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BFH-Beschluss vom 16.7.2009 (VIII B 64/09) BStBl. 2010 II S. 8
Es
ist ernstlich zweifelhaft, welche Auswirkungen es für die Haftung (§ 71 AO)
des Leiters der Wertpapierabteilung eines Kreditinstituts hat, wenn auf
seine Initiative und mit seiner Billigung Wertpapiere anonym ins Ausland
verlagert worden sind, jedoch die mutmaßlichen Haupttäter einer
Steuerhinterziehung nicht ermittelt werden können und folglich nicht
individuell festgestellt werden kann, ob eine Steuerhinterziehung überhaupt
begangen und welche Steuer dadurch konkret hinterzogen worden ist.
AO §§ 71, 191, 370; FGO § 69.
Vorinstanz: FG Düsseldorf vom 10. Februar
2009 8 V 2459/08 A(H) (EFG 2009, 716)
Sachverhalt
I.
Der Antragsgegner und
Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) nimmt den Antragsteller und
Beschwerdeführer (Antragsteller) gemäß § 71 der Abgabenordnung (AO) wegen
Beihilfe zur Steuerhinterziehung in 638 Fällen in Haftung.
Der Antragsteller war im
fraglichen Zeitraum Leiter der Wertpapieradministration bei einem großen
deutschen Kreditinstitut. Als leitender Angestellter und Prokurist war er
unmittelbar dem Vorstand verantwortlich. Das Kreditinstitut war an
Gesellschaften im Ausland beteiligt. Im Verantwortungsbereich des
Antragstellers kam es in den Jahren 1992 und 1993 tausendfach dazu, dass von
Kunden am Schalter eingelieferte effektive Wertpapiere entgegen genommen und
zu den ausländischen Kreditinstituten verbracht wurden ohne die Identität
der Kunden nachvollziehbar zu dokumentieren. Stattdessen wurden den
einzelnen Geschäftsvorfällen Nummern zugeordnet, die keinen unmittelbaren
Rückschluss auf die Identität der dahinterstehenden Kunden zuließen.
Zwischen den Beteiligten ist in tatsächlicher Hinsicht noch streitig, ob vom
Antragsteller zu verantwortende und den Schalterdienst betreffende interne
Geschäftsanweisungen diese Vorgänge gefördert oder begünstigt haben.
Seit 1996 führte das
Finanzamt für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung bei dem Kreditinstitut
Ermittlungen wegen des Verdachts der Beihilfe zur Steuerhinterziehung gegen
Mitarbeiter und Vorstandsmitglieder des Kreditinstituts durch. Nach dem
Ergebnis der Ermittlungen konnten rd. 75 % der festgestellten
Kapitaltransfers nachträglich einzelnen Kunden zugeordnet werden. Hierbei
ergaben die Ermittlungen, dass nahezu kein nachträglich identifizierter
Kunde die Erträge aus den ins Ausland transferierten Wertpapieren in seiner
Einkommensteuererklärung für 1993 deklariert hatte. In ca. 6 % der Fälle
hatte dies allerdings keine steuerverkürzende Wirkung. Etwa 25 % der
festgestellten Kapitaltransfers konnten den Auftraggebern nicht zugeordnet
werden. Dabei handelt es sich um insgesamt 1.149 namentlich nicht bekannte
Kunden; 638 dieser Kunden hatten Wertpapiere ins Ausland bringen lassen.
2001 erließ das Amtsgericht
Strafbefehle wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung gegen Verantwortliche
des Kreditinstituts. Gegen das Kreditinstitut wurde zugleich wegen einer
Ordnungswidrigkeit gemäß §§ 30, 17 Abs. 4 des Gesetzes über
Ordnungswidrigkeiten eine Geldbuße von 15 Mio. DM festgesetzt. Zur
Begründung für die Geldbuße führte das Amtsgericht u.a. aus, es sei der
geschätzte wirtschaftliche Vorteil berücksichtigt worden, der dem
Kreditinstitut aus der streitigen Betreuung der Kunden und ihrer Vermögen
erwachsen sein dürfte. Der Antragsteller wurde vom Amtsgericht zu einer
Gesamtgeldstrafe von 85 Tagessätzen zu je 366 DM verurteilt. Der Strafbefehl
ahndete zugleich die eigene Steuerhinterziehung des Antragstellers.
