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BFH-Urteil vom 26.11.2009 (III R 67/07) BStBl. 2010 II S. 476

Keine erneute Entscheidung über bestandskräftig abgelehntes Kindergeld aufgrund eines Kindergeldantrags des nach § 67 Satz 2 Alternative 2 EStG selbst antragsberechtigten Kindes

Auch wenn ein Kind nach § 67 Satz 2 Alternative 2 EStG berechtigt ist, das Kindergeld selbst zu beantragen, kann es mit einem Antrag auf Kindergeld keine erneute Entscheidung über den vom Kindergeldberechtigten geltend gemachten, bestandskräftig abgelehnten Kindergeldanspruch erreichen.

EStG § 67 Satz 2 Alternative 2, § 74 Abs. 1.

Vorinstanz: Schleswig-Holsteinisches FG vom 9. Juli 2007 3 K 30/07 (EFG 2008, 64)

Sachverhalt

I.

1

Die Beigeladene erhielt für ihre 1981 geborene Tochter, die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), bis einschließlich Dezember 2002 Kindergeld. Die Klägerin absolvierte nach ihrer Schulausbildung von August 2001 bis Ende Juni 2004 eine Ausbildung. Sie lebte zu dieser Zeit in einer eigenen Wohnung und erhielt von ihren Eltern keine Unterhaltsleistungen.

2

Mit Bescheid vom 27. April 2004 lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) den Antrag der Beigeladenen auf Kindergeld für die Klägerin ab, da die Einkünfte und Bezüge der Klägerin im Jahr 2003 den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) von 7.188 € überschritten hätten. Diesen Bescheid, der der Klägerin nicht bekannt gegeben wurde, hat die Beigeladene nicht angefochten.

3

Im August 2006 beantragte die Klägerin unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) die "rückwirkende Auszahlung" des Kindergeldes u.a. für den Zeitraum von Januar 2003 bis Juni 2004 an sich. Daraufhin setzte die Familienkasse mit Bescheid vom 1. November 2006, den sie an die Beigeladene richtete, Kindergeld für die Monate Mai und Juni 2004 fest. Eine Änderung des Bescheids vom 27. April 2004 sei nicht möglich, da durch diesen der Kindergeldanspruch ab Januar 2003 bestandskräftig abgelehnt worden sei. Die Nachzahlung werde an die Klägerin überwiesen, da diese den Antrag auf Neuberechnung gestellt habe.

4

Den hiergegen gerichteten Einspruch der Klägerin, der ein Abdruck des an die Beigeladene adressierten Bescheids übersandt worden war, wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 27. November 2006 zurück.

5

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage durch Urteil vom 9. Juli 2007 3 K 30/07 (Entscheidungen der Finanzgerichte 2008, 64) überwiegend statt. Der Ablehnungsbescheid vom 27. April 2004 stehe einer Kindergeldfestsetzung zu Gunsten der Beigeladenen nicht entgegen, denn er entfalte keine Bindungswirkung im Verhältnis zur Klägerin. Diese sei weder i.S. des § 78 der Abgabenordnung (AO) an dem Kindergeldfestsetzungsverfahren der Beigeladenen beteiligt gewesen, noch sei ihr der Ablehnungsbescheid bekannt gegeben worden. Der Bescheid habe somit im Verhältnis zwischen der Klägerin und der Familienkasse weder formell noch materiell bestandskräftig werden können.

6

Mit ihrer Revision bringt die Familienkasse vor, das FG habe die strenge Akzessorietät des Abzweigungsanspruchs nach § 74 Abs. 1 EStG hinsichtlich des Leistungsanspruchs des Kindergeldberechtigten nicht berücksichtigt. Die Ansicht des FG führe dazu, dass gegenüber der Beigeladenen neben dem bestandskräftigen Ablehnungsbescheid ein weiterer Bescheid ergehen könne, der den gleichen Sachverhalt regele. Ein bestimmter Sachverhalt könne jedoch nicht in zwei parallelen Bescheiden rechtlich unterschiedlich geregelt werden. Ein neuer Bescheid zum gleichen Sachverhalt könne einen vorangegangenen Bescheid allenfalls ändern oder ersetzen. Änderungsvorschriften seien im vorliegenden Fall jedoch nicht einschlägig.

