten des Steuerpflichtigen geändert werden, soweit dieser zustimmt oder seinem Antrag der Sache nach entsprochen wird. Antrag bedeutet das Begehren des Steuerpflichtigen, den Steuerbescheid aufzuheben oder in bestimmter Weise zu ändern (von Wedelstädt in Beermann/Gosch, a.a.O., § 172 Rz 35). Aus dem Antrag muss sich der Aufhebungs- oder Änderungsrahmen ergeben (BFH-Urteil vom 27. Oktober 1993 XI R 17/93, BFHE 172, 493, BStBl II 1994, 439, unter II.3.a der Gründe, zur Änderung zu Gunsten des Steuerpflichtigen). Der Antrag ist nicht formgebunden (BFH-Urteil vom 30. Oktober 2001 VIII R 29/00, BFHE 197, 114, BStBl II 2006, 223, unter II.2. der Gründe); er kann auch konkludent erklärt werden (BFH-Urteil vom 14. November 1989 VIII R 270/84, BFH/NV 1990, 776, unter 1. der Gründe).

b) Nach § 118 Abs. 2 FGO ist der BFH an die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil gebunden, soweit dagegen nicht zulässige und begründete Rügen vorgebracht sind. Unter diese Bindung fallen auch Würdigungen tatsächlicher Art (Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 118 FGO Rz 64). Die Auslegung von Willenserklärungen obliegt danach grundsätzlich dem FG als Tatsacheninstanz. Sie ist jedoch darauf zu überprüfen, ob die gesetzlichen Auslegungsregeln (§§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuchs - BGB -) beachtet sind und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen wurde (vgl. BFH-Urteile vom 3. August 2005 I R 94/03, BFHE 210, 398, BStBl II 2006, 20, und vom 20. September 2000 II R 65/98, BFH/NV 2001, 732; BFH-Beschluss vom 28. November 2001 I B 71/00, BFH/NV 2002, 523; Beermann in Beermann/Gosch, FGO § 118 Rz 23; Seer in Tipke/ Kruse, a.a.O., § 118 FGO Rz 69 ff.).

c) Entgegen der Auffassung des FG lagen danach die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO nicht vor. Denn die Kläger haben einen Antrag, den bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr zu ändern, weder ausdrücklich noch konkludent oder stillschweigend gestellt.

aa) Einspruch hatten die Kläger wegen der unzutreffenden Aufteilung des Gewinns nur für das Vorjahr eingelegt, für das sich daraus eine zu hohe Einkommensteuer ergeben hatte. Für das Streitjahr fehlte es wegen der Einkommensteuerfestsetzung auf 0 DM an einer Beschwer. Dem entsprechend haben die Kläger ausdrücklich Änderungen nur für die Einkommensteuerbescheide 1991 und 1992 beantragt, wie das FG festgestellt hat. Zwar ergab sich aus einer zutreffenden Gewinnaufteilung die Konsequenz, dass auf das Streitjahr ein höherer Gewinn entfallen musste. Daraus lässt sich für sich gesehen jedoch nicht darauf schließen, die Kläger hätten mit ihrem das Vorjahr betreffenden Einspruch konkludent zugleich eine Heraufsetzung der Einkommensteuer für das Streitjahr (als Folgejahr) beantragt. Denn es ist - wie die Änderungsbefugnis nach § 174 Abs. 4 AO zeigt - grundsätzlich Sache des FA, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Es fehlt jeder Anhaltspunkt dafür, dass die Kläger dem FA eine zusätzliche Änderungsmöglichkeit einräumen wollten. Auch das FA hat den Einspruch nicht so verstanden, wie sich aus der Begründung des angefochtenen Bescheides mit § 129 AO ergibt.

bb) Der Hinweis des FG, die zutreffende Gewinnaufteilung hätte - auch unter Berücksichtigung der höheren Einkommensteuer für das Streitjahr - insgesamt zu einer niedrigeren Steuerbelastung geführt, rechtfertigt seine Auslegung ebenfalls nicht. Zwar lässt dieser Gesichtspunkt die Einspruchseinlegung für die Vorjahre auch unter Berücksichtigung der (möglichen) Konsequenzen für das Streitjahr als sinnvoll erscheinen. Für die weiter gehende Annahme, dass die Kläger deshalb zugleich konkludent selbst eine Änderung der Einkommensteuerfestsetzung im Streitjahr zu ihren Lasten beantragt hätten, ergibt sich daraus jedoch nichts.

cc) Die Auslegung des FG, die Kläger hätten mit ihrem Einspruch für die Vorjahre zugleich einen konkludenten Antrag auf schlichte Änderung nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO für das Streitjahr gestellt, widerspricht danach Denkgesetzen und Erfahrungssätzen. Der Senat ist somit nicht daran gebunden.