Mit Haftungsbescheid vom
22. Dezember 2004 nahm das FA u.a. den Antragsteller wegen Beihilfe zur
Steuerhinterziehung in 1.149 (Einspruchsentscheidung: 638) Fällen für die
von den nicht identifizierten Wertpapierkunden mutmaßlich hinterzogene
Einkommensteuer 1993 über insgesamt 2.250.824,46 € gemäß § 71 AO in Haftung.
Nach den insoweit unstreitigen Feststellungen der Steuerfahndung hatten die
638 nicht enttarnten Kunden im streitigen Zeitraum Wertpapiere im Gesamtwert
von 209.630.000 DM ins Ausland transferiert. Die Höhe der dadurch
entgangenen Steuereinnahmen schätzte das FA unter Annahme einer Verzinsung
von 8 %, einem anzuwendenden Steuersatz von 35 % und einem
Sicherheitsabschlag von 25 % auf 4.402.230 DM, entsprechend 2.250.824,46 €.
Die zugrunde gelegten Daten entnahm das FA einer statistischen Auswertung
aller Fälle, in denen die Kunden nachträglich identifiziert worden waren.
Dabei handelt es sich unstreitig um mehr als 4.000 Kunden. Die so gewonnenen
Erkenntnisse übertrug es unter Berücksichtigung eines weiteren
Unsicherheitsabschlags auf die im Streit stehenden nicht individuell
zurechenbaren Transfers. Zugleich berechnete es Hinterziehungszinsen von
1.204.178 € und nahm den Antragsteller auf Zahlung der Gesamtsumme von
3.455.002,46 € in Anspruch.
Den dagegen gerichteten
Einspruch des Antragstellers wies das FA als unbegründet zurück. Über die
dagegen anhängige Anfechtungsklage hat das Finanzgericht (FG) noch nicht
entschieden.
Während des
Einspruchsverfahrens setzte das FA die Vollziehung des Haftungsbescheids bis
einen Monat nach Bekanntgabe der Entscheidung über den Einspruch aus. Nach
Klageerhebung in der Hauptsache hat der Antragsteller bei dem FA Antrag auf
weitere Aussetzung der Vollziehung (AdV) gestellt, den das FA abgelehnt hat.
Den sodann beim FG
gestellten Aussetzungsantrag des Antragstellers hat das FG abgelehnt und im
Beschluss die Beschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage
zugelassen, ob bei der Überzeugungsbildung vom Vorliegen einer
Steuerhinterziehung durch unbekannte Täter, zu der der in Haftung Genommene
Beihilfe geleistet hat, Feststellungen zu anderen Steuerhinterziehungen
berücksichtigt werden können, auf die sich der angefochtene Haftungsbescheid
nicht erstreckt.
Der vom Antragsteller
eingelegten Beschwerde hat das FG nicht abgeholfen.
Der Antragsteller beantragt,
1. den Beschluss des FG
Düsseldorf vom 10. Februar 2009 zum Aktenzeichen 8 V 2459/08 A(H)
aufzuheben,
2. die Vollziehung des
Haftungsbescheids vom 22. Dezember 2004 wegen Einkommensteuer 1993 gemäß
§ 71 AO und Zinsen gemäß § 235 AO in Höhe des Gesamtbetrags von
3.455.002,46 € ohne Sicherheitsleistung bis zur rechtskräftigen Entscheidung
im Hauptsacheverfahren auszusetzen,
3. dem FA die Kosten des
Verfahrens aufzuerlegen.
Das FA beantragt,
1. die Beschwerde vom
18. Februar 2009 als unbegründet zurückzuweisen,
2. dem Antragsteller die
Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Die Haftungsakten des FA -
9900/0730 H08 - sowie die Gerichtsakten zu den Aktenzeichen 8 K 814/08 H
nebst Beiakten (mit Anlagen zur Klageschrift und zum Schriftsatz vom
31. März 2008) sowie 8 V 2459/08 A(H) haben vorgelegen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur
AdV des mit der Klage angefochtenen Haftungsbescheids. Bei der im
Aussetzungsverfahren gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung
bestehen ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit.
1. Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2
Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht auf Antrag die
Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes aussetzen, soweit
ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen.
Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes bestehen,
wenn neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige,
gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die
Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder
Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen bewirken (ständige
Rechtsprechung, vgl. Beschluss des Großen Senats des Bundesfinanzhofs - BFH
- vom 5. März 1979 GrS 5/77, BFHE 127, 140, BStBl II 1979, 570). Bei der
hiernach erforderlichen Abwägung sind die Erfolgsaussichten des
Rechtsbehelfs zu berücksichtigen; nicht erforderlich ist jedoch, dass die
für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe überwiegen (Gräber/Koch,
Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 69 Rz 86, m.w.N.).
2. Gemäß § 191 Abs. 1 Satz 1 AO kann durch
Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine
Steuer haftet. Gemäß § 71 AO haftet, wer eine Steuerhinterziehung oder eine
Steuerhehlerei begeht oder an einer solchen Straftat teilnimmt, für die
verkürzten Steuern und die zu Unrecht gewährten Steuervorteile sowie für die
Zinsen nach § 235 AO. Streitig ist vor allem, ob eine Haftung des
Teilnehmers einer Steuerhinterziehung gemäß § 71 AO auch dann in Betracht
kommt, wenn der oder die Haupttäter nicht identifiziert werden können und
welche Anforderungen ggf. an das Vorliegen und die Feststellung einer
Steuerhinterziehung als Haupttat unter diesen Umständen zu stellen sind.
3. Gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit des
Haftungsbescheids sprechende Gründe ergeben sich im Streitfall daraus, dass
die streitigen Rechtsfragen höchstrichterlich noch nicht geklärt und
jedenfalls nicht eindeutig im Sinne des FA zu beantworten sind.
a) Die streitigen Rechtsfragen sind bislang
höchstrichterlich noch nicht geklärt. Über einen vergleichbaren Sachverhalt
hatte der BFH - soweit ersichtlich - noch nicht zu entscheiden.
aa) Soweit der BFH in der Vergangenheit
über die Haftung von Gehilfen gemäß § 71 AO zu entscheiden hatte, stand
stets außer Zweifel, dass eine Steuerhinterziehung begangen worden war und
auch wer sie als Haupttäter begangen hatte. Danach ging es in den vom BFH
entschiedenen Fällen vor allem darum, ob der als Haftender in Anspruch
genommene vermeintliche Gehilfe objektiv und subjektiv einen geeigneten
Beitrag zur Haupttat geleistet hatte (vgl. BFH-Urteile vom 16. April 2002
IX R 40/00, BFHE 198, 66, BStBl II 2002, 501; vom 7. März 2006 X R 8/05,
BFHE 212, 398, BStBl II 2007, 594) und ob seine Inanspruchnahme als
Haftungsschuldner ermessensgerecht war (vgl. BFH-Urteile vom 21. Januar 2004
XI R 3/03, BFHE 205, 394, BStBl II 2004, 919; vom 8. September 2004
XI R 1/03, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2005, 293; BFH-Beschlüsse
vom 27. Mai 1986 VII S 5/86, BFH/NV 1987, 10; vom 13. August 2007
VII B 345/06, BFH/NV 2008, 23). Über die Frage, welche Auswirkungen es für
die Haftung des mutmaßlichen Gehilfen hat, wenn der mutmaßliche Haupttäter
nicht ermittelt werden kann und wenn folglich nicht individuell festgestellt
werden kann, ob eine Haupttat überhaupt begangen und welche Steuer dadurch
konkret hinterzogen worden ist, wäre im Streitfall erstmals zu entscheiden.
Davon gehen übereinstimmend auch die Beteiligten aus.
bb) Die Rechtsfrage lässt sich auch nicht
ohne weiteres und eindeutig anhand allgemeiner Aussagen der bisherigen
höchstrichterlichen Rechtsprechung beantworten.