7

Die Familienkasse beantragt sinngemäß, das Urteil des FG insoweit aufzuheben, als es der Klage stattgegeben hat, und die Klage insgesamt abzuweisen.

8

Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

9

Die Revision hat überwiegend Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage, soweit diese die Festsetzung und Auszahlung von Kindergeld für den Zeitraum Januar bis Dezember 2003 betrifft (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Im Übrigen ist die Revision als unbegründet zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO).

10

1. Die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, dass zugunsten der Beigeladenen Kindergeld für die Zeit von Januar bis Dezember 2003 festgesetzt und an sie, die Klägerin, ausgezahlt wird. Denn einer entsprechenden Festsetzung steht der gegenüber der Beigeladenen ergangene Bescheid vom 27. April 2004 entgegen, durch den die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld zugunsten der Beigeladenen für den betreffenden Zeitraum bereits bestandskräftig abgelehnt hat. Die Bestandskraft dieses Bescheids muss die Klägerin gegen sich gelten lassen.

11

a) Kindergeld wird nach § 67 Satz 1 EStG nur auf Antrag gewährt. Den Antrag kann nach § 67 Satz 2 EStG außer dem Berechtigten auch stellen, wer ein berechtigtes Interesse an der Leistung des Kindergeldes hat (§ 67 Satz 2 Alternative 2 EStG). Ein solches Interesse haben Personen, die die Auszahlung von Kindergeld an sich anstelle der Auszahlung an einen Berechtigten verlangen können. Das kann gemäß § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 3 EStG auch ein Kind sein, wenn der Kindergeldberechtigte - wie im Streitfall - dem Kind gegenüber mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist (z.B. Senatsbeschluss vom 30. Oktober 2008 III R 105/07, BFH/NV 2009, 193, m.w.N.).

12

b) Wie auch sonst im Steuerrecht ist bei der Steuervergütung Kindergeld zwischen dem Festsetzungs- und dem Erhebungs- bzw. Auszahlungsverfahren zu unterscheiden, mit der Besonderheit, dass die Festsetzung des - fremden - Steuervergütungsanspruchs gemäß § 67 Satz 2 Alternative 2 EStG auch derjenige beantragen kann, der nicht Kindergeldberechtigter ist, aber die Auszahlung des Kindergeldes an sich verlangen kann. Durch seinen Antrag erhält der Antragsberechtigte nach § 67 Satz 2 Alternative 2 EStG eine Beteiligtenstellung im Festsetzungsverfahren (vgl. § 78 Nr. 1 AO; z.B. Senatsbeschluss in BFH/NV 2009, 193, m.w.N.). Darüber hinaus ist der nach § 67 Satz 2 Alternative 2 i.V.m. § 74 Abs. 1 EStG Antragsberechtigte befugt, gegen den das Festsetzungsverfahren abschließenden Bescheid Einspruch einzulegen und gegen die im Einspruchsverfahren ergangene Entscheidung Klage zu erheben (vgl. Senatsbeschluss in BFH/NV 2009, 193, m.w.N.).

13

c) Stellt ein nach § 67 Satz 2 Alternative 2 EStG Antragsberechtigter den Antrag auf Kindergeld, so wird er dadurch jedoch nicht zum Kindergeldberechtigten. Die Anspruchsvoraussetzungen müssen vielmehr in der Person des (materiell) Kindergeldberechtigten gegeben sein. § 67 Satz 2 Alternative 2 EStG räumt dem Antragsberechtigten lediglich eine verfahrensrechtliche Rechtsstellung ein, die es ihm ermöglicht, das Festsetzungsverfahren über einen - fremden - Steuervergütungsanspruch einzuleiten; darüber hinaus ist er berechtigt, die im Festsetzungsverfahren getroffene Entscheidung auch gerichtlich überprüfen zu lassen. § 67 Satz 2 Alternative 2 EStG gewährt jedoch kein Recht, ein weiteres Festsetzungsverfahren über den fremden Steuervergütungsanspruch einzuleiten. Ist das Festsetzungsverfahren für den (materiell) Kindergeldberechtigten bestandskräftig abgeschlossen, muss ein nach § 67 Satz 2 Alternative 2 EStG Antragsberechtigter sich die Bestandskraft des dieses Festsetzungsverfahren abschließenden Bescheids entgegenhalten lassen.