2. § 127 AO ist - entgegen der Auffassung des FG - vorliegend weder unmittelbar noch analog anwendbar.

a) Nach dieser Vorschrift kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 125 AO nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Verfahrens- und Formfehler sollen nicht Anlass zur Aufhebung eines Verwaltungsaktes sein, wenn sie die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst haben (von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO § 127 Rz 2). Dem liegt die Erwägung zu Grunde, dass der Steuerpflichtige allein durch die Verletzung solcher Vorschriften nicht beschwert ist, wenn sich die Entscheidung als sachlich richtig erweist; § 127 AO dient somit der Prozessökonomie (BFH-Urteil vom 13. Dezember 2001 III R 13/00, BFHE 197, 12, BStBl II 2002, 406, unter II.2. der Gründe).

b) Nach allgemeiner Ansicht ist § 127 AO auf die Verfahrensvorschriften zur Korrektur von Verwaltungsakten (§§ 130 f., §§ 172 ff. AO) nicht anwendbar (Tipke in Tipke/Kruse, a.a.O., § 127 AO Rz 6; Frotscher in Schwarz, AO, § 127 Rz 4; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO § 127 Rz 10; Pahlke/Koenig/ Pahlke, Abgabenordnung § 127 Rz 12). Denn diese Vorschriften regeln nicht, wie beim Erlass eines Verwaltungsaktes zu verfahren ist, sondern ob und unter welchen Voraussetzungen ein Verwaltungsakt erlassen oder geändert werden kann. Wird ein Steuerbescheid erlassen, obwohl die Voraussetzungen nicht erfüllt sind, hätte eine andere Entscheidung ergehen können und müssen (Frotscher in Schwarz, a.a.O., § 127 Rz 4).

Soweit sich das FG zur Stützung seiner Auffassung darauf beruft, dass der Große Senat des BFH im Beschluss in BFHE 184, 1, BStBl II 1998, 83 die Formulierung einer "verfahrensmäßigen Abfolge" verwendet hat, erlaubt dies wegen des anderen Regelungszusammenhangs nicht den Rückschluss, es handele sich insoweit um Verfahrensvorschriften i.S. des § 127 AO. Denn es geht dabei erkennbar um die inhaltlichen Voraussetzungen einer Änderung nach § 174 Abs. 4 AO, nicht um bloße Formvorschriften.

§ 127 AO kann somit nicht schon für sich gesehen den Erlass eines Änderungsbescheides nach § 174 Abs. 4 AO rechtfertigen, wenn es aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen noch nicht zur Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheides zu seinen Gunsten gekommen ist, auch wenn diese Voraussetzung später eingetreten ist.

c) Eine analoge Anwendung des § 127 AO auf die §§ 172 ff. AO kommt nicht in Betracht (Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, - HHSp -, § 127 AO Rz 13; vgl. auch Frotscher in Schwarz, a.a.O., § 127 Rz 1). Zum einen ist § 127 AO eine Ausnahmevorschrift, weil danach der Betroffene die Aufhebung eines Verwaltungsaktes trotz dessen Rechtswidrigkeit nicht verlangen kann.

Zum anderen betreffen die Korrekturvorschriften der §§ 172 ff. AO die Voraussetzungen für eine Durchbrechung der Bestandskraft. Es handelt sich daher ebenfalls um Vorschriften, für die ihrer Zielrichtung entsprechend eine erweiternde Auslegung durch analoge Anwendung des § 127 AO nicht in Betracht kommt (von Groll in HHSp, § 172 AO Rz 186 f.; vgl. zur Anwendung des § 127 AO bei der Verlängerung der Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO das BFH-Urteil in BFHE 197, 12, BStBl II 2002, 406). Denn es ist gerade Zweck dieser Vorschriften, das Spannungsverhältnis zwischen der materiellen Richtigkeit der Steuerfestsetzung auf der einen Seite und den Prinzipien des Vertrauensschutzes sowie der Rechtssicherheit auf der anderen Seite zu regeln (vgl. von Groll in HHSp, Vor §§ 172 bis 177 AO Rz 1 ff.; Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., Vor § 172 AO Rz 2 ff.). Damit lässt es sich - entgegen der Auffassung des FA - nicht vereinbaren, der materiellen Richtigkeit der Steuerfestsetzung über den gesetzlich geregelten Rahmen hinaus den Vorrang vor der verfahrensrechtlich zutreffenden Anwendung einer Änderungsvorschrift einzuräumen.