(1) Hängt die Rechtmäßigkeit eines
Steuerbescheids davon ab, ob der Steuerpflichtige eine Steuerhinterziehung
oder Steuerhehlerei begangen hat, müssen zur Rechtmäßigkeit des Bescheids
die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung
oder Steuerhehlerei vorliegen (BFH-Urteil vom 16. Januar 1973 VIII R 52/69,
BFHE 108, 286, BStBl II 1973, 273). Nichts anderes gilt im Grundsatz, wenn
die Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheids davon abhängt, dass der Haftende
an der von einem anderen begangenen Steuerhinterziehung als Helfer
teilgenommen hat. In diesem Fall müssen nicht nur die objektiven und
subjektiven Voraussetzungen einer strafrechtlichen Beihilfe in der Person
des Haftenden vorliegen, sondern auch diejenigen der Haupttat, zu welcher
der Haftende Beihilfe geleistet haben muss.
(2) Nach der Rechtsprechung des Großen
Senats des BFH ist das Vorliegen dieser strafrechtlichen Tatbestandsmerkmale
nicht nach den Vorschriften der Strafprozessordnung, sondern nach den
Vorschriften der AO und der FGO zu prüfen, denn es handelt sich lediglich um
strafrechtliche Vorfragen im Rahmen einer Entscheidung über die
Rechtmäßigkeit eines abgabenrechtlichen Verwaltungsakts (vgl. Beschluss des
Großen Senats des BFH in BFHE 127, 140, BStBl II 1979, 570). Damit gelten
grundsätzlich die für die Überzeugungsbildung maßgeblichen Vorschriften der
AO und der FGO auch für die Feststellung einer Steuerhinterziehung (als
Haupttat) im Streitfall.
Zu den Anforderungen an die gerichtliche
Feststellung einer Steuerhinterziehung hat der BFH insbesondere ausgeführt,
dass bei nicht behebbaren Zweifeln die Feststellung einer
Steuerhinterziehung mittels reduzierten Beweismaßes nicht zulässig ist und
dass das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens
gewonnenen Überzeugung zu entscheiden hat (vgl. BFH-Urteil vom 7. November
2006 VIII R 81/04, BFHE 215, 66, BStBl II 2007, 364, m.w.N.; BFH-Beschluss
vom 24. Januar 2008 VIII B 163/06, BFH/NV 2008, 1099).
(3) Damit ist indes noch nicht entschieden,
ob die Feststellung einer Steuerhinterziehung als Haupttat stets
voraussetzt, dass der Täter namentlich bekannt ist oder ob es ggf.
ausreicht, wenn zwar feststeht, dass im Einzelfall eine Steuerhinterziehung
mit Sicherheit begangen worden ist, der Haupttäter aber nicht benannt werden
kann (zur Bestimmtheit des gegen den Täter einer Hinterziehung von
Mineralölsteuer gerichteten Haftungsbescheids, wenn sich die Schuldner der
Mineralölsteuer nicht aus dem Bescheid ergeben, vgl. BFH-Urteil vom 26. Juli
1977 VII R 90/75, BFHE 123, 250). Weiter ist damit noch nicht entschieden,
ob bei einer Vielzahl von Haupttaten, zu denen der Steuerpflichtige Beihilfe
geleistet haben kann, die fehlende Überzeugung vom Vorliegen jeder einzelnen
Steuerhinterziehung unter Umständen durch Wahrscheinlichkeitsaussagen
ersetzt werden kann. Dann müsste auch geklärt werden, welche Anforderungen
an die Überzeugungsbildung in solchen Fällen gestellt werden müssen und auf
welche Weise sich der Steuerpflichtige dagegen zur Wehr setzen kann.