14

Das gilt unabhängig davon, ob er von der Durchführung dieses Verfahrens Kenntnis hatte oder nicht. § 67 Satz 2 Alternative 2 EStG ermöglicht lediglich, dass der für die Einleitung des Festsetzungsverfahrens erforderliche Antrag auch in den Fällen gestellt werden kann, in denen der Kindergeldberechtigte selbst z.B. deshalb keinen Antrag stellt, weil etwa festzusetzendes Kindergeld ohnehin nicht an ihn, sondern an einen nach § 74 EStG Berechtigten auszuzahlen wäre. § 67 Satz 2 Alternative 2 EStG gibt dem danach Antragsberechtigten jedoch kein Recht darauf, von der Einleitung eines Festsetzungsverfahrens aufgrund eines fremden Antrags benachrichtigt zu werden. Das in § 67 Satz 2 Alternative 2 EStG vorgesehene, auf Einleitung eines Festsetzungsverfahrens gerichtete Antragsrecht besteht nur für und im Rahmen des Festsetzungsverfahrens zwischen dem (materiell) Kindergeldberechtigten und der Familienkasse. Kann ein dieses Verfahren abschließender, für den Kindergeldberechtigten negativer Bescheid von diesem im Hinblick auf seine Bestandskraft nicht mehr angegriffen werden, besteht auch für einen nach § 67 Satz 2 Alternative 2 EStG Antragsberechtigten keine verfahrensrechtliche Möglichkeit mehr, unter Hinweis auf sein Antragsrecht zugunsten des (materiell) Kindergeldberechtigten eine andere (positive) Festsetzung zu erreichen. Das Antragsrecht ist mit Eintritt der Bestandskraft des ablehnenden Bescheids diesem gegenüber verbraucht.

15

d) Danach hat die Familienkasse zu Recht die Festsetzung von Kindergeld für die Klägerin zugunsten der Beigeladenen für die Zeit von Januar bis Dezember 2003 unter Hinweis auf die Bestandskraft des Bescheids vom 27. April 2004 abgelehnt. Diesen Bescheid, mit dem die Familienkasse den nämlichen Anspruch der Beigeladenen bereits abgelehnt hat, hat weder die Beigeladene noch die Klägerin, die hierzu nach § 67 Satz 2 Alternative 2 i.V.m. § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 3 EStG befugt gewesen wäre, rechtzeitig angefochten, so dass er bestandskräftig wurde. Diese Bestandskraft und die dadurch bedingte Beendigung des Festsetzungsverfahrens stehen der Einleitung eines von der Klägerin beantragten (weiteren) Festsetzungsverfahrens entgegen.

16

Dahinstehen kann, ob der nach § 67 Satz 2 Alternative 2 i.V.m. § 74 EStG Antragsberechtigte auch befugt ist, die Änderung eines im Festsetzungsverfahren ergangenen, bestandskräftigen Bescheids zu beantragen. Denn jedenfalls liegen die Voraussetzungen, unter denen ein bestandskräftiger Kindergeldbescheid zugunsten des Kindergeldberechtigten geändert werden kann, nicht vor.

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2. Im Ergebnis zu Recht hat das FG der Klage jedoch stattgegeben, soweit sie die Monate Januar bis April 2004 betrifft. Denn insoweit steht der Klägerin ein Anspruch auf Festsetzung von Kindergeld zugunsten der Beigeladenen und auf Auszahlung an sie, die Klägerin, zu.

18

a) Nach den von der Familienkasse nicht angegriffenen Feststellungen des FG erfüllte die Beigeladene für die Monate Januar bis April 2004 die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a, § 64 Abs. 3 Satz 3 EStG für eine Festsetzung von Kindergeld für die Klägerin.

19

b) Der Festsetzung von Kindergeld zugunsten der Beigeladenen steht für diese Monate auch nicht die Bestandskraft des Bescheids vom 27. April 2004 entgegen. Denn dieser trifft nur für den Zeitraum Januar bis Dezember 2003, nicht aber auch für die Monate Januar bis April 2004 eine Regelung.