3. Die Befugnis zum Erlass des angefochtenen Änderungsbescheides ergab sich jedoch aus § 174 Abs. 4 AO.

a) Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, so können nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheides die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden. Die Regelung bezweckt den Ausgleich einer zugunsten des Steuerpflichtigen eingetretenen Änderung; derjenige, der erfolgreich für seine Rechtsansicht gestritten hat, muss auch die damit verbundenen Nachteile hinnehmen (BFH-Urteil vom 10. März 1999 XI R 28/98, BFHE 188, 409, BStBl II 1999, 475, unter II.2. der Gründe; Anwendungserlass zur Abgabenordnung - AEAO - zu § 174 AO Nr. 5). Wie der Große Senat des BFH entschieden hat, regelt die Vorschrift die verfahrensrechtlichen (inhaltlichen) Folgerungen aus einer vorherigen Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheides auf Antrag des Steuerpflichtigen zu dessen Gunsten. Diese Aufhebung oder Änderung löst sodann - "nachträglich" - die Rechtsfolge des § 174 Abs. 4 AO aus, dass ein anderer Bescheid erlassen oder geändert werden kann. Die Vorschrift zieht somit die verfahrensrechtliche Konsequenz daraus, dass der andere Bescheid nunmehr eine "widerstreitende Steuerfestsetzung" enthält, wie sie das Gesetz nach seiner amtlichen Überschrift zu § 174 AO voraussetzt (Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 184, 1, BStBl II 1998, 83, unter C.II.1. der Gründe; im Ergebnis gl.A. Urteile des FG Düsseldorf in EFG 1999, 638; vom 30. Oktober 2003 15 K 7289/00 F, EFG 2004, 160; Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 174 AO Rz 48).

b) Die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 174 Abs. 4 AO lagen danach zwar zu dem Zeitpunkt noch nicht vor, als der vorliegend angefochtene Änderungsbescheid erlassen wurde. Denn den (anderen) Änderungsbescheid, mit dem das FA dem dagegen erhobenen Einspruch (teilweise) abgeholfen hat, erließ es erst mehr als ein halbes Jahr später. Bei Erlass des vorliegend angefochtenen Änderungsbescheides bestand daher noch kein Widerstreit, der Anlass für die Änderung sein konnte.

c) Die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Änderungsbescheides ergibt sich jedoch daraus, dass die (hier maßgebende) Einspruchsentscheidung zu einem Zeitpunkt ergangen ist, zu dem die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 174 Abs. 4 AO vorgelegen hätten (ebenso BFH-Urteil vom 12. Dezember 2000 VIII R 12/00, BFHE 193, 505, BStBl II 2001, 218, zu § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO).

aa) Der angefochtene Bescheid wurde vorliegend - anders als in den vom FG Düsseldorf in EFG 1999, 638 und in EFG 2004, 160 entschiedenen Fällen - innerhalb der Festsetzungsfrist erlassen. Die Steuererklärung für das Streitjahr reichten die Kläger im Jahr 1994 ein. Die vierjährige Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO endete daher mit Ablauf des Jahres 1998 (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO). Der angefochtene Änderungsbescheid erging am 8. Mai 1998. Da die Kläger dagegen Einspruch eingelegt haben, wurde der Ablauf der Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 3a AO gehemmt. Die Einspruchsentscheidung ist daher ebenfalls vor Ablauf der Festsetzungsfrist ergangen.

bb) Bei Erlass der Einspruchsentscheidung am 8. März 2001 lagen die Voraussetzungen für die Änderung nach § 174 Abs. 4 AO vor, nachdem der Änderungsbescheid für das Vorjahr auf Grund des dagegen gerichteten Einspruchs am 18. November 1998 ergangen war. Dass bis zum 8. März 2001 die reguläre Festsetzungsfrist und die Jahresfrist des § 174 Abs. 4 Satz 3 AO abgelaufen gewesen wären, ist unbeachtlich, wie sich aus dem Zweck der Festsetzungsverjährung ergibt (vgl. dazu BFH-Urteil in BFHE 193, 505, BStBl II 2001, 218, unter 2.b bb der Gründe).

cc) Der Mangel des ursprünglichen Änderungsbescheides (vom 8. Mai 1998) konnte danach durch die Einspruchsentscheidung geheilt werden. Denn für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, vorliegend also der Einspruchsentscheidung abzustellen (vgl. Lange in HHSp, § 100 FGO Rz 39, m.w.N.; Eyermann/Schmidt, Verwaltungsgerichtsordnung, 12. Aufl., § 113 Rz 45; Tipke in Tipke/Kruse, a.a.O., § 100 FGO Rz 6 ff.). Das folgt aus § 367 Abs. 2 Satz 1 AO; danach hat die Finanzbehörde, die über den Einspruch entscheidet, die Sache in vollem Umfang neu zu prüfen. Dem entsprechend ist gemäß § 44 Abs. 2 FGO Gegenstand der Anfechtungsklage nach einem Vorverfahren der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf gefunden hat (vgl. BFH-Urteil in BFHE 193, 505, BStBl II 2001, 218, unter 2.b bb der Gründe). Entsprechendes muss daher auch für die Frage gelten, ob die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 174 Abs. 4 AO vorliegen.