b) Die Rechtsfrage ist jedenfalls nicht
eindeutig im Sinne des FA zu beantworten. Für dessen Ansicht könnten
Äußerungen in der Rechtsprechung angeführt werden, wonach die Haftung in
§ 71 AO Schadenersatzcharakter hat (vgl. BFH-Urteile vom 1. August 2000
VII R 110/99, BFHE 192, 249, BStBl II 2001, 271; vom 9. Dezember 2003
VI R 35/96, BFHE 205, 56, BStBl II 2004, 641; in BFHE 212, 398, BStBl II
2007, 594). Käme es, wie das FA offenbar meint, im Wesentlichen auf das
Vorliegen eines durch Steuerhinterziehung eingetretenen Gesamtschadens an,
so ließe sich diese Voraussetzung möglicherweise überzeugend auf der
Grundlage von Wahrscheinlichkeitsaussagen begründen. Gegen die darin zum
Ausdruck kommende Reduktion des gesetzlichen Tatbestands spricht jedoch
dessen Wortlaut, der das Vorliegen einer Steuerhinterziehung und nicht
lediglich eines Schadens voraussetzt. Es ist indes zweifelhaft, ob sich das
Vorliegen einer Steuerhinterziehung im Einzelfall mit Hilfe von
Wahrscheinlichkeitsaussagen begründen lässt. Zum einen ist die
Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Steuerhinterziehung im Einzelfall
viel geringer als die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines durch
Steuerhinterziehungen in unbekannter Anzahl mindestens eingetretenen
Gesamtschadens. Es handelt sich zum andern um eine sehr grundlegende Frage
des Erkenntnisverfahrens, die einer genaueren, im Eilverfahren nicht zu
leistenden Untersuchung bedarf.
Zwar sind auf Wahrscheinlichkeit gestützte
Aussagen und Überzeugungen dem Erkenntnisverfahren nicht generell fremd, wie
etwa die Rechtsprechung zu Abstammungsfragen belegt (vgl. Urteil des
Bundesgerichtshofs vom 3. Mai 2006 XII ZR 195/03, BGHZ 168, 79). Zu beachten
ist aber, dass die nach mathematischen Grundsätzen zu beurteilende
Wahrscheinlichkeit zur Überzeugungsbildung grundsätzlich nur herangezogen
werden kann, wenn es um zufällige Ereignisse geht. Das ist bei dem im
Streitfall zu beurteilenden willensgesteuerten Verhalten zurechnungsfähiger
Personen generell nicht der Fall. Wie sich eine Person in einer konkreten
Situation entscheidet, hängt eben nicht vom Zufall, sondern von einer
autonomen Willensentschließung ab, die im Grundsatz einer
Wahrscheinlichkeitsbetrachtung nicht zugänglich ist. Diese Überlegung
spricht dafür, bei der Feststellung einer Haupttat im Rahmen der Haftung
wegen strafrechtlicher Teilnahme stets einen individuellen und nicht einen
statistischen Maßstab anzulegen.
Käme es indes, wie das FA meint, aus
steuerlicher Sicht darauf nicht an, so hinge die Rechtmäßigkeit des
Haftungsbescheids im Streitfall und in vergleichbaren Fällen allein davon
ab, ob wegen der Vielzahl der Fälle eine statistisch belastbare Aussage über
das Verhalten aller z.B. durch Nummern in den Transaktionslisten
bezeichneten Wertpapierinhaber möglich ist. Hierfür müssten allgemeine
Maßstäbe gefunden und eine mathematisch festzustellende
Mindestwahrscheinlichkeit festgelegt werden. Dann wäre auch darüber zu
entscheiden, ob und ggf. mit welchen Einwendungen sich der Haftungsschuldner
gegen eine solche Feststellung zur Wehr setzen könnte. Dabei darf auch nicht
unberücksichtigt bleiben, dass die vom FA für möglich gehaltene
Inanspruchnahme des mutmaßlichen Gehilfen auf der Grundlage von
Wahrscheinlichkeitsaussagen über die mutmaßlichen Haupttaten zu einer
praktisch weit reichenden Feststellungserleichterung zugunsten der
Finanzbehörden führen würde. Diese könnten unter vergleichbaren Umständen
von der Aufklärung der in Betracht kommenden einzelnen Haupttaten von
vornherein absehen, wenn ein Gehilfe als Haftungsschuldner vorhanden ist.
4. Der Senat erachtet es als angemessen,
die Vollziehung lediglich zeitlich begrenzt bis einen Monat nach Zustellung
der das Klageverfahren abschließenden Entscheidung und nicht, wie beantragt,
bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen. Der
weiter gehende Antrag auf AdV war deshalb insoweit abzuweisen.
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