20

aa) Zwar erstreckt sich die Bestandskraft eines nicht angefochtenen Bescheids, durch den die Gewährung von Kindergeld abgelehnt oder auf 0 € festgesetzt oder durch den eine Kindergeldfestsetzung aufgehoben wird, in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich bis zum Ende des Monats seiner Bekanntgabe (z.B. Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88, und VI R 164/98, BFHE 196, 257, BStBl II 2002, 89; Senatsurteil vom 14. Dezember 2006 III R 24/06, BFHE 216, 225, BStBl II 2007, 530). Allerdings ist es der Familienkasse unbenommen, in einem Ablehnungs- oder Aufhebungsbescheid eine hiervon abweichende zeitliche Regelung zu treffen.

21

bb) Danach ist der Bescheid vom 27. April 2004 dahin auszulegen, dass aus der Sicht der Beigeladenen, an die der Bescheid gerichtet war, nur für das Jahr 2003 eine Verwaltungsentscheidung ergehen sollte.

22

Nach § 119 Abs. 1 AO muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Einem Verwaltungsakt muss der Regelungsinhalt eindeutig zu entnehmen sein (BFH-Urteil vom 22. August 2007 II R 44/05, BFHE 218, 494, BStBl II 2009, 754). Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist im Wege der Auslegung unter Berücksichtigung der Auslegungsregeln der §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuchs zu ermitteln. Entscheidend sind der erklärte Wille der Behörde und der sich daraus ergebende objektive Erklärungsinhalt der Regelung, wie ihn der Betroffene nach den ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte (vgl. BFH-Urteile vom 18. Februar 1997 VII R 96/95, BFHE 182, 282, BStBl II 1997, 339; vom 11. Juli 2006 VIII R 10/05, BFHE 214, 18, BStBl II 2007, 96; vom 9. April 2008 II R 31/06, BFH/NV 2008, 1435). Bei der Auslegung ist nicht allein auf den Tenor des Bescheids abzustellen, sondern auch auf den materiellen Regelungsgehalt einschließlich der für den Bescheid gegebenen Begründung (BFH-Urteil in BFHE 218, 494, BStBl II 2009, 754, m.w.N.). Die Frage, welchen Inhalt ein Verwaltungsakt hat, hat das Revisionsgericht in eigener Zuständigkeit zu beantworten (z.B. BFH-Urteil vom 24. März 1998 I R 83/97, BFHE 186, 67, BStBl II 1998, 601).

23

Nach den Ausführungen im Bescheid vom 27. April 2004 musste die Beigeladene annehmen, die Ablehnung des Kindergeldes betreffe lediglich das Jahr 2003, nicht auch nachfolgende Zeiträume. Denn in dem Bescheid heißt es, ein Kind sei von der Berücksichtigung ausgeschlossen, wenn es Einkünfte und Bezüge von mehr als 7.188 € im Kalenderjahr 2003 habe; nach den vorliegenden Unterlagen überschreite das Einkommen der Klägerin den maßgeblichen Grenzbetrag, wodurch der Kindergeldanspruch ausgeschlossen sei.

24

c) Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist die Entscheidung des FG auch insoweit, als die Familienkasse verpflichtet wird, das für die Monate Januar bis April 2004 zugunsten der Beigeladenen festzusetzende Kindergeld nach § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 3 EStG an die Klägerin auszuzahlen, da das von der Familienkasse insoweit auszuübende Ermessen auf Null reduziert ist.

25

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1 i.V.m. § 136 Abs. 1 Satz 1, § 135 Abs. 3 und § 139 Abs. 4 FGO. Der Beigeladenen sind keine Kosten aufzuerlegen, da sie keine Anträge gestellt hat. Soweit die Familienkasse im Revisionsverfahren unterlegen ist und deshalb zu 25 v.H. die Kosten dieses Verfahrens zu tragen hat, sind ihr auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aus Billigkeit zu 25 v.H. aufzuerlegen. Denn die Beigeladene hat durch den Verzicht auf mündliche Verhandlung im Revisionsverfahren das Verfahren gefördert (z.B. Senatsurteile vom 9. Februar 2009 III R 36/07 und III R 20/07, nicht amtlich veröffentlicht, und BFH-Urteil vom 20. Juni 2001 VI R 169/97, BFH/NV 2001, 1443, m.w.N